ERSTES KAPITEL

 

Tamara Leon rannte über den Parkplatz, während der Regen auf ihren Kopf und ihre Schultern niederprasselte.  Sie hatte gerade heute ihren Regenschirm nicht mitgenommen und sie verfluchte ihre eigene Nachlässigkeit. Der grimmige Wind der südlichen Appalachen zerfetzte zwar normalerweise ohnehin den dünnen Stoff von Regenschirmen und verbog ihr Metallgestänge, aber so hätte sie wenigstens einen kleinen Talisman zum Schutz vor den Regengöttern ihr Eigen nennen können.

Schnell steckte sie den Schlüssel in das Türschloss ihres Toyotas, riss die Autotür auf und ließ sich auf den Fahrersitz fallen, während der Regen weiter auf das Autodach trommelte. Tamara schlug die Türe zu und wartete einen Moment, um wieder zu Atem zu kommen. Ihre Ledertasche war mit Wasserflecken übersät.  Sie warf einen prüfenden Blick in den Rückspiegel. Hatte sich die warnende Stimme wieder in ihren Augen versteckt?

Nein, nur Augen.

Mit einem Ärmel ihres Mantels wischte sie energisch ein Sichtfenster in die innen beschlagene Windschutzscheibe. Die ordentlichen, quadratischen und massiven Ziegelgebäude der Westridge University umsäumten den Parkplatz.  Die Uni versprühte den Charme eines rustikalen, pfeifenrauchenden Hausmeisters.  Durch ihre Hallen wehte nicht das leiseste Lüftchen wissenschaftlichen Disputs, außer wenn Tamara eine ihrer spektakulären Psychologietheorien vom Stapel ließ.  Zum Beispiel über die Existenz von übersinnlicher Wahrnehmung.

Sie startete den Motor und drehte die Heizung voll auf, um für die lange Fahrt in die Berge gewappnet zu sein. Es regnete noch immer wie verrückt. Wenigstens schneite es nicht. Denn dann würde aus der halbstündigen Fahrt eine zwei- oder dreistündige Tortur. Tamara rollte aus ihrer Parklücke, während die Scheibenwischer ihres Autos versuchten, der Wassermassen Herr zu werden.

Sie schob eine Kassette in ihr altmodisches Autoradio, Wild Planet von den B-52´s. Sie legte Kilometer für Kilometer zurück und sang laut mit Cindy und Kate mit, während die beiden im Duett vor sich hin kreischten. Wahrscheinlich dachten die anderen Autofahrer, die sie überholten oder ihr entgegenkamen, sie sei betrunken, denn sie hüpfte in ihrem Autositz zur Musik auf und ab und bewegte ihren Kopf rhythmisch hin und her. Aber so versuchte sie nur einen anstrengenden Arbeitstag hinter sich zu bringen.

Diese Zeit gehörte nur ihr alleine. Hier war sie nicht mehr Frau Professor Leon und sie war noch nicht "Mami" oder "Liebling", wie sie in einer halben Stunde genannt werden würde. Und jede Minute, die sie außer Haus verbringen konnte, bedeutete auch eine Verschnaufpause von den zunehmend grausamen Schmähungen, die ihr Robert an den Kopf warf. Sie konnte wenigstens so tun, als ob ihr Zuhause ein glückliches wäre.

Manchmal überkam sie der Gedanke, dass sie ihr ganzes Leben lang nur verschiedene Rollen gespielt hatte. Wildfang, Sportskanone, Abschlussredner an ihrer Universität, Ehefrau, Professor, Mutter, unentdeckte Hintergrundsängerin der B-52´s.  Alles, nur nicht Papas Liebling. Das Einzige, was sie jemals sein wollte, aber nie sein konnte.

