NEUNZEHNTES KAPITEL

 

Tamara folgte Chester in einen Raum, von dem sie annahm, dass es die Küche war. Sie konnte nur die Umrisse von Dingen erkennen, kaum wahrnehmbare Schatten in der Dunkelheit. Ein alter Holzherd stand schwerfällig in einer Ecke. Teile von zerbrochenen Möbeln waren auf dem Boden zu erkennen. Sie konnte den feuchten Ruß des Rauchfangs, den süßen Duft von Alkohol und verrottender Kleidung und den schweren Geruch von ranzigem Fett unterscheiden. Die frische Märzluft war hier zu etwas Widerlichem geworden, das sie wie eine zweite Haut zu erdrücken schien.

»Hierher«, sagte Chester zu ihr. Sie lief in seinen Rücken, als er plötzlich stehen blieb.

Ich kann in die Zukunft schauen, aber in der Dunkelheit bin ich hilflos.

Bruchstücke von Silben schossen durch ihr Gehirn, so scheu wie nasse Ratten:  Shu-shaaa, Maz-zah, Muh-aack. Das grüne Leuchten, das vom Bergrücken kam, war die visuelle Entsprechung dieser seltsamen Signale, die sie empfing. Der dumpfe Puls der Signale wurde immer stärker. Als sie in ihrem Toyota auf dem Weg zu Chesters Farm vorbeigefahren war, waren die Signale intensiver, direkter und persönlicher gewesen.

»Es geht sogar. Ich höre das Freizeichen«, flüsterte Chester und sie fühlte seine ledrige Hand und kaltes Plastik gegen ihren Arm stoßen. Sie nahm das Telefon und versuchte mit zugekniffenen Augen die altmodische Wählscheibe zu sehen. Sie zählte mit ihren Fingern die Löcher der Scheibe und wählte dann ihre eigene Festnetznummer.

Robert hob schon ab, bevor noch der erste Klingelton verklungen war. »Tam?«, fragte er atemlos.

»Ja, Liebling. Ich bin´s.«

Er seufzte entweder vor Erleichterung oder vor Ärger. »Wo zum Teufel – Ich meine, Entschuldigung, ich habe mir solche Sorgen gemacht – wo bist du, Schatz? Geht es dir gut?«

Sie nickte und musste mit Tränen und gleichzeitig aufkommender Freude, die sich vermischten, ankämpfen. »Ja, mir geht´s gut. Gott, ich habe dich vermisst!«

»Ich habe dich auch vermisst. Was war los?«

»Das ist eine lange Geschichte. Du weißt doch, meine innere Stimme?«

»Ah…«

»Sie ist hier. ES ist hier.«

»Was?«

»Und es ist größer, als ich gedacht habe. Sind die Kinder wohl in Sicherheit?«

»Ja, sicher. Sie schlafen. Aber was meinst du…«

»Sie müssen unbedingt in der Wohnung bleiben, hörst du? Ich muss jetzt auflegen, Schatz. Ich wollte dir nur sagen, dass es mir gut geht. Ich komme bald nach Hause.«

Hoffe ich. Gott, ich wäre jetzt gerne in meinem warmen Bett, mit meinem Flanellpyjama und Robert, der neben mir schnarcht und ohne Stimmen, die mir im Kopf herumgeistern und ohne Visionen. Kein Shu-shaaa und Peg-hiii und all die anderen verrückten Dinge. Nur normale, alltägliche Probleme.

»Leg nicht auf!«, flehte Robert.

»Ich muss. Pass auf die Kinder auf!«

»Tam, Ginger hat es auch«, platzte er heraus, gerade noch bevor sie auflegen konnte.

»Was?«

»Sie sieht Dinge. Du weißt schon. Sie hat etwas über Menschen mit grünen Augen gesagt. Schatz, hat das etwas mit deiner inneren Stimme zu tun?«

»Ja. Oh Gott, Robert. Es darf ihnen nichts passieren!«

»Sag mir, wo du bist.«

»Nein. Es ist besser so. Ich liebe dich!«, sagte sie und konnte diesmal ihre Tränen nicht stoppen.

Chester nahm ihr den Hörer aus der Hand. »Ihre Frau ist in guten Händen. Machen Sie sich keine Sorgen.«

Dann hörte Tamara, wie Chester plötzlich tief einatmete. Der Telefonhörer fiel auf den Boden. Feuchte, nässende Hände ergriffen ihre Schultern. Der Erdmund musste ihre Sinne überwältigt haben, denn sie hatte nicht gemerkt, dass sich eine der Kreaturen hinter ihr angeschlichen hatte. Jetzt, mit der Berührung, verband sich ihr Verstand für einen kurzen Moment mit dem Ding, das einst Junior Mull gewesen war.

