DRITTES KAPITEL
Wieder einmal versprach sein Dienst zu einem Alptraum zu werden. Zuerst hatte der Drucker nicht funktioniert und die Nachrichten der Associated Press vernichtet, sodass er die Meldungen über das Wetter nicht mehr lesen konnte. Dann war auch noch Melvin Patterson, der Leiter der Radiostation, ins Studio gekommen und hatte ihn vollgelabert, weil er sich nicht genau an die Reihenfolge der ausgewählten Lieder gehalten hatte. Und nun rief auch noch so ein Spatzenhirn im Studio an und wollte ein paar auffällige grüne Lichter melden. Robert Leon, der den Hörern der WRNC-Radiostation besser als "Bobby Lee" bekannt war, seufzte auf und presste den Telefonhörer an sein Ohr.
»Davon habe ich noch nichts gehört, gnädige Frau«, sagte er und fragte sich innerlich, warum sie eigentlich den Radiosender angerufen hatte. Hatte sie denn keine anderen Freunde, zum Teufel noch einmal?
»Haben Sie noch keine anderen Meldungen darüber erhalten?« Die Stimme am anderen Ende der Telefonleitung hörte sich an, als ob jemand mit den Fingernägeln über eine Schultafel kratzen würde. »Vielleicht in der Nähe des Bear Claw?«
»Nicht dass ich wüsste. Vielleicht sollten Sie sich an die zuständigen Behörden wenden.«
Robert blickte auf die Anzeige seines CD-Players. Mariah Carey hatte noch zwölf Sekunden, um mit ihrer Stimme alle Glasscheiben im Studio zum Zerbersten zu bringen. Er rieb seine Stirn.
»Aber da sind wirklich grüne Lichter, glauben Sie mir doch«, sagte die Anruferin. »Oben im Wald. Vielleicht ist es ja ein UFO, die soll´s ja geben.«
Warum sollten einigermaßen intelligente Außerirdische ausgerechnet in Windshake landen? Robert schob eine neue CD in den zweiten CD-Player.
»Sie könnten es ja filmen und an die Fernsehserie Akte X schicken«, schlug er vor. »Hören Sie, unsere Zeit ist leider abgelaufen. Tschüss, und danke, dass Sie WRNC hören.«
Er legte auf und schaltete im selben Moment sein Mikro ein. Er presste Luft in seinen Unterbauch, so wie er es im College gelernt hatte, und legte in seinem gekünstelten fröhlichen Bariton los.
»Das war "Dream Lover" von Mariah Carey.«
Und ich hoffe, dass Sie Ihr Radio rechtzeitig abgedreht haben, bevor sie so richtig in Fahrt gekommen ist.
»Es ist elf Uhr vierzehn und wir haben heute einundvierzig Grad Fahrenheit bei stark bewölktem Himmel. Am Mikrofon ist Bobby Lee, der Sie durch den Tag führen wird.«
Aber nur, weil ich keinen besseren Job finde.
»Sie hören gerade WRNC auf AM 1220, Ihr Lokalradio für Nachrichten und Sport.«
Aber auch nur, weil alle unsere Sponsoren in den Nachrichten erwähnt werden wollen oder ihre Söhne im Footballteam der Schule spielen.
»Nach der Werbepause werfen wir einen kurzen Blick aufs Wetter."
Lasst euch noch drei Minuten vom Radio auf den Kopf scheißen, dann kann ich euch etwas erzählen, was Ihr sowieso wüsstet, wenn Ihr nur aus dem Fenster schauen würdet. Und weil ich mich heute wie ein richtiges Arschloch anhöre, mach´ ich jetzt mal ´ne Pause.
Robert drückte eine Taste an seinem Mischpult. Save-a-Ton hatte heute ein Sonderangebot bei Schweinerippchen. Am Mischpult waren drei Werbespots gespeichert, die immer wieder wiederholt wurden, also hatte Robert genug Zeit, um den Senderaum zu verlassen und kurz an seiner Zigarette zu ziehen. Er stieß die Hintertür des Studios auf und stand unter einem kleinen Vordach. Während er rauchte, beobachtete er das Unkraut, das auf dem Parkplatz sprießte.
Betty Turnbill, die Sekretärin des Senders, trat neben ihn.
»Morgen, Bobby.« Es folgte ein Augenaufschlag mit ihren falschen Wimpern. »Was dagegen, wenn ich dir Gesellschaft leiste?«
»Wir leben in einem freien Land«, sagte Robert und inhalierte den Zigarettenrauch tief in seine Lungen. Betty schob sich eine Zigarette zwischen die mit rosa Lippenstift geschminkten Lippen und beugte sich nach vor, um von Robert Feuer zu bekommen. Ihre rote Haarpracht zitterte leicht, als sie ihre Schultern schüttelte.
Es war das erste Mal, dass Robert gesehen hatte, dass sich ihre Haare überhaupt bewegten. Nun, außer dem einen Mal, aber da war es ja dunkel gewesen. Und er war sich sicher, dass er sich daran bis zum Ende seiner Karriere bei WRNC erinnern würde.
Robert kramte in seinen Hosentaschen, holte dann ein Bic-Feuerzeug heraus und entzündete Bettys Virginia Slim. Sie saugte mit aller Kraft an ihrer Zigarette und blies dann den Rauch in einer grauen Säule in die Luft. Robert sah sie an. Ihr blauer Lidschatten passte überhaupt nicht zu ihren haselnussbraunen Augen und das Rouge auf ihren Wangenknochen sah so aus, als ob sie es mit einer Kittspachtel aufgetragen hätte. Sie nahm die Zigarette aus dem Mund und kleine Stücke ihres Lippenstifts blieben am Filterstück haften. Von dem Anblick wurde Roberts Frühstücksmilchkaffee in seinem Magen sauer.