Surrend fraßen ihre Reifen Kilometer für Kilometer und schon bald hatte sie den Stadtrand von Windshake erreicht. Sie fuhr an einem weiß getünchten Motel vorbei, das über dem Abgrund einer Klippe thronte. Vor der Rezeption stand ein schwarzer Plastikbär, der seine Pfoten in den Regen streckte. Er trug ein schwarzes T-shirt mit der weißen Aufschrift "Johannes 3:16".  An den meisten Tagen hatte sie von hier einen wunderschönen 180 Grad-Panoramablick auf die untenliegenden Täler.  Aber heute sah sie nur Nebel, der die Berge wie eine graue Wolldecke einhüllte. Sie hatte gerade die Gemeindegrenze überquert, als sich die düstere Stimme in den Tiefen ihres Schädels wieder zu Wort meldete.

Shhhh, sagte sie ganz leise, so als ob sie sie beruhigen wollte. Oder um sie einzulullen und in trügerische Sicherheit zu wiegen. Aber ihr Verteidigungswall gegen die innere Stimme stand felsenfest, wie eine Chinesische Mauer gegen die heranstürmenden mongolischen Horden. Es gab keine innere Stimme. Hatte Robert ihr das nicht schon dutzendfach gesagt, jedes Mal ein bisschen bestimmter und eindringlicher als das Mal zuvor?  Hieß es nicht, dass Menschen mit übersinnlichen Wahrnehmungen verrückt waren?

Sie fuhr an einem Obstverkaufsstand, der unter einem Felsvorsprung kauerte, vorbei. Durch den dünnen Maschendraht, der vor dem Eingang zu dem Obststand gespannt war, drang das letzte Flackern des schwachen Tageslichts und strich über ein Regal mit Honiggläsern, auf denen sich das Licht wie goldgefärbte Augen spiegelte. Tomahawks aus Gummi und burgunderrote Maiskolben hingen von den Dachsparren. Eine lebensgroße Puppe eines typischen Hillbillys einer amerikanischen Kleinstadt, mit einem Maiskolben als Pfeife, die aus dem buschigen schwarzen Bart ragte, saß unter einer Plastikplane in einem Schaukelstuhl und fixierte mit ihrem aufgenähten Gesicht die Landstraße.

Maisbauern und Barn Dance, Kirchenaktivitäten und Strickmuster. Kuhweiden und Maisfelder. Lagerhallen für Burley-Tabak und Läden mit Kunsthandwerk. Windshake war kein amerikanischer Schmelztiegel, sondern eher ein großer, schwarzer Siedekessel, in dem man seine geschlachteten Schweine abbrühte.

Der malerische Charme des Lebens in einem Bergdorf war bereits nach wenigen Monaten verflogen gewesen. Ein ziemlich großer Unterschied zu Chapel Hill. Die Gesellschaft dort hatte internationales Flair und war ein sprudelnder Quell von neuen Ideen. Dort trafen sich die Leute in Kaffeehäusern und Bars um über Sartre und Pollock zu diskutieren, über Camus und Marxismus. Hier tranken die Leute auf dem Parkplatz eines Motels Branntwein aus Plastikbechern und unterhielten sich über Radkappen. Sie war sich nicht sicher, welche Art des Lebens sie für attraktiver halten sollte.

Das leise zischende Geräusch machte sich wieder auf den Weg durch die Windungen ihres Gehirns: Shhhhh.

Nein. Sie hörte keine telepathischen Signale. Ihre innere Stimme sollte schweigen. Denn sie war ja nicht echt, nicht wahr?

Tamara drehte ihr Radio noch ein Stückchen lauter und Fred Schneider fantasierte in seinem amphetamingeschwängerten Sprechgesang  über ein Mädchen vom Planeten Claire. Sie bog in die enge Straße ab, die in ihre Wohngegend führte, eine kleine Ansammlung von Häusern am Fuße eines Berghanges. Je näher sie zur Auffahrt ihres Hauses kam, desto mehr krampfte sich ihr Magen zusammen, so als ob ihr Körper bereits eine neuerliche Auseinandersetzung vorausahnen würde. Wie würde es heute sein, kalte Gleichgültigkeit oder siedend heißer Zorn?