Seine verdrehten Synapsen ließen einen Schwall Symbole auf sie los, Fishfuck Schnaps Autorauch Shu-shaa Cheshur Cheshur Cheshur Chesssh…

Sie versuchte zu entkommen, aber er – besser gesagt, es – schob sie nur zur Seite, so als ob sie nur jemandem im Wege stand, der zu seinem Liebsten wollte. Seine grünen Augen waren auf Chester fixiert und glühten wie radioaktive Edelsteine in einer dunklen Kohlenmine.

»Aha, du kommst also, um deine Familie zu besuchen?«, sagte Chester mit mehr als nur einem Anflug von Panik in seiner Stimme.

Das Ding schob sich an Tamara vorbei und ließ einen schleimigen Abdruck auf ihren Schultern zurück, da, wo seine Finger zugepackt hatten. Es näherte sich Chester mit feucht dampfendem Atem. Tamara merkte, dass die Kreatur durch einen Instinkt hierher gebracht wurde, so als ob die Familienbande es an diesen Ort gezwungen hatten.

Ihre Hellseherei hatte erst später das verstanden, was Chester sofort kapiert hatte. Denn Chester hatte das tropfende, wächserne Stück Moder, das seine Glieder nach ihm ausstreckte, erkannt.

»Junior, verpiss dich von hier! Du bist nicht richtig in der Birne. Kapierst du das, mein Junge?« Chester wich langsam über den Holzboden zurück.

»Shu-shaaa…bleib…Hause…«, sagte es mit gurgelnder Stimme, als ob sein weiter, nasser Mund auch voll Kautabak wäre. . . »Bleib…kish…Chescher…« . .”

Die grünen Augen schnitten wie eine Taschenlampe durch die Dunkelheit und Tamara sah in dem Schein die Angst in Chesters Gesicht. Sie tastete sich den Küchentisch entlang, als Junior Chester immer näher kam. Der alte Mann hielt seine Hände in die Höhe, so als wollte er ein Friedensangebot machen, aber der Wille der Kreatur war stärker, drängender und überzeugender.

Tamaras Finger spürten Geschirr und dann den Rand des Küchenwaschbeckens. Ein Krug fiel zu Boden und leuchtete kurz auf, bevor er auf dem Boden zerbarst. Dann fanden ihre Finger ein fettiges Metall, das sie aufhob. Die Schwere des Eisens in ihrer Faust beruhigte sie. Sie machte einen schnellen Schritt nach vorne und schlug mit voller Kraft zu. Die eiserne Bratpfanne schlug hart auf den Schädel der Kreatur und machte dabei ein Geräusch, wie wenn jemand Trauben zerstampfen würde.

Milchige, leuchtende Flüssigkeit spritzte von der matschigen Haut und sickerte den Hals der Kreatur herab. Das Ding drehte sich zu Tamara und schickte ihr ein zahnloses Lächeln, das durch die leuchtend roten Blütenstempel, die in seinem Rachen baumelten, erhellt wurden. Ein Rachen, der in ihrem Traum die Lilie gewesen war, der Rachen, der eine Miniaturausgabe des Erdmundes war, so als ob die Kreatur und die Stimme des Shu-shaaa einen gemeinsamen Ur-Hunger hatten.

Schüler und Lehrer.

Ministrant und Priester.

Suchender und Erleuchteter.

Pollen und Saat Gottes.

Produktion und Ernte.

Sie schlug noch einmal seitlich zu und die Pfanne traf den weichen Hals wie eine Axt. Der Hals der Kreatur knickte auf die Seite wie eine Maispflanze, die von einer Sturmbö getroffen wurde. Sie holte noch einmal aus. Ihre Hand war schon voll Schleim und dann rollte der Kopf des Dinges mit dem Geräusch eines nassen Teiges zu Boden. Der geköpfte Körper schwankte für einen Moment, erlangte dann kurz die Balance und machte einen unsicheren Schritt nach vorne.

Etwas ergriff ihren Ellbogen und sie wollte schon wieder die vor Schleim tropfende Pfanne herum schwingen. Aber dann sah sie Chesters weit aufgerissene Augen und konnte gerade noch ihre Hand zurückziehen. Durch seine Berührung konnte sie seine Angst und seinen Ekel spüren, sie fühlte seinen Hass auf das Ding, das ihm solchen Horror gebracht hatte. Sein Ärger roch nach kaltem Schweiß und kurzgeschlossenen Kupferdrähten.

Chester zog an ihrem Ärmel und führte sie aus dem Haus heraus. Seine dünnen Finger umschlossen ihren Arm wie eine Eisenspange.