Sie reckte ihm ihr kleines Kinn entgegen und lächelte. Trotz des frischen Windes konnte er deutlich den Geruch ihres Elizabeth Taylor Parfums wahrnehmen. Robert war sich sicher, dass der Duft schwerer als die Luft war und deshalb nicht so leicht weggeweht werden konnte, sondern eher in Richtung Boden sank.
»Muss wieder gehen«, murmelte er und schnippte seine halbgerauchte Zigarette in eine Regenpfütze. »Melvin schreit Zeter und Mordio, wenn ich auch nur eine Sekunde der Sendezeit verpasse.«
»Tschüss, Bobby. Komm doch mal rauf und besuch´ mich.«
Mae West im Körper von Minnie Pearl. Nein, danke. Einmal war genau einmal zu oft gewesen.
Robert stürzte in sein Studio gerade als die Töne der letzen Werbeeinschaltung verklangen. Schnell setzte er sich seine Kopfhörer auf und schaltete das Mikrofon ein.
»Und Billy Buck Dodge-Jeep-Chrysler gratuliert Edna Massey zum ersten Preis beim monatlichen Lebkuchenbackwettbewerb«, sagte Robert, während er es sich im Drehstuhl des Senderaums gemütlich machte. »Und was das Wetter betrifft, so ist Regen das treffende Wort für heute. Die Wahrscheinlichkeit für Regen liegt bei zirka fünfzig Prozent, ab dem frühen Nachmittag bis Mitternacht ist mit heftigeren Schauern zu rechnen. Die Höchsttemperaturen liegen bei fünfzig und die zu erwartenden Tiefsttemperaturen bei zirka dreißig Grad Fahrenheit.
Er drückte die Starttaste des CD-Players und sprach die letzten Worte auf die Anfangsakkorde von "Hotel California". »Unser nächstes Lied kommt von den Eagles, hier auf AM 1220, WRNC.«
Robert lehnte sich in seinem Sessel zurück und legte seine Hände in den Nacken. Er hatte schon bei einem halben Dutzend AM-Radiostationen gejobbt, aber diese hier war wirklich nicht mehr zu unterbieten. Normalerweise sollte man ja immer bessere Arbeitsstellen angeboten bekommen, wenn man mehr und mehr Erfahrung hat, besonders wenn man talentiert ist. Aber abgesehen von seinem kurzen Intermezzo in einer FM Morgensendung, war er im Radiogeschäft etwa so begehrt wie eine kaputte Ninja Turtle-Figur in einem Kindergarten.
Seine FM-Morgenshow hatte "Doppeltes Frühstück" geheißen. Sein Ausflug in den besser bezahlten FM-Markt hatte ungefähr zwei Monate lang gedauert und seine Morgenshow war langsam aber sicher in Charlotte auf der Beliebtheitsskala nach oben geklettert. Er hatte Garth Brooks und Jeff Foxworthy als Studiogäste gehabt und war auf dem besten Weg eine überregionale Größe zu werden. Er wusste, dass das sein großer Wurf werden könnte, seine einzige Chance, das zu bekommen, was er schon längst verdient hätte. Aber der Radiosender wurde unter seinem Hintern weg verkauft, besser gesagt über seinen Kopf hinweg, und seine Sendung wurde durch eine konservative Talkshow ersetzt, bevor er auch nur "Halleluja" sagen konnte.
Anstelle des Witzes und Esprits von Bobby Lee bekamen die Hörer nun den Schwulst von Rush Limbaugh und dem Prediger Floyd Hardwick vorgesetzt. Und das Schlimmste war, dass sich die Hörerschaft bereits nach einer Woche verdoppelt hatte.
Mit Glück hatte er eine Gelegenheitsarbeit gefunden, dann war er von Job zu Job gewechselt und nun war er wieder dort, wo er vor zehn Jahren angefangen hatte. Aber er hatte wenigstens genug, um sich den Bauch vollzuschlagen, dachte er und klopfte sich auf den Basketball, der sich irgendwie über die Jahre in seinem Bauch gebildet hatte. Und als Radiosprecher seinen Lebensunterhalt zu verdienen, war ja auch nicht schlecht.
Die Eagles setzten zum Endspurt an und Elton John war schon auf Spur zwei eingelegt und bereit, über die Schwierigkeiten des Lebens zu singen.
Als ob der gute alte Eltie davon eine Ahnung hätte, mit seinen Stretchlimousinen und Federboas.
Robert ließ den Song ohne eigene Ansage ertönen und stand auf, um sich noch einen Kaffee zu holen. Er spähte um die Ecke und sah Melvin Patterson hinter seinem Mahagoni-Schreibtisch sitzen. Patterson schimpfte immer, dass die Station den Bach hinunter ginge, aber für seinen Schreibtisch und cremefarbenen Lederdrehsessel mussten sie die Billy Buck Dodge-Jeep-Chrysler Werbung sicherlich einige hundert Male einspielen.
Bettys Schreibtisch stand beim Haupteingang und sie hatte ihm ihren Rücken zugedreht. Ohne es zu wollen, tasteten seine Augen ihr Hinterteil ab. Ihr Hintern sah wie ein mit Wasser gefüllter Luftballon oder wie ein formloser Wackelpudding aus.