Denk positiv.

Wenigstens hatte Rob hier einen Job und ihre Familie war relativ sicher. Sie konnte sich glücklich schätzen, dass sie die Stelle in Westridge gefunden hatte. Auch wenn sie dafür ihre Stelle als Assistentin an der University of North Carolina aufgegeben hatte, wo sie als Zukunftshoffnung im Institut für Psychologie gegolten hatte.

Denk nicht mehr dran. Robert wollte dort bleiben, wollte, dass du Karriere machst. Das hatte er zumindest gesagt. Wahrscheinlich war dort der erste Riss in ihrer Beziehung entstanden, der kleine Rinnsal, aus dem schließlich ein reißender Fluss geworden war.

Sie hatte lang genug zugesehen, wie sein Gesicht immer länger und älter wurde, als er Tag für Tag erfolglos von der Arbeitssuche nach Hause kam, müde und ausgelaugt davon, Demobänder an die verschiedenen Radiosender in Piedmont zu schicken und die Anrufbeantworter der Programmverantwortlichen vollzusprechen. Verärgert über die Jungspunde, die zwar die neuen Medien beherrschten, dafür aber nicht in der Lage waren, einen talentierten Radiosprecher von einem unfähigen zu unterscheiden.

Als Robert ein Angebot für eine Stelle bekam, hatte sie entschieden, dass es für sein Selbstwertgefühl und ihr gemeinsames Glück besser wäre, wenn sie hierher ziehen würden. Für sie selbst hatte es eine Gehaltseinbuße bedeutet und auch mit Roberts Arbeitslohn stieg das gemeinsame Haushaltseinkommen nur unmerklich an. Das Opfer, das sie erbracht hatte, wurde jedoch mit mürrischem Ressentiment vergolten. Dazu kamen bei ihr Schlafstörungen und dauernde Kopfschmerzen, die ihre Situation auch nicht besser machten.

Und alles nur, weil sie so dumm gewesen war und ihrem Mann die Vermutung, dass sich ihre innere Stimme wieder bei ihr meldete, mitgeteilt hatte.

Die Stimme kam wieder, lauter und diesmal weiter in die Länge gezogen: Shhhhuuu.

So, als ob ihre innere Stimme eine neue Sprache ausprobieren oder eine längst vergessene wieder in Erinnerung rufen wollte. 

Sie bog in ihre Hausauffahrt und versuchte die quälende Stimme in ihrem Kopf aus ihren Gedanken zu verbannen. Denk an was Schönes. Es war ein hübsches Haus aus hell gebeiztem Zedernholz mit Verzierungen aus dem rötlichen Holz des Mammutbaums. Keine Garage, aber sie hatten drei Schlafzimmer und zwei Bäder. Ein ganz normales Haus, in dem man vor dem Bösen sicher war und Ehefrauen nicht verrückt wurden.

Und wir können die Raten bald abzahlen, in … ehm… vielleicht neununddreißig Jahren.

Tamara sah sich plötzlich als siebzigjährige, alte Frau mit einem von der Arbeit und täglichen Anstrengung gekrümmten Rücken. Sie sah sich auf einer karierten Couch liegen und konnte riechen, wie ihr Geruch nach alterndem Fleisch die Luft erfüllte. Robert war weg, vielleicht mit einer anderen Frau verheiratet, die keine Visionen und keine Stimmen in ihrem Kopf hatte. Katzen. Sie würde einen Haufen Katzen brauchen, das passte zum Klischee einer alten, verrückten Witwe.

Sie erschauderte bei dem Gedanken und blickte durch das Fenster in die hell erleuchtete Küche. Ein plötzliches Glücksgefühl durchströmte sie und die Gedanken an das Ende ihrer Existenz fielen von ihr ab wie die Blüten von einem sturmgebeutelten Pfirsichbaum.