»Wer war das, Chester?«, fragte sie, als sie auf der Veranda waren und in der Sicherheit des Mondlichtes tief Atem holten.

»Ach, ein Enkelkind«, brachte Chester schwer hervor. »Sie sind wie verdammte Hühner, sie kommen immer wieder nach Hause zurück.«

Tamara schmiss die Pfanne von der Veranda und wischte sich den öligen Saft der Kreatur in die Bluse. DeWalt musste die Kampfgeräusche gehört haben, denn er kam auf die Veranda zugerannt, seine Hände um das Gewehr geklammert.

»Was ist passiert?«, fragte er.

»Familienfeier«, sagte Chester und schaute auf den Hügel. »Aber machen wir uns auf und schießen diese Hurensöhne zurück in die Hölle!«

Sie gingen zur Scheune und sammelten ihre Habseligkeiten zusammen. Emerland war wie eine Marionette, die darauf wartete, dass jemand die Fäden zog, in sich zusammengesunken Er hob den Sack mit Sevin auf seine Schulter und folgte Chester auf seinem Weg zwischen die dunklen Gebäude hindurch.

DeWalt folgte ihnen, gebeugt von dem Gewicht der Herbizide, des Gewehrs und des Zünders. Der große, weiße Mond leuchtete ihnen und warf ihre langen Schatten über das Feld.

Im Farmhaus stolperte der kopflose Junior aus dem Haus und auf die Stufen der Veranda. Tamara sah zu, wie er auf den Boden fiel und zwischen dem Unkraut krabbelte, als ob er seinen Kopf, sein Herz, seine Hoffnung und alles, was er verloren hatte, suchte. Sie hob die Dose mit Roundup auf und machte sich in den Wald auf.

 

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Nichts mehr ergab Sinn.

Diese Figuren, die über den Friedhof gingen, angeführt vom Prediger Blevins – und war das Amanda hinter ihm? – und wie ein Haufen Betrunkener im Mondlicht herum torkelten und sich auf die Pfarre zubewegten. Und Netties Auto stand verlassen auf dem Parkplatz der Kirche. Aber wo war Nettie?

Bill sprang aus seinem Pickup und überquerte mit einem Satz die niedrige Hecke, die den Friedhof umgrenzte. Der Prediger drehte sich langsam zu ihm um, so als ob die Luft aus Zuckersirup wäre.

»Armfield, wie geht´s?«, rief Bill, ein wenig beunruhigt. Es war schon deutlich nach Mitternacht. War das vielleicht irgendeine Auferstehungsfeier?

Aber der Priester war ein Baptist. Und er wusste genauso gut wie alle anderen, dass Satan der Herrscher der Nacht war, besonders wenn der Vollmond über den Himmel schwebte. Bill blickte zur Kirche und zu dem Licht, das aus der Sakristei auf den Rasen fiel. Ein gelbes Rechteck war auf den gut geschnittenen Rasen gezeichnet.

»Bill!«

Das war Nettie, schwach und verwundet. Ihre Stimme war nicht aus der Kirche gekommen. Sie war stattdessen vom Pfarrhaus über die Grabsteine gedrungen.

»Nettie?«

Er rannte über den gepflegten Friedhof und versuchte den weißen Grabsteinen auszuweichen. Dabei betete er zu Gott, dass er Nettie beschützen würde und er kümmerte sich nicht darum, dass er mitten über dutzende Gräber lief. Aus dem Augenwinkel konnte er etwas Seltsames an dem Priester und seinen Weggefährten bemerken. Sie leuchteten.

Dann roch er den Gestank, der seine Sinne wie ein Boxschlag traf. Fauliger Kohl und Stinkkraut, schimmlige Sägespäne und ranziger Wacholder. Ein feuchter und verwester Geruch.

»Hilf mir, Bill!«, rief Nettie noch einmal.

Er rannte durch die Mauer aus Grabsteinen, so wie er es mit den Verteidigern beim High-School-Football gemacht hatte, als er einen Touchdown nach dem anderen erzielte. Er hatte das Gefühl, dass dies jetzt der wichtigste Wettkampf seines Lebens war, bei dem mehr auf dem Spiel stand als der Meistertitel oder ein Uni-Stipendium.

Die dunklen Ziegel des Pfarrhauses wirkten im Schatten der Bäume schwerfällig, seine Fenster, die weiß umrahmt waren, wie beruhigende Augen. Nettie saß auf den Stufen, hielt ihren linken Knöchel und drehte verzweifelt am Türknopf. Sogar aus einer Entfernung von zwanzig Metern konnte er die vom Mondlicht beleuchteten Tränen auf ihren Wangen sehen. Ihre Augen waren weit aufgerissen und voll Angst. Er rannte über das taufeuchte Gras zu ihr und kniete sich neben sie.