Robert goss sich Kaffee in seine Tasse und ging zurück in sein Studio. Er drehte seine Monitorlautsprecher leiser, damit er nicht von noch mehr zeitgenössischen Rhythmen bombardiert würde, als er in sich aufnehmen konnte. Er war sich sicher, dass sie krebserregend waren, oder vielleicht bekam man davon Haarausfall oder begann für die Republikaner zu wählen. Aber es war ihm egal und wenn sein Boss von ihm verlangte, dass er ständig die größten Hits der Countrylegende Boxcar Willie spielen würde, würde er es auch tun, solange jeden Monat sein Gehalt auf dem Konto war.
Er verbrachte die nächste halbe Stunde mit hirnlosem Geschwätz und den Hits von Whitney Houston, Madonna, Celine Dion und Lionel Ritchie. Ehe er es sich versah, war es kurz vor zwölf und Dennis Thorne, die Antwort von WRNC auf Walter Cronkite oder zumindest Les Nessman, stand hinter ihm und wartete schon darauf, dass er für die Zwölf-Uhr-Nachrichten auf dem Sessel des Radiosprechers Platz nehmen konnte.
»Was ist deine Schlagzeile, Dennis?«, fragte Robert.
Dennis strich sein dick gegeltes Haar zurück als ob er vor eine Kamera treten würde. »Bei Brysons Futtermittelfirma sind chemische Substanzen ausgetreten.«
»Das ist ja mal was, Mann. Hast du das auch mit Melvin abgesprochen?«
»Absprechen? Warum?«
»Bryson ist ein wichtiger Geldgeber, schon seit Jahren, als du noch in der Schule in der Nase gebohrt hast. Ich glaube nicht, dass diese Mittteilung durch die Zensur geht.«
»Ist schon okay. Es war der Fehler von einer Lastwagenfahrerin, die etwas von der Firma abholen wollte. Sie war nur eine Aushilfsfahrerin und hatte nicht viel Erfahrung. Sie hatte vergessen, die Laderampe ihres LKWs zu verriegeln und einige Fässer mit Pestiziden rollten über den Parkplatz, als sie Gas gab und wegfahren wollte. Irgendein brandneues Mittel, heißt Acrobat M-Z und soll gegen Blauschimmel auf den Tabakspflanzen wirken.«
»Ein Fall für den Katastrophenschutz?«
»Sicher. Sie haben einfach den Parkplatz gereinigt und das ganze Zeug mit Hochdruck in den Straßengraben gespritzt.«
»Vielleicht kriegen wir dadurch ein paar Mutationen, die passen dann super zu den grünen Lichtern.«
»Grüne Lichter?« Dennis richtete seine Krawatte, während Robert aufstand und ihm seinen Sessel überließ.
»Ist ´ne lange Geschichte«, sagte Robert und zeigte auf das Mischpult. »Wenn du einen UFO-Sound brauchst, lass es mich wissen.«
Dennis machte ihm ein Zeichen, dass er den Raum verlassen sollte und bereitete seine Nachrichtenblätter auf dem Sendetisch aus. Als die "On Air"-Lampe aufleuchtete, verließ Robert den Raum. Ein leichter Regenschauer begann zu fallen. Blitze zuckten über den finsteren Horizont. Ein paar Sekunden später war auch schon das dumpfe Donnergrollen zu hören.
Robert war derweilen damit beschäftigt seine Camel Light zu beenden. Tamara würde sich schon bald auf den Weg ins Tal zu ihren Nachmittagskursen machen. Er hätte sich gestern nicht wie ein Idiot benehmen sollen. Aber sie machte ihn in den letzten Tagen wirklich verrückt. Zuerst hatte er ihre kleinen Vorahnungen süß und ausgefallen gefunden, weil sie auch immer eine rationale Erklärung dafür gesucht hatte. Schließlich wusste sie ja über die menschliche Psychologie genug, um eine einigermaßen plausible Erklärung zu finden. Aber in der letzten Zeit war sie davon wirklich besessen, nahm ihre Vorahnungen für bare Münze und wirkte distanziert und abwesend.
Innere Stimme. Was für ein Unsinn.
Trotzdem hatte sich ihre nackte Haut gestern Nacht wunderbar angefühlt. Er hätte besser seinen Mund halten und stattdessen seine Hände sprechen lassen sollen und vielleicht…
Robert spürte, wie sein Puls beschleunigte. Aber dann hörte er Bettys sprödes Lachen aus dem hinteren Ende des Gebäudes und seine Erregung krachte im Sturzflug auf den Boden, wie die Hindenburg, allerdings ohne die abschließende Explosion.
Zum x-ten Mal verfluchte er sich für diesen einen schwachen Moment, sein einziger schwarzer Punkt auf seinem ehelichen Führungszeugnis. Es war vor drei Monaten auf der Weihnachtsfeier des Radiosenders passiert. Tamara war mit den Abschlussexamen ihrer Abendklasse beschäftigt und konnte nicht zur Feier kommen. Robert musste also das Fest alleine ertragen und mit Leuten herumalbern, die er sowieso schon zu oft in der Arbeit sah. Sie standen um das Buffet herum und versuchten bei Roastbeef und Whiskey eine ordentliche Unterhaltung zu führen, aber mehr als Smalltalk und Fachsimpelei kamen nicht zustande.