Kevin und Ginger saßen am Küchentisch und waren mit ihren Hausaufgaben beschäftigt. Kevin sah mit seiner schmalen Nase, dem gelockten Haar und den flinken, braunen Augen so sehr seinem Vater ähnlich. Ginger hingegen war eine Miniaturausgabe von Tamara. Ginger hatte auch blondes Haar, aber es war ein bisschen rötlicher als das ihrer Mutter. Sie hatte dieselben abstehenden Ohren wie ihre Mutter und ihr glattes Haar war hinter die Ohren gekämmt. Aber so sehr Tamara ihre abstehenden Ohren auch gehasst hatte, so hatten die ihrer Tochter etwas Entzückendes. Tatsächlich vervollständigten sie Gingers breites, ausdrucksstarkes Gesicht. Und ihre Lippen waren voll und rund, genau von der Sorte, für die jeder Mann alles geben würde, nur um sie einmal küssen zu können.

Denk nicht schon wieder an die Zukunft. Besser du genießt, was du hast, denn schon im nächsten Augenblick kann dir alles genommen werden.

So wie ihr der Vater genommen worden war.

Da sie nicht auf ihre innere Stimme gehört hatte.

Denk an was Schönes, verdammt.

Sie hupte, winkte, sprang aus dem Auto und rannte zur Eingangstür, während der Regen in seinem unermüdlichen Rhythmus auf ihren Kopf und ihre Schultern tropfte. Die Kinder erwarteten sie schon im Haus und schlüpften für die erste, stürmische Umarmung unter ihren nassen Mantel.

»Hallo, ihr Süßen«, sagte sie. »Was habt ihr heute in der Schule gelernt?«

Kevin hüpfte aufgeregt auf und ab. »Beim Kickball habe ich heute drei Home-Runs gemacht. Wir mussten in der Turnhalle spielen, weil es so stark geregnet hat, und alles, was ich für einen Home-Run machen musste, war den Ball auf die Zuschauertribüne zu schießen. Mann, heute hab ich ihnen gezeigt, wer der Chef der Klasse ist!«

Kevin hob seine Zeigefinger so, als ob sie zwei Colts wären, tat dann so, als ob er den Rauch von seinen Fingerspitzen wegblasen würde und steckte dann seine imaginären Waffen zurück in ihre Halfter.

»Ah – wow, du Sportskanone.« Tamara streichelte Gingers weiches Haar. »Und wie war´s bei dir, mein Schatz?«

Ginger blickte auf und strahlte ihre Mutter mit ihren grünen Augen an. »Ich habe einen Farbstift gegessen.«

»Ach du meine Güte! Ab mit dir ins Badezimmer und putz dir sofort die Zähne!«

»Es tut mir leid, Mama«, sagte Ginger, aber Tamara wusste, dass es ihr nicht wirklich leid tat. Sie wartete, bis Ginger im Badezimmer verschwunden war, und lachte dann leise über ihre Tochter.

»Hat Papa angerufen?«, fragte sie Kevin.

»Nicht seit wir aus dem Bus gestiegen sind.«

Tamara schaute auf die Uhr. Zwanzig nach fünf. Roberts Schicht endete um zwei, und die Produktion seiner Sendungen dauerte normalerweise höchstens ein paar Stunden. Sie sollte sich aber trotzdem wirklich keine Sorgen machen. Er war ein großer Junge. Er würde schon kommen.

Er würde sie nicht im Stich lassen. Nicht so wie ….

Da war sie wieder, die innere Stimme. Nun, kein Wunder bei diesem grauenhaften Wetter. Und der Gedanke an die Vergangenheit heitert dich kein bisschen auf.

»Liebling, kannst du aus der Waschküche etwas Kleinholz holen?«, fragte sie Kevin. »Ich mache uns ein schönes Feuer im Kamin und dann gibt´s eine heiße Schokolade für alle.«

In Vorfreude auf das süße Getränk jauchzte Kevin auf, sprang auf seine Beine und rutschte in seinen Socken über den Eichenboden.