»Was ist passiert, Liebling?«, flüsterte er und fühlte sich hilflos und ängstlich zugleich.  Nettie kam ihm vor wie ein Vogel, der sich einen Flügel gebrochen hatte und er wollte sie nicht berühren.

»Ich glaube, dass mein Knöchel gebrochen ist«, stieß sie durch ihre zusammengebissenen Zähne hervor. Sie schlang ihre Arme um seinen Hals und drückte ihn an sich, dann legte sie ihren Mund an sein Ohr. »Ich bin so froh, dass du da bist!«

Er hielt sie ein wenig weg von sich, um ihr in die Augen blicken zu können. Dann sah er ihren Knöchel, der über ihrem weißen Schuh in einem komischen Winkel zur Seite stand. »Was ist los?«

»Der Pfarrer. Er ist verrückt geworden. Seine Augen…schau dir seine Augen an!«

Bill drehte seinen Kopf zur Seite. Sie kamen immer näher, nass und tropfend, mit ausgestreckten Armen. Ihre Augen leuchteten unmenschlich tief und unheilig grün. Der Prediger lächelte und sein Mund war lebendig, wie ein Ding, das nicht zum Rest seines Körpers gehörte und voll von  leuchtenden Würmern war.

Satan.

Satan war hier, jetzt und genauso, wie es die Bibel vorhergesagt hatte. Das Ende der Welt war gekommen, aber ohne Pauken und Trompeten.

»Liebes Jesuskind, rette uns«, murmelte Bill.

»Ich glaube nicht, dass Jesus diese Leute besiegen kann«, sagte Nettie. »Zumindest nicht alleine.«

Bill schüttelte vollkommen verloren den Kopf. »Grüne Augen. Das stand aber nicht in den göttlichen Offenbarungen.«

Von dem kurzen Grasstreifen kamen Geräusche, die Hymnen der Hölle.

»Bill, sie kommen.« Sie jammerte vor Schmerz. »Sie wollen mich. Uns. Uns alle.«

Bill legte seine Arme unter Nettie und trug ihren Körper, der in seiner Erinnerung noch immer frisch und warm und nackt war. Ihr Atem streichelte seinen Hals. Er schaute sich um und suchte den besten Fluchtweg, aber da waren sie schon, nasse Arme und leuchtende Augen und tote, nasse Gesichter und aufgeplatzte Haut und Fingernägel, so scharf wie Dornen.

Der Prediger näherte sich mit seinem Mund, dessen dicke Lippen hungrig auf- und zuschnappten. Amanda Blevins oder der Dämon, der sich ihres fermentierenden Fleisches angenommen hatte, griff mit klebrigen Händen nach Bill. Andere waren zwischen den Bäumen oder den marmornen Grabsteinen hervorgekommen oder vielleicht sogar aus den Gräbern gestiegen. 

Bill war verwirrt, so als ob ihm jemand einen tödlichen Drogencocktail injiziert hätte oder als ob sich Satan selbst seiner Sinne bemächtigt hätte. Denn Wörter und Bilder zuckten durch sein Gehirn, grüne Dinge, rasend schnell und nicht von dieser Welt. Er spürte, wie Nettie aus seinen Armen gerissen wurde, als er sich unter der Attacke der Gewächshauskreaturen drehte und wand. Zungen schlugen wie Schlangen an seine Wange.

»Nettie!«, schrie er und schlug mit seinen Fäusten wie Vorschlaghämmer auf das weiße matschige Fleisch der Ausgeburten der Hölle.

Plötzlich flackerte ein Flutlicht auf, das den ganzen Horror hell erleuchtete und die Höllenbande in all seiner Schrecklichkeit zeigte. Ihre Münder öffneten sich in apokalyptischer Freude. Sie hatten das Licht gesehen. Und das Licht offenbarte ihren unheiligen Hunger.

 

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DeWalt stolperte und fand dann seine Balance wieder. Seine Beine waren durchnässte Baumstümpfe, schwere Granitpfeiler, tonnenschwer. Gedankenverloren griff er aus reiner Gewohnheit nach seiner Pfeife in die Brusttasche seines Hemdes. Er steckte sie gerade zwischen seine Zähne, als ihn die Vorstellung von Tabakspflanzen unter der strahlenden Sonne durchflutete: Reihe um Reihe von fetten, saftigen Blättern, volle Felder von reicher Dekadenz und scharfer, tauiger Blüten, grüne Armeen von Nikotinarsenalen. Er warf seine Pfeife in das Unterholz.

DeWalt blickte sich um auf die langen Schatten der Zweige und der drohenden Baumwipfeln. Auch im Lichte des Vollmondes wirkte der nächtliche Wald geheimnisvoll und bedrohlich.