Nachdem Melvin und seine grauhaarige Frau gegangen waren, brachte Jack Ashley, der Mann für das Frühprogramm, ein paar Flaschen Wild Turkey Whiskey, die er unter dem Fahrersitz seines Pickups versteckt hatte. Schon bald kreisten die Flaschen ausgiebig in der Runde. Seitdem er verheiratet war, war Robert dem Alkohol weniger zugetan, aber er dachte, dass ein paar Schlucke ihn davor bewahren würden, vor Langeweile zu sterben. Er wollte eigentlich nur so viel trinken, um sich ein bisschen aufzuwärmen, denn er wusste, was passieren würde, wenn er so richtig in Fahrt käme.
Aus angeheitert wurde ein bisschen mehr und bald merkte er, dass seine Zunge immer schwerer wurde. Trink gerade genug, damit du die Muschelsauce heraufkotzen kannst, sagte er sich, dann hör auf.
Aber die Muschelsauce blieb unten, genauso wie ein guter halber Liter hochprozentiger Whiskey. Je glasiger dann seine Augen wurden, desto schöner wurde Betty Turnbill. Wenn Robert seine Augen ein bisschen zusammenkniff, dann sah sie fast aus wie die junge Reba McIntire, wenn auch ein bisschen heruntergekommener.
Und die Wölbungen unter ihrem rosa Wollpullover begannen wie Brüste auszusehen und es sah sogar aus, als ob sich unter ihrem aufgemalten Lächeln ein echtes verbergen könnte. Als die meisten Kollegen bereits gegangen waren, drückte sie ihn in eine Ecke und er fühlte ihren Atem, der nach Whiskey und Käse aus der Sprühdose roch, auf seinem Hals und ihre Hände überall auf seinem erhitzten Körper. Und das Nächste, an das er sich erinnern konnte, war, dass sie wie Teenager heftig auf dem Rücksitz seines Autos bumsten.
Und nicht nur einmal, wenn er sich richtig erinnern konnte. Aber sicher war er sich nicht.
Um drei Uhr in der Früh machte er sich auf den Heimweg. Seine Zunge lag wie ein alter Socken in seinem Mund und seine Kleidung stank wie ein französisches Bordell. Tamara lag schon im Bett und schnarchte leise. Er warf einen verstohlenen Blick in das Kinderzimmer. Kevin schlief fest unter ein paar Sternen, die an die Zimmerdecke geklebt waren und im Dunkel leuchteten, während Ginger in einem Haufen von Teddybären, Erdferkel und Fröschen aus Stoff schlief. Das Bewusstsein, einen Fehler gemacht zu haben, schnitt wie eine Sense durch den Alkoholdunst, der ihn noch immer benebelte.
Er schlüpfte ins Bad und duschte sich ausgiebig, um den animalischen Duft von Betty abzuwaschen. Während er sich einseifte, konnte er sich fast schon überreden, dass diese Sache nie passiert war. Aber als er auf das verräterische Stück Fleisch blickte, das zwischen seinen Beinen baumelte, dann wusste er, dass er etwas unwiederbringlich verloren hatte.
Und jetzt flirtete Betty immer wieder mit ihm, hänselte ihn wegen dieser Nacht und drohte ihm manchmal im Scherz, dass sie es Tamara sagen würde. Er hatte sich selbst versprochen, dass das nie mehr passieren würde und bis jetzt war er seinem Versprechen treu geblieben. Aber manchmal fragte er sich, ob das Teufelchen, das wohl in ihm schlummerte, wieder einmal zum Vorschein kommen würde.
Vielleicht war ja alles Tamaras Schuld. Wenn sie ihn nicht ständig mit ihrer inneren Stimme zur Weißglut getrieben hätte und ein bisschen mehr Verständnis für ihn gezeigt hätte…
Genau. Ihre Schuld. Damit komm ich zurecht.
Er ging zurück ins Studio und blies den Rauch von seinem letzten Lungenzug in den Gang. Über die Monitorlautsprecher hörte er, wie Dennis kurz vor der Pause einen skurrilen Beitrag über die Raupen des Bärenspinners, die angeblich das Wetter vorhersagen können, brachte. Die auserkorene Raupe hatte zwei dunkle Ringe auf ihrem Körperende, was bedeutete, dass noch zwei Wochen Schnee bevorstanden. Dennis erzählte seinen Hörern, dass die Raupe des Bärenspinners mit ihren Vorhersagen in dreiundachtzig Prozent der Fälle Recht hatte, was weit über dem Durchschnitt der staatlichen Wetterbehörde lag.
Sogar die alten Bergweisheiten wurden schon auf mathematische Formeln reduziert. Rätselhafte grüne Lichter und innere Stimmen. Vielleicht will ja jeder an Zauberei glauben. Warum bin ich der Einzige, der das nicht kann?
Robert schaute durch das große Glasfenster in den Senderaum. Dennis hielt zwei Finger in die Höhe. Noch zwei Minuten bis zum Schluss seiner Sendung. Noch genügend Zeit, um einen Blick auf die neuesten Nachrichten aus der Welt der Unterhaltung und des Glamour zu werfen.
Patterson war im Gang und hielt seine dicken Ellbogen absichtlich so, dass es für Robert kein Vorbeikommen gab. Wie immer blickte er finster drein.
Oh Gott, warum warf er nicht endlich seine Strickwesten aus Acryl auf den Müll? Darin schaute er noch mehr wie Willy Wonkas Oompah Loompahs aus als sonst.