Tamara stellte den Wasserkessel auf und suchte im Schrank nach den Tassen, als das Flüstern plötzlich wieder da war.

Shu-shaaa.

Geschmeidig wie eine Schlange bohrte sie sich auch in die hinterste ihrer Gehirnwindungen.

»Nein«, sagte sie und schlug die Tür des Küchenschranks zu. Sie hatte absolute nichts gehört. Denn es gab keine innere Stimme.

Besonders diese nicht, die diesen seltsamen Zischlaut von sich gab, der sie wie ein krankheitsgeschwängerter und todesbringender Wind bis auf die Knochen erschaudern ließ.

Als Robert zehn Minuten später in die Hauseinfahrt bog, hatte sie noch immer nicht ihre dunkle Prophezeiung abschütteln können.

Denk an was Schönes. Für die Kinder. Für ihn. Für dich selbst.

»Sieht aus, als hättest du einen anstrengenden Tag gehabt«, sagte sie, als Robert sich mit den Ellbogen zuerst durch die Tür zwängte, auf den Armen Kopien von Radiosendungen, Kassetten und feuchten Umschlägen aus Manilapapier.

»Absolut«, sagte Robert. Er beugte sich vor um sie zu küssen. »Aber die Sonne kommt gerade durch die Wolken hindurch.«

Sie musste also nur positiv denken! »Hmmm. Noch so ein Kuss und ich bekomme einen Sonnenbrand.«

Er zwinkerte. »Später, wenn es dunkel ist.«

»Ist das deine Vorhersage?«

»Nein, Liebling, das ist ein Versprechen!« Er lud seine Arbeitsutensilien auf dem Sofa ab und setzte sich hin. Sofort war er in seiner eigenen Welt und beschäftigte sich intensiv mit einigen Werbeprospekten.

Tamara klopfte auf den Tisch. »Hallo? Fragst du gar nicht, wie mein Tag war?«

»Sicher. Stell dir vor: Für das Blütenfest möchten sie im Baumarkt eine extra Kampagne starten.«  Er summte eine noch nicht ganz ausgereifte Melodie und sagte dann in seiner Radiostimme: »Der Frühling ist da und die Vögel singen, Zeit zum Putzen, Waschen und Besen schwingen. Klingt gut, nicht wahr?«

»Mein Tag war schön. Ich habe bewiesen, dass es keine übersinnlichen Wahrnehmungen gibt.«

»Wie bitte?«

»Mein Mann kann nicht einmal meine Lippen lesen, wie soll er da meine Gedanken lesen können?«

»Entschuldige!« Robert legte seine Blätter zur Seite, ging zu ihr und massierte ihr den Nacken. »Ich hätte Angst davor, deine Gedanken zu lesen. Aber ich kann die Sprache deines Körpers lesen wie ein offenes Buch. Jede einzelne Seite.« Er wanderte mit seinen Händen immer tiefer, musste aber damit aufhören, als Kevin mit einer Ladung Holz ins Zimmer kam.

»Hat sich deine innere Stimme wieder gemeldet?«, flüsterte Robert ihr zu.

Sie blickte ihn nicht an und nickte dann schwach. Dies war einer der wenigen Momente, in denen sie wünschte, lügen zu können. Er nahm seine Hände von ihren Schultern, die Zimmertemperatur fiel augenblicklich um zehn Grad und die Hausarbeit gewann plötzlich an Bedeutung.

Tamara und Kevin nippten an ihrer heißen Schokolade und kümmerten sich um das Feuer, während Robert mit dem Abendbrot begann. Nach dem Essen setzte sich Tamara mit einem Stapel von Aufsätzen ihrer Studenten an den Küchentisch. Aber sie war unkonzentriert und ihr Blick wanderte immer wieder zum Fenster. Die Welt da draußen war rau, grau und hässlich. Der Regen floss in silbernen Bächen die Fensterscheibe hinab. Die Wassermassen wirkten bedrohlich auf Tamara, so als ob sie in das Haus kommen und es sich dort gemütlich machen wollten.