Kein Wunder, oh Gesinnungsbruder. Auf welcher Seite bist du überhaupt?

Sie sind zu fremdenfeindlich, Herr Vorsitzender. Vielleicht ist das ja der Grund, warum sonst niemand am Königlichen Orden der Blutenden Herzen mitmachen darf.

Zwei Hände, zwei Bälle. Eine ausgewogene Sache.

Und was ist, wenn ich zum anderen Klub wechsle?

Welcher Klub könnte das denn sein, oh Bruder?

Der böse Zwilling von Greenpeace. Der Königliche Orden des Shu-shaaa. Der Erdmund. Der unselige Gottessamen.

Das traust du dich nicht. Du wärst ja jetzt nicht hier, wenn du nicht noch mehr Angst hättest, deine wirkliche Farbe zu zeigen. Gelb.

Einspruch, Herr Vorsitzender.

Warum denkst du, dass du dazu geboren wurdest, einen Haufen Geld zu machen? Warum du dich vor Vietnam gedrückt hast, aber dich um keinen Deut für die Friedensbewegung stark gemacht hast? Warum deine Ehe nicht funktioniert hat, weil du nie genug von dir selbst hergeben konntest? Warum du immer alles, aber nie genug hattest? Warum du immer von Neuem beginnen musstest?

Das ist nicht fair. Das sind Schläge unter die Gürtellinie.

Es ist deine ANGST, Bruder. Oh, nicht Angst vor dem Tod. Angst, lächerlich gemacht zu werden. Angst, überlistet zu werden. Angst davor, gelebt zu haben. Angst, dass jemand merkt, dass dir alles egal ist.

Ach, lassen Sie mich in Ruhe.

Die Konferenz des Königlichen Ordens der Blutenden Herzen ist jetzt vertagt.

DeWalt schaute auf die schattigen Umrisse von Chester und Emerland zehn Meter vor ihm. Er hoffte, dass Chester den Weg kannte, denn DeWalt hatte schon längst die Orientierung verloren. Orientierungssinn konnte eben nicht einfach wie aus einem Versandhauskatalog bestellt werden. Und andere Dinge konnte man sich auch nicht so einfach erkaufen.

Seine Schulter schmerzte von dem Sack Pilzvernichtungsmittel, das er trug. Das Pulver des stechend riechenden Gifts drang ihm in die Nase. Er hatte das Gewehr wieder Chester gegeben und war froh, es nicht mehr tragen zu müssen. Aber das Dynamit beulte seine Taschen aus, schwer wegen der damit verbundenen Verantwortung. Der Zündschalter und die Zündkapseln waren in seiner Jackentasche.

Er hoffte, dass er die Zündkapsel richtig anschließen konnte. Chester würde ihn das nie vergessen lassen, wenn er hier einen Fehler machte. Wenn er sich richtig erinnern konnte, sendete der Zündschalter eine elektrische Spannung an die Kapsel und diese Hitze setzte eine Kettenreaktion in Gange, die den Rest des TNT zur Explosion brachte.

Aber wie willst du dich daran erinnern, oh Ordensbruder? Kannst du deiner Erinnerung nach deiner langen Beschäftigung mit freier Liebe, Sex und jedem anderen mythischen Scheiß auf der Welt noch vertrauen? Vertraust du den Weisheiten der Möchtegern-Radikalen, mit denen du das Bett geteilt hast?

Das waren anständige Leute, Herr Vorsitzender.

Weil sie Kapitel und Passagen aus dem Kochbuch der Anarchisten zitiert haben?

Naja, die Zeiten haben sich geändert.

Ja. Und du hast dich nicht geändert. Sollte man nicht mit der Zeit gehen?

Es lebe die Revolution, Kamerad. Damals waren das andere Zeiten, aber jetzt ist auch alles anders.

Du tickst nicht mehr richtig, Bruder.

Ja, und für alles gibt es einen Grund. Du weißt schon, was die Hippies gesungen haben, damals, als wir dachten, dass die Welt es wert wäre, verändert oder sogar gerettet zu werden. Wir konnten nicht einmal unsere verdammte Denkweise ändern.

Er hörte Tamara hinter sich. Die Dose, die sie trug, machte ein schwappendes Geräusch, als sie das Gewicht von einer Hand in die andere wechselte. Der Griff schnitt ihr in die Handflächen und ihre Arme waren wahrscheinlich schon taub. Aber es ging ihr besser als den anderen und sie trieb sie an, schneller zu gehen.

Der Mond war schon dabei, zu sinken. Das Morgengrauen war nur mehr ein paar Stunden entfernt. Hatte Tamara nicht etwas davon gesagt, dass der Zombie produzierende Erdmund in der Sonne noch stärker werden würde?