»Sie waren heute schon wieder zu spät, Robert«, sagte Patterson in seiner heiseren Stimme, für die die alten Damen, die WRNC hörten, so schwärmten. Zumindest die, die ihn nicht persönlich kannten.
»Ja. Konnte in der Früh meine Autoschlüssel nicht finden. Wird nicht mehr passieren.«
»Das hoffe ich sehr. Übrigens, wir haben dieses Wochenende beim Frühlingsblütenfest eine Direktübertragung und ich plane, dass jemand von euch die Moderation übernimmt. Machen Sie also für das Wochenende keine Pläne.«
»Ok«, sagte Robert und sehnte sich innerlich schon nach einer Tasse Kaffee, die in der Abstellkammer, die den Angestellten als Aufenthaltsraum diente, auf ihn wartete. »Sie sind der Boss.«
Er machte einen Schritt nach rechts, Patterson gab nach und ließ ihn vorbei. Pattersons finsterer Blick wurde zu einem süffisanten Lächeln. Robert hätte ihm dafür am liebsten die Fresse poliert.
»Noch etwas«, sagte Patterson, als sich Robert gerade bei ihm vorbeidrückte. »Sie müssen den Werbespot für Petty noch einmal neu zusammenschneiden. Dawn Petty hat angerufen und sich beklagt, dass die Off-Stimme zu wenig aufregend ist.«
Wie soll man auch eine gute Portion von Erregung in eine Werbung für ein Geschäft für Handarbeit und Nippesfiguren bekommen? Was hatte sie sich denn vorgestellt? Vielleicht Glenn Beck, der der ganzen Welt erzählt, was das für ein toller Laden ist?
»Ok, Boss. Ich kümmere mich gleich darum.« Robert bog um die Ecke und stieß fast mit Betty zusammen, die ihre dick geschminkten Augenlider aufschlug.
»Wann wirst du dich denn wieder darum kümmern, flüsterte sie ihm zu und drückte ihm ihre Brüste entgegen.
»Jetzt nicht, Betty«, sagte er. Besser gesagt, nie mehr.
Hoffte er zumindest.
Als Dennis das Mischpult wieder an Robert übergab, roch das Mikrofon nach Aftershave und Pfefferminzbonbons für frischen Atem. Es wurde Zeit für die täglichen Todesanzeigen. Robert zeigte einen gewissen Respekt für die Toten, besonders weil er nicht zu ihnen gehören wollte. Trotzdem musste er beim Verlesen der Todesanzeigen immer ein leichtes Lachen unterdrücken.
Vielleicht, weil er die richtige Balance zwischen dem geforderten Maß an Ernst auf der einen Seite und eloquentem Elan auf der anderen Seite finden musste. Vielleicht war es aber auch wegen der Namen der Ortsansässigen. Es könnte aber genauso gut sein seltsamer Sinn für Humor sein. Oder vielleicht war es ja das, was Tamara als "unangemessene emotionale Reaktion" bei ihm diagnostiziert hatte. Was auch immer daran schuld war, er musste manchmal kurz das Mikrofon ausschalten, um sein Lachen zu verbergen.
Er öffnete seine Mappe und sah den Namen von dem ersten Verstorbenen. Es war Dooley R. Klutz.
Robert spürte, dass er dringend einen Drink brauchte.
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Sylvester Mull hielt die .30-06 Springfield in seiner linken Ellbogenbeuge, während er mit seiner rechten Hand den hölzernen Kolben seines Gewehrs umklammerte. Er kauerte unter einem tief hängenden Kiefernzweig, der zu dieser Zeit zu dem wenigen Grünzeug auf dem ganzen Berg gehörte. Er jagte, obwohl gerade Schonzeit war, und trug braune Tarnkleidung. Trotzdem fühlte er sich so exponiert wie ein Pfau in einem Truthahnstall. Das verdammte Rotwild wurde mit jedem Jahr intelligenter, oder vielleicht wurde er immer dümmer.
Letztes Jahr konnte er nur ein paar Böcke erlegen, einen Vierender und einen Sechsender. Da zahlte es sich nicht einmal aus, diese mickrigen Geweihe in der Moose Lodge an die Wand zu nageln. Aber er jagte sowieso nicht wegen der Trophäen, wie viele von den Bierbäuchen aus der Moose Lodge. Er wollte billiges Fleisch auf dem Tisch haben, billig oder gratis, wenn möglich. Naja, die Munition war ja heutzutage nicht gerade gratis, weil die verdammte Liberalen der Waffenindustrie immer mehr zusetzten.
Aber die Jagd war nur einer der Gründe, warum er im Wald herumschlich. Der andere war, dass er hier im Freien auf der anderen Seite des Bear Claw war, wo die Autoabgase nicht in den Augen brannten und das einzige Geräusch, das man hören konnte, der Nordwest-Wind war, der durch die Baumwipfel fegte.
Blas nur weiter, Wind. Vertreibe endlich den letzten Rest vom Winter aus unserer Gegend.
Die letzten Schneefälle waren spät und reichlich gewesen. Vielleicht bildete er es sich ja nur ein, aber er konnte sich nicht erinnern, dass das Wetter jemals so schlecht gewesen wäre. Wurde mit den Jahren immer schlechter. Und die verdammten Idioten in den Nachrichten laberten immer nur von dem Treibhauseffekt und der Erderwärmung, wenngleich doch jeder Idiot erkennen konnte, dass es immer kälter wurde.