So als ob dünne Finger ans Glas kratzten, kratzten und wieder kratzten und nach einem Sprung in der Scheibe suchten.

Und das Geräusch, das das Wasser machte: shu-shaaa, shu-shaaa.

Sie drehte ihren Stuhl so, dass sie statt dem Fenster die Wand anblickte und nicht mehr an das Wetter dachte. Ein Sturm war in dieser Jahreszeit in Windshake keine Ausnahme, sondern eher die Regel.  Sie versuchte sich einzureden, dass alles in Ordnung war, dass ihre Familie in Sicherheit war. Alle waren geborgen und bald würden sie schlafen gehen.

Glücklich, glücklich, glücklich.

Aber ihre innere Stimme ließ sie nicht los, beschäftigte ihre Gedanken und beunruhigte ihr Herz. Der leise Flüsterton verfolgte sie noch den ganzen Abend und sogar bis in ihren unruhigen Schlaf hinein. Im Bett aber blieb zwischen ihrem Körper und dem ihres Mannes eine meterbreite Schicht aus Eis.

 

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Ralph Bumgarner schwenkte ein Einweckglas in der Hand und hielt es in das Licht der Sonnenstrahlen, die durch die kahlen Äste einiger Eichen brachen. Ralphs Gesicht bestand hauptsächlich aus Ohren, Zähnen und einer großen Nase. Sein Kopf schien vor allem dafür da zu sein, eine Baseballkappe, auf der ein Schriftzug des Kautabakherstellers Red Man prangte, zu tragen. Wie ein Wissenschaftler, der ein Reagenzglas betrachtet, kniff er die Augen zu und schwenkte das Einweckglas nochmals hin und her. Bläschen stiegen im Glas empor und blieben an der Oberfläche der Flüssigkeit stehen.

»Froschaugen, so wie immer«, sagte Don Oscar Moody. »Und wenn du es anzündest, brennt es mit einer blauen Flamme. Das sind die besten Qualitätsmerkmale.«

»Man kann heutzutage nicht vorsichtig genug sein. Versteh mich richtig, es ist nicht persönlich gemeint. Immerhin kaufe ich schon seit sechs Jahren bei dir. Aber jeder macht mal einen Fehler.«

»Bei mir ist Qualität eine Frage der Ehre.« Don Oscar tippte sich zweimal mit seinem Zeigefinger auf den Brustkorb. Seine Freunde sagten ihm, dass er wie Mister Magoo aussehe, weil er einen kugelrunden Kahlkopf und eine Knollennase hatte. Was sollte ihn da stören, dass die fein verzweigten Äderchen seinem Gesicht vom ewigen Kosten seines eigenen Produkts eine rötliche Färbung verliehen? Er hatte sich ohnehin nie um sein Aussehen gekümmert und was Ralph betraf, so schlug er ihn in diesem Punkt immer noch um Längen. »Schon seit Generation ist meine Familie in diesem Geschäft.«

»Und ihr könnt stolz darauf sein«, sagte Ralph und schwenkte das Glas noch einmal. »Aber man hört so Geschichten. Dass man blind davon werden kann oder so.«

Don Oscar stampfte mit seinem Gummistiefel auf den Erdboden. In der Not schmeckt jedes Brot. »Also, dann komm her und pass mal auf«, sagte er und packte Ralph an der Schulter.

Er führte Ralph in sein Gartenhäuschen. Der steinerne Sockel des Hauses war dicht mit grünem Moos bewachsen, die Nut und Feder-Bretter der Seitenwände waren von der Holzfäule bereits schwarz. Die zwei Männer blinzelten, als sich ihre Augen an das schwache Licht gewöhnten, das durch die Türöffnung drang. Der süße Geruch von gärender Getreidemaische erfüllte den Raum.