 

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Ja, habe ich, dachte Tamara.

Wart einen Moment.

Was hatte DeWalt gesagt?

Er hatte nichts gesagt. Du hast ihn gehört. In deinem Kopf. Dreh dich um, dreh dich um, dreh dich um.

Blödsinn. Hellseherei ist eine Sache. Telepathie eine ganz andere.

Und vielleicht fantasierst du schon vor Erschöpfung, Hunger und Müdigkeit. Und vielleicht kannst du in deinem Kopf ein Thema so lange verfolgen wie ein Hund seinen Schwanz und dann bricht dein Gehirn einfach zusammen.

Aber HÖR DOCH ZU.

Und sie versuchte, ihrer inneren Stimme einen Maulkorb zu verpassen, und ruhig und konzentriert zu sein. Sie hörte, wie DeWalt über Ordensbrüder nachdachte und wie der Mond wie ein runder Käse aussah und wie ihn das daran erinnerte, als er und seine Freunde im Garten seines Hauses in Oregon campiert hatten und wie er sich wünschte, wieder ein Kind zu sein, damit er sein Leben von neuem leben konnte...

Dann verließ sie ihn und ihr Kopf war voll von seinen Gedanken.

Sie blieb stehen und stellte die Dose mit Roundup in die nassen Blätter.

»Alles o.k., Tamara?«, fragte DeWalt aus den Schatten vor ihr.

»Mir geht´s gut«, antwortete sie, dachte aber gleichzeitig, dass es ihr nie wieder gut gehen würde. »Ruh mich nur für einen Moment aus. Komme gleich nach.«

»Chester und Emerland holen auch gerade Luft. Chester sagt, wir sind schon fast da.«

Tamara wurde neugierig. Konnte sie wirklich?

Sie öffneten ihren Verstand wieder und lauschte mit ihren telepathischen Sensoren in die Nacht, ließ ihre übersinnlichen Antennen kreisen.

Und sie konnte Chester kurz empfangen, teilte mit ihm den Gedanken, dass er Don Oscars Schnaps vermissen würde, dass er aber die letzten Stunden noch genießen wollte. Sie nahm seine große Angst wahr, fühlte die aufgescheuerte Stelle auf seiner Schulter, an der die Schnalle seines Overalls ständig rieb, roch den scharfen Geruch des Korn und von verschwitzten langen Unterhosen.  Dann zog sie sich wieder zurück.

Entweder sie konnte Gedanken lesen oder sie war endlich in tausende schizophrene Splitter zerbrochen. Es musste Shu-shaaa sein, das pulsierende Alien, das ihre innere Stimme aus dem Winterschlaf aufgeweckt hatte. Die Kreatur hatte ihre Empfindungen verstärkt, vielleicht durch einen Überfluss der eigenen kosmischen Kraft, vielleicht durch eine bisher noch unentdeckte Wellenlänge, die außerhalb der menschlichen Wahrnehmung operierte, vielleicht war es auch ein letztes Geschenk, das von dem allmächtigen Eroberer den Ameisen, die er bald vernichten würde, gewährt worden war. Wer konnte das schon wissen?

Ein loser Gedankengang löste sich in Chesters dünner Stimme aus ihrem Unterbewusstsein, ein Geräuschteilchen, das wahrscheinlich während des telepathischen Austausches seinen Weg in ihr Gehirn gefunden hatte.

»Übermut tut selten gut.«

Vielleicht war es am besten, das nicht zu verstehen. Alles, was Tamara wusste, war, dass ihr Kopf nicht nur vor ihren eigenen Sorgen und Ängsten brummte, nicht nur, dass das Shu-shaa seine Anwesenheit mehr als deutlich machte, nicht nur, dass ihre innere Stimme gerade ein Comeback gab, das John Travolta vor Neid erblassen lassen würde, sondern sie hatte jetzt auch noch die Sorgen und Ängste der anderen, um die sie sich kümmern musste.

Sie hob die zwanzig-Liter-Dose wieder auf und trug sie zu einer schmalen Lichtung, in der sich die anderen ausruhten und sich unterhielten. Instinktiv verschloss sie ihr drittes Ohr und versuchte auf die gesprochenen Worte zu hören, statt auf die Gehirnwellen. Sie wusste nicht, ob sie mit all den Gedanken zugleich umgehen konnte.

Sie wollte es auch nicht versuchen.

 

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»Oh, mein Gott. Papa!«

Nettie konnte Sarah an der geöffneten Tür im gleichen Moment schreien hören, als die Lichter auf der Veranda aufgedreht wurden und feuchte Arme und blättrige Hände sie packten und von Bill wegzerrten.