Zu dieser Jahreszeit waren normalerweise die Zweige der Eichen und Hickorybäume schon schwer mit roten Knospen und die Sträucher waren immer schon voll mit kleinen Zweigen, die mit hellgrünen kleinen Blättern übersät waren. Aber heute war alles braun und schlammfarben, eintönig und trostlos nach dem heftigen Regen, der gestern über den Bergen niedergegangen war. Der Wind hatte die Wolken vertrieben, aber gegen Mittag hatte wieder ein leichter Schauer begonnen. Die ersten Blumen hatten uneinsichtig ihre Köpfchen durch die herabgefallenen Blätter gesteckt, Blutkraut, Hundszahn und die dünnen, bleichen Stängel des Hornkrauts. In den geschützten Niederungen lag der Nebel wie der Rauch von Kanonen über einem Schlachtfeld. Der Nebel half ihm, sich zu verstecken, und wenn er Glück hatte, dann würde ein Rehbock oder eine Geiß direkt vor seiner Nase auftauchen.
Sylvester hatte seinen Unterstand im letzten Herbst gebaut, als die Jagdsaison gerade ihrem Ende zuging. Er hatte abgestorbene Kiefernzweige übereinander geschichtet, ein paar Baumstämme lose mit Stricken aneinander gebunden und eine Plane über seinem Kopf befestigt, sodass er nicht nass würde, und diese mit Blättern bedeckt. Mit seiner braunen Kleidung und seinen braunen Haaren passt er sich gut seiner Umgebung an. Das war nach den vielen Jahren, die er hier auf der Suche nach billigem Fleisch zugebracht hatte, auch kein Wunder. Er trug keinen von diesen idiotischen, orangen Hüten, die man in der Sportabteilung von K-mart verkaufte.
Die gehörten zu den idiotischsten Dingen, von denen Sylvester je gehört hatte. Da könnte man ja gleich ein Neonschild mit der Aufschrift Hey, Wild, komm her und lass dich abschießen auf dem Kopf tragen. Verhinderte Jagdunfälle, sagen sie. Aber wenn jemand einen Mann nicht von einem Tier unterscheiden konnte, dann hatte er sowieso nichts mit einem Gewehr in einem Wald verloren.
Sylvester duckte sich in seinem Unterstand und lauschte in den Wald hinein. Nichts als der Wind und das leichte Plätschern des Regens. Aber das war gut so. Genug Zeit zum Nachdenken. Denn die Jagd war eine zeitlose Beschäftigung, heute wie gestern, egal ob gerade Jagdsaison war oder nicht. Er hätte genauso gut ein Höhlenbewohner sein können, der mit seinem Speer auf einen behaarten Elefanten wartete, oder ein Alien aus dem Weltall mit seiner Laserpistole, wie im Kino. Jagen und gejagt werden, das war es doch, worauf alles hinauslief.
Ein schlechter Tag auf der Jagd war noch immer um Längen besser als ein guter Tag in der Arbeit. Er hatte sich bei Brysons Futtermitteln, wo er als Lkw-Fahrer arbeitete, krank gemeldet und es war nicht das erste Mal, dass er nicht zur Arbeit gegangen war, um stattdessen Rotwild oder Fasane oder Eichhörnchen zu jagen.
Zum Teufel, er war ja auch in gewisser Weise krank gewesen. Krank, weil er Peggy, seine vertrottelte Frau, und seine rotznasigen Kinder, die sie ihm angehängt hatte und die den ganzen Tag mit Glotzaugen vor ihren Videospielen saßen, nicht mehr ausstehen konnte. Alle zusammengepfercht in dem dreckigen Wohnwagen, den Peggy nicht mehr putzen wollte, weil sie zu faul dafür war. Wer würde da nicht davonlaufen wollen?
Sein Ausweg war nicht das Bier, so wie bei vielen, die in die Moose Lodge gingen, obwohl der Gedanke daran seinen Reiz hatte. Er musste nur an einem Freitagabend die traurigen Augen dieser Mittvierziger sehen, um daran erinnert zu werden, wie schnell man alles verlieren konnte. Ihre letzten guten Jahre rannen ihnen durch die Leber, der Alkohol benebelte ihre Sinne und trübte ihr Augenlicht. Manchmal wusste er nicht, warum er überhaupt in die Lodge ging. Wahrscheinlich, weil man eine Krawatte brauchte, um in den Lion´s Club hinein zu kommen.
Die meisten seiner Freunde gingen in die Lodge. Billy Ray Silas, zum Beispiel. Zwanzig Jahre lang waren sie zusammen jagen und fischen gegangen und einmal alle sechs Monate packten sie ihre Sachen zusammen und machten sich auf den Weg zum Blackstone Mountain, wo sie eine Woche lang auf dem Gipfel ihr Zelt aufschlugen. Ok, sie hatten auch drei Tage in einem Bordell in Titusville verbracht, bevor sie überhaupt ihre Sachen aus dem Auto geladen hatten. Aber Sylvester hatte immer etwas von seinen Ausflügen mitgebracht, zum Beispiel eine große Regenbogenforelle oder einen Zehnender und einmal sogar einen Schwarzbären.
Und wenn er mit vom Wind aufgesprungenen Lippen zurückkam, dann war Peggy immer zuckersüß zu ihm und sie kamen mindestens ein paar Wochen ohne größere Streitereien aus. Außerdem ließ sie ihn dann mindestens jede zweite Nacht ran. Was aber mit Jimmy Morris, seinem loyalen Kumpanen in der Lodge, abging, während er weg war, das hatte er erst später herausgefunden.