Das Gartenhaus war an einer Seite in den Hügel hinein gebaut worden. Ein steinernes Wasserbecken befand sich etwas über dem Häuschen am Rande des Hügels und über eine hölzerne Rinne, von der immer wieder feine Tropfen auf den Boden fielen, wurde Wasser in den Raum geleitet. Der erdige Boden, vom tropfenden Wasser aufgeweicht, war ein Sumpf voller Stiefelabdrücke. Eine Reihe von hölzernen Fässern war an einer Seite des Gartenhäuschens aufgestellt.

In der Mitte des Raumes stand ein großer Apparat, der wie eine Kreuzung von einer zerlegten Waschmaschine und einem UFO aussah und aus dessen Metallkörper gewundene Rohre wie heiße Kupferwürme herausragten. Die Rohre schlängelten sich den Raum entlang und am Ende des Rohrs tropfte eine klare Flüssigkeit in eine Glasflasche auf der anderen Seite des Raumes.  Ein Feuer flackerte unter dem Gestell und warf Schatten an die Wände. Das Ende des Rohrs rülpste heißen Dampf aus.

»Was für eine Schönheit,« sagte Don Oscar, und dabei strahlte er wie ein stolzer Vater, dessen Sohn soeben zum Präsidenten gewählt worden war. »Und alles ohne auch nur ein Gramm Blei.«

Was nicht der Wahrheit entsprach. Die Rohrverbindungen waren mit Blei verschweißt. Aber im Vergleich zu dem Gift, das viele seiner Konkurrenten, die Autokühler als Kondensatoren verwendeten, zusammenpanschten, verdiente sich Don Oscar geradezu eine Anerkennungsmedaille der Lebensmittelaufsichtsbehörde.

Don Oscar deutete auf die schwarzen Ecken an der Decke des Gartenhäuschens. »Und hier ist meine jüngste Erfindung. Hab´ das Ofenrohr in vier Teile geteilt – so verteilt sich der Rauch gleich besser. Jetzt macht die Behörde ja schon mit Helikopter Jagd auf uns. Zwei der Rohre verlaufen zwanzig Meter unter der Erde und kommen unter dem Lavendelgebüsch heraus. Es ist zwar eine Scheißarbeit, alle paar Monate den Ruß aus den Rohren zu putzen, aber der Rauch wird mich so nie verraten.«

Ralph nickte voller Bewunderung, während sich seine abstehenden Ohren leicht im Wind bewegten.  »Das FBI sucht hier vor allem nach Marihuana, jetzt wo die Hippies endlich kapiert haben, dass sie die Scheiße auch hier in der Wildnis anbauen können.«

Don Oscar zuckte bei der Erwähnung seiner etwas anderen Konkurrenz merklich zusammen. »Ich hab das Zeug einmal probiert und sogar daran gedacht, auch in das Geschäft einzusteigen. Hab´ gehört, dass man nicht schlecht dabei verdienen kann. Aber wer will schon mit ein paar stinkenden Hippies Geschäfte machen?«

»Nun, man sagt, dass man manchmal mit der Zeit gehen muss.«

Ralph fuhr mit seiner Zunge über seine Hasenzähne. Seine kleinen Augen funkelten in der Dunkelheit. »Aber ich selbst glaube ja eher an die Tradition.«

»Du sagst es, alter Knabe.« Don Oscar nahm ein Einweckglas von einem Regal, das unter dem vernagelten Fenster verlief. Ralph konnte seine Verzweiflung kaum verbergen, als Don Oscar den Schraubverschluss fest verschloss.

»Ich zeig dir was«, sagte Don Oscar. Ralphs Gesicht sackte vor Enttäuschung in sich zusammen. Don Oscar führte ihn zu einem der Fässer. In diesem Moment rollte ein leises Donnergrollen durch die Berge und ließ die Wände des Gartenhäuschens erzittern.