Familie Painter war in ihrer Nähe und warf ihre Schatten über ihr Gesicht. Sandy Henning, die Organistin der Kirche, war auch dazugekommen, und ihre schlanken Finger bogen sich wie dünne Weinranken. Nettie suchte mit ihren Augen Bill und sah, wie er sich gegen das Ding wehrte, zu dem Prediger Blevins geworden war. Bills große Faust verschwand gerade in Amandas gierigem Schlund. Der Mund des Predigers war nur Zentimeter von Bills Mund entfernt, aber Bill riss seinen Unterarm in die Höhe und konnte den Angriff gerade noch abwehren.

Der Prediger wendete sich seiner eigenen Tochter zu und sein unmögliches Grinsen wurde breiter und fauliger. Aus seinen melonenfarbigen Kiefern tropfte modriger Schlick. Dann wurde Netties Aufmerksamkeit durch einen orangen Schmerz entzweigerissen, der durch ihr Bein schoss. Eine der Kreaturen hatte ihre schrecklichen Kiefer um ihren Knöchel geklammert und saugte an ihrem Schweiß, Salz und ihren Hautzellen.

Dann bedeckte Ann Painters Gesicht das ihre und sie spürte die teuflische Kohlenhitze und die scharfe Artischockenluft aus ihrem Mund und das tiefe geheime Zellulosegestrüpp und die Säure aus Zitterpappel und Esche, als die gerbstoffhaltigen Gewölbe und Krypten sich öffneten und sie wurde und sie wurde und sie wurde befreit und fand sich in Bills Armen wieder und er schob sie in das Pfarrhaus und zog gleichzeitig die vor Schreck erstarrte Sarah an ihrem Pyjamaärmel aus der Reichweite ihres krätzigen Vaters.

Bill schlug die Tür mit einem Fußtritt zu und der Arm eines der Dämonen wurde zwischen der Tür und dem Türpfosten mit einem fetten, klebrigen Geräusch eingeklemmt. Bill ließ Nettie auf den Teppich fallen und sie sah aus einer unendlich weiten Distanz, wie er seine Schulter gegen die Tür stemmte und der Arm wie ein verrotteter Unkrautstrunk zu Boden fiel. Er fiel auf die Türmatte und rollte weiter, bis er neben Nettie liegen blieb. Sie schaute zu, wie seine lila, dunklen Venen Flüssigkeit pumpten und der Zeigefinger winkte, sich krümmte und sie aufforderte, ihm zu folgen.

Sie war Pollen. Sie schwebte auf einem Windhauch. Der Ewigkeit entgegen.

 

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Armfield ging völlig in seiner Ekstase auf, trunken von dem heiligsten aller Wasser. Sein ganzes Leben war ein nutzloses Suchen gewesen, kleine Rituale und Sakramente und Segen, die er verteilte. Sein ganzes Leben hatte er in  Dunkelheit verbracht, zu einem unsichtbaren und nicht spürbaren Gott betend. 

Sein ganzes Leben lang war seine Seele das Schlachtfeld für einen strengen Jesus und einen verständnisvollen und verführerischen Satan gewesen. Und jetzt war die menschliche Seele untergetaucht, hatte sich vom Staub und den Stigmata und den Psalmen freigetanzt.

Jetzt, jenseits des Lebens, hatte er seine wahre Bestimmung gefunden. Die wahre Erlösung und Gnade und das Licht. Den einen richtigen Herren, der ewige Knechtschaft verlangte und gleichzeitig auch verdiente. Das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit von Shu-shaaa, in Ewigkeit, Amen.

Aber da war noch ein Schmerz, ein leerer, menschlicher Schmerz, von dem er wusste, dass er Teil seines alten und erbärmlich fleischlichen Lebens war. Ein unerfüllter Knoten in seiner Brust, ein Hunger in seinem übervollen Mund und seinen Händen, ein nahrhaftes Pulsieren in seinen Organen aus Gelatine. Die Familie musste vereint sein, der Zirkel durfte nicht gebrochen werden.

»Sha-raaa«, sprühte er in die dunkle Nacht.

Seine Ehefrau war an seiner Seite, ihre Mascara glitt von ihrem Gesicht zusammen mit den erstarrten Fetzen ihrer Haut. Sie hob ihren linken Armstumpf in den Himmel und schüttete dabei ihren überschüssigen, milchigen Ausfluss auf die roten Fliesen der Veranda.

Alles zur Lobpreisung des Shu-shaaa. Armfield hatte sich noch nie so nahe, so verbunden mit seiner Gemeinde gefühlt wie jetzt. Sie hatten die gleiche Vision und den gleichen Verstand und die gleiche Mission. Sie waren in den Augen ihres neugefundenen Gottes wirklich eins geworden.