Offensichtlich war es Jimmy, der sein Bett warm hielt, während er weg war und seine Frau schon zuritt, bevor die Abgase seines Autos in der Auffahrt verraucht waren. Und Peggy musste sich schuldig gefühlt haben, weil sie nach seinen Jagdausflügen immer besonders kreativ im Bett war. Oder vielleicht hatte ja Jimmy ihr ein paar neue Stellungen gezeigt.
Zur Hölle mit den beiden.
Sylvester fühlte, dass ihm sein Gewehr im Arm ein Trost war. Ein Mann brauchte eigentlich nur ein gutes Gewehr mit einem langen, blauen Lauf und einem abgegriffenen Kolben aus Holz. Und einen schönen dichten Wald. Der wurde allerdings immer schwerer zu finden, weil all die einheimischen Familien begonnen hatten, ihr Land Stück für Stück zu verkaufen. Sogar sein Vater hatte Teile von den alten Mull-Ländereien verscherbelt. Das alte Gehöft war vergammelt und falls Sylvester ein paar Felder erben würde, dann würde es Jahre dauern, um diese wieder fruchtbar zu machen.
Außerdem würde Chester nicht so schnell sterben. Es musste das verdammte Mondlicht sein, das den alten Bastard am Leben hielt. Er machte noch keine Anstalten, in absehbarer Zeit abzukratzen. Chester krümmte am Hof keinen Finger, aber er war noch immer rüstig genug, um zum Save-a-Ton Laden zu fahren und seinen Pickup mit Fertiggerichten und Kautabak voll zu laden.
Als Sylvester ihn vor ein paar Wochen das letzte Mal besucht hatte, als der Schnee so weit geschmolzen war, dass man die Straße zu seinem Haus befahren konnte, lag der alte Mann zufrieden unter einer warmen Decke, den Hund zu seinen Füßen und eine Flasche Fusel in der Hand. Chester war so glücklich wie die Maus im Haferstroh.
Das Geräusch eines brechenden Astes riss Sylvester aus seinen Gedanken. Seine Sinne waren plötzlich geschärft, so als ob er seine Ohren ausgefahren hätte und diese wie ein Radargerät eines feindlichen Agenten in alle Richtungen drehen würde. Laub raschelte links von ihm, zirka hundert Meter entfernt, gerade über einer Bergkuppe.
Muss ein gewaltig großer Hurensohn sein, dem Lärm nach zu urteilen.
Sylvester schaute vorsichtig auf ein paar dicht verwachsene wilde Lorbeersträucher. Rotwild konnte da nicht durchkommen, da die Zweige zu dicht verwachsen waren. Und oben an der Kuppe war der Abstieg zu steil. Nicht einmal eine Berggämse würde auf diese Granitwand, die wie graue Klauen aus der Erde herausragte, klettern können. Besonders jetzt nicht, weil der Lehmboden unter den Blättern vom Regen noch aufgeweicht war.
Es musste also um das Lorbeergesträuch herumkommen und würde auf der unteren Seite auftauchen, auf die Sylvester freie Sicht hatte. In seinen Gedanken wurde das Tier zu einem Feind, genauso wie die Japsen oder die Rothäute in einem Western mit John Wayne. Es wollte sicher am Leben bleiben, aber Sylvester gelüstete es nach dem Fleisch. Er würde das Tier an Ort und Stelle ausweiden und das Fleisch in schöne Steaks schneiden. Es würde sterben ohne zu wissen, dass es überhaupt gejagt wurde.
Sylvesters Nacken begann zu kribbeln und an seinem Haaransatz begann er zu schwitzen. Es war aber kein Angstschweiß. Sylvester war voll konzentriert. Die Jagd war der Hauptgrund, warum er jeden Morgen aus dem Bett stieg. Seine Droge, seine Religion. Er konnte töten.
Sylvester war zu einfach gestrickt, als dass er zu verstehen versuchte, warum er aus der Jagd eine so große Befriedigung erlangte. Ein Anthropologe hätte es vielleicht einem primitiven Überlebenstrieb zugeschrieben, der sich nach all den tausenden Jahren noch immer in unseren Genen herumtrieb. Ein Psychologe hätte vielleicht entschieden, dass Sylvester damit versuchte, gegen eine übermächtige Vaterfigur anzukämpfen. Jemand aus der Moose Lodge würde sagen, dass töten sogar lustiger war, als in einem Lift zu furzen.
Aber Sylvester waren diese Spekulationen völlig gleichgültig. Für ihn war es eine einfache Gleichung: der Jäger gegen den Gejagten.
Er drückte den Gewehrkolben gegen seine Wange und entsicherte sein Gewehr. Die Sicherung, jahrelang mit Hingabe geölt, ließ sich leicht betätigen. Sylvester zielte mit dem Gewehrlauf auf das kleine Sichtfenster, das ihm sein Unterstand bot, und visierte genau den Punkt an, zu dem die Schritte zu führen schienen. Er versuchte verhalten zu atmen, um das Getöse, das das Blut in seinen Ohren erzeugte, zum Verstummen zu bringen und um seine Hand zu stabilisieren.
Er erkannte eine leichte Bewegung durch den Regen, ein Lorbeerzweig erzitterte und Sylvester krümmte seinen Finger am Abzug. Er wusste genau, wie weit er den Abzug drücken konnte, bevor der Hahn auf die Patrone aufschlagen würde, und es fehlte nicht mehr viel. Dann sahen seine Augen etwas Braunes, ein Rotbraun, das sich deutlich von den abgefallenen Blättern und Baumstämmen abhob. Er spannte den Hahn noch ein bisschen weiter.
Noch ein Schritt, zeig mir das weiße Fell deiner Brust und du bist schneller in meiner Gefriertruhe als du denken kannst.
Und plötzlich machte das Tier einen Schritt in die Lichtung. Sylvester überwand gerade den letzten Widerstand des Abzuges, als er sah, dass es kein Rehbock war, der durch das Unterholz brach.
In der gleichen Millisekunde, die Sylvester wie ein paar Minuten vorkam, stieß er mit der linken Hand den Gewehrlauf nach oben, während der Knall des Schusses seine Ohren betäubte. Wie in Zeitlupe konnte Sylvester die Vorgänge um sich herum wahrnehmen: der widerlich scharfe Geruch von Schießpulver; der leichte Schlag des Gewehrkolbens gegen seine Schulter, ähnlich wie der Tritt eines jungen Esels; das plötzliche Verschwinden des Pulvernebels, so als hätte ihn jemand mit einem übergroßen Staubsauger weggesaugt; das singende Geräusch der Kugel, die durch die Baumkronen über ihm pfiff und ein Stück aus dem Himmel schnitt, bevor sie sich ein paar hundert Meter weiter weg in die Bergflanke grub.
Er begann wieder am Haaransatz zu schwitzen, aber diesmal war es Angstschweiß. Beinahe hätte er jemanden erschossen.
Er lehnte seine Waffe gegen seinen Unterstand und schaute auf die Figur, die da zwischen den Bäumen taumelte. Wer auch immer das war, er schien den Schuss gar nicht gehört zu haben. Sylvesters Hände zitterten. Er schaute auf seine Hände, so als ob sie jemandem anderen gehörten.
Er trat aus seinem Versteck hervor und blickte den Felsgrat hinunter. Die Figur stolperte und fiel zu Boden.
Verdammte Scheiße. Ich hab den Hurensohn doch nicht erschossen?
Vor Panik schossen ihm Tränen in die Augen, aber er blinzelte sie schnell weg. Er rannte zu dem auf dem Boden liegenden Fleischhaufen, sprang den Berggrat hinunter und rutschte auf den verrotteten Blättern aus. Er würde in den Knast kommen, soviel war sicher. Er würde nie mehr eine Jagdlizenz bekommen. Vielleicht dürfte er sich nie mehr in der Moose Lodge sehen lassen.
Die zusammengesunkene Form erhob sich langsam, wackelig auf den Beinen, aber zumindest am Leben. »Gelobt sei Gott«, murmelte Sylvester in den nassgrauen Himmel. Ihm war es egal, ob da oben jemand war, der ihn hören würde oder nicht.
Er sah, dass er beinahe einen Mann erschossen hatte, einen kleinen Mann, dessen nasse Haare strähnig herabhingen. Er hatte Sylvester den Rücken zugedreht, aber er kam ihm bekannt vor. Diese eckigen Ohren, die unter einer roten Baseballkappe hervorstanden, ließen keinen Zweifel zu und waren so aussagekräftig wie ein Foto auf einem Personalausweis.
»Ralph«, brüllte Sylvester und hob den Arm, um ihn an der Schulter zu berühren.
Ralph Bumgarner war so dumm wie ein Laternenpfahl, aber selbst er sollte wissen, dass man nicht in einer braunen Raulederjacke im Wald herumstolpert. Noch dazu mit einem weißen Wollkragen. Ist wahrscheinlich so voll wie eine Strandhaubitze.
»Ich hätte dich beinahe erschossen, du Vollidiot«, sagte Sylvester und seine Worte blieben ihm fast im Hals stecken.
Weil sich Ralph jetzt umgedreht hatte.
Weil Ralphs Augen grün leuchteten, so grün wie Zitronenwackelpudding, aber das Grün leuchtete, als ob eine Coleman-Campinglanterne im Inneren seines Schädels brannte.
Weil Ralphs Gesicht aschfahl war, bleich und tot, und das Fleisch seines Gesichts gegen seine Haut drückte wie weißer Schlamm in einem Toppits-Gefrierbeutel.
Weil Ralph nun seine Hände auf Sylvesters Schultern gelegt hatte und ihn zu sich herzog und Sylvesters Beine sich nun auch wie Wackelpudding anfühlten und weil er nicht davonlaufen konnte.
Weil Ralph seinen Mund zu einem feuchten Kuss öffnete und Sylvester wusste, dass da mehr dahintersteckte als homosexuelle Gefühle.
Weil Ralphs Atem, der aus den Untiefen seines schwarzen Rachens zu kommen schien, faul und madig roch und ein Vorzeichen für einen Zungenkuss war, der hundertmal ranziger zu werden versprach, als die Küsse der Huren in Titusville.
Weil Ralphs Zunge jetzt in seinem Hals steckte, glatt und glitschig wie eine Nacktschnecke, aber trotzdem schuppig wie die Haut einer toten Forelle, und weil ein Schwall von kaltem Schleim in Sylvesters Kehle strömte.
Weil dieser Schleim ihn veränderte, seine Zellen teilte und wieder zusammenfügte, ihn auseinander nahm und seinen Stoffwechsel veränderte.
Weil Sylvester das Gefühl hatte, dass er starb und gleichzeitig dachte, dass das einfache Sterben die beste Sache wäre, die ihm jetzt passieren könnte.
Weil er jetzt tot war.
Und bereit auf die Jagd zu gehen.