Und, wie jeder andere Gott, verlangte auch dieser nach Bekehrten.

Sie warfen mit aller Kraft ihr matschiges Fleisch gegen die Tür.

 

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»Nettie, geht es dir gut?«

Bill setzte sie vorsichtig auf und lehnte sie gegen das Sofa. Sie sah außer ihrem Knöchel nicht verletzt aus und sie lächelte ein kleines, rosa, verträumtes Lächeln.

Ihre Augen waren nur mehr ein winziger Halbmond und ihre Wimpern zuckten wie Schmetterlinge auf weißen Kleeblüten. Er hatte gesehen, wie ihr dieses Monster seinen fauligen Atem in den Mund geblasen hatte. Bill schluckte und betete inbrünstiger als jemals zuvor in seinem Leben.

Bitte, oh Herr, lass sie gesund sein. Denn ich brauche sie mehr als alles andere auf Deiner Welt. Und ich weiß nicht, welche Plage Du auf diese Welt losgelassen hast, aber bitte verschone Nettie davon. Du kannst mich haben, ich weiß, dass ich nicht der Beste bin, aber ich verspreche, dass ich dir nach bestem Wissen und Gewissen dienen werde, ich weiß, dass ich falsch singe, aber ich werde solange üben, auch wenn es ewig dauern wird, bis ich es in den Chor schaffe.

 Ich weiß, dass sie ein umwerfender Engel wäre, aber bitte lass sie ihr Leben lang bei mir, und ich schwöre, dass wir Dir tausend Mal tausend dienen werden.

Ich weiß, dass Deine Gnade unendlich ist und ich habe Deine Güte in meinem Herzen gespürt, seitdem ich dich eingelassen habe, seitdem Du mir die Hoffnung und die Kraft und die Weisheit gegeben hast. Aber bitte zeig mir, dass Du mich erhörst. Bitte gib mir ein Zeichen.

Am Hauseingang splitterte das Glas und die Tür ächzte in ihren Scharnieren und die festen Holzbohlen bogen sich unter dem anstürmenden Gewicht.

Bill blickte von Netties ausdruckslosem Gesicht zu der erschrockenen Maske von Sarah. Sie zitterte in ihren Pyjamas, die Arme hatte sie um ihre Brust geschlungen und ihre Augen traten von der Erinnerung an das Unsägliche hervor.

»Sarah«, sagte er.

Sie starrte weiter.

»Sarah!«

Er stand auf und packte sie an den Schultern und schüttelte sie, bis sich ihre Augen trafen. »Komm, du musst mir helfen. Wir müssen Nettie zu einem Arzt bringen.«

»A…Arzt?« Ihre Unterlippe zitterte. Sie schüttelte den Kopf, versuchte wieder zu Sinnen zu kommen.

»Etwas ist geschehen. Etwas stimmt nicht mit diesen Leuten.«

»Mit Mama und Papa?«

»Es tut mir Leid, Sarah. Ich wünschte, ich wüsste, was los ist. Aber ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass sie irgendwie verändert sind.«

Sarah biss auf ihren Daumennagel. Ihre Augenlider waren vor Angst und Schock gerötet. Sie sah zu, wie die Türe zersplitterte.

»Wir haben nicht mehr viel Zeit«, sagte Bill. »Ruf die Polizei an, ich weiß nicht, was wir sagen sollen, aber sie sollen herkommen. Dann müssen wir uns in Sicherheit bringen. Wenn wir meinen Pickup erreichen können, sind wir in Sicherheit. Hier können wir nicht viel länger bleiben.«

Sarah nickte düster und plötzlich wild entschlossen, so als ob sie in einem Spitalsbett erwacht wäre und verstanden hätte, dass sie um ihr Leben kämpfen müsste. Sie ging barfuß über den Teppich, als die Geräusche und Schläge an der Türe immer lauter wurden.

Bill legte seine Hand auf ihren Arm. »Wir können nur mehr für ihre armen Seelen beten. Mehr nicht. Alles andere liegt in der Hand Gottes.«

Sie blickte ihn  kalt an. »Welcher Gott würde so etwas zulassen?«

Er wusste keine Antwort. Sarah ging den Gang entlang und nahm das Telefon in die Hand.

Bill schaute aus dem Fenster. Noch mehr dunkle Gestalten kamen aus dem Wald, so als ob die Bäume selbst zum Leben erweckt worden wären. Er kniete sich zu Nettie und hob sie vom Boden. Sie erschien ihm leichter als zuvor, als ob ein lebenswichtiger Teil von ihr fehlte.

Sie lächelte noch immer.