»Zieht wohl ein Gewitter auf«, sagte Ralph. »Und ich bin zu Fuß da.«

»Das war kein Donner. Die Kerle sprengen schon wieder am Sugarfoot. Wenn die so weiter machen, sprengen sie den ganzen Berg noch zu Schotter.«

Don Oscar hob den Sperrholzdeckel von einem der Fässer, ließ ihn dann aber schnell wieder zufallen. Ein widerlicher Gestank erfüllte die Luft.

DAS sollte Ralph besser nicht sehen, dachte Don Oscar. Verdammtes Opossum, das hier hereingekrochen und dann natürlich krepiert ist. Der Gestank wird schon vergehen. Wenigstens ist es glücklich gestorben.

Er ging zum nächsten Fass, nahm den Deckel herunter und ging dann zur Seite, damit Ralph besser sehen konnte.

»Schaut aus wie zähes Teer oder flüssige Kuhscheiße«, sagte Ralph.

»Das ist erstklassige Stammwürze, mein Freund. Daraus wird dann das Wässerchen destilliert, das dir so große Freude bereitet.«

»Und warum zeigst du mir die Scheiße?«, fragte Ralph, verzog sein Rattengesicht und trat einen Schritt zurück.

»Damit du das Endprodukt so richtig schätzen kannst. Und nicht wegen des Preises herummeckerst. Wenn du nämlich wirklich einen Rausch willst – und ich rede nicht von einem leichten Rausch, sondern so, dass du wie ein Stein daliegst und weder Arme noch Beine bewegen kannst – dann tauch dein Glas da hinein und nimm einen kräftigen Schluck.«

Ralph näherte sich zögerlich und blickte in die Finsternis der gärenden Maische, als ob er aus deren Oberfläche seine Zukunft herauslesen wollte.

»Das ist eine eigene Wissenschaft, weißt du?«, sagte Don Oscar, vom Probieren gesprächig geworden. »Vergäre Zucker zu Ethanol, destilliere es um es zu reinigen und erhitze es langsam, denn sonst wird es zu wässrig. Ja, ich könnte wirklich ein Buch darüber schreiben.«

Man merkte Ralph an, dass er sich einen Scheißdreck dafür interessierte, wie aus Getreide Alkohol gemacht wurde. Vielmehr sorgte er sich um das Wann. Ein erster leichter Schüttelfrost ließ seinen Körper erbeben und aus jeder einzelner Pore seiner teigigen Haut drangen kleine Schweißperlen.  Er brauchte jetzt dringend einen Drink oder er würde hier direkt auf dem Lehmboden des Gartenhäuschens ins Delirium tremens fallen.

Aber wenn du auf Pump kaufst, besonders wenn du nicht weißt, ob du jemals bezahlen können wirst, dann ist es besser das Maul zu halten und höflich im richtigen Moment zu nicken. Sonst muss ich hier noch länger rumstehen. Das ist ja verdammt lustig – rumstehen, haha, ich will lieber Rum trinken.

Ralph zeigte mit seinem Finger auf etwas im Inneren des Fasses. Es sah aus wie ein farbloser, pulveriger Faden, der sich wurzelförmig bis in das Fass hinein ausbreitete. »Was zur Hölle ist denn das?«

Don Oscar beugte sich über den Rand des Fasses, um besser sehen zu können. »Irgendein Pilz oder eine trockene Flechte, würd´ ich sagen. Ist aber weiter nicht schlimm. Der Alkohol tötet alle Keime ab.«

»Eine trockene Flechte bei der Feuchtigkeit hier drinnen?«

Don Oscar griff in das Fass hinein und berührte das herabhängende Etwas. Es fühlte sich schwammig an und zerbröselte leicht. Don Oscar rieb seine Finger aneinander und verteilte so grüne und weiße Staubpartikel auf die Maische im Fass.

»Riecht komisch«, sagte Don Oscar und roch an seinen Fingern wie ein Sommelier, der einen edlen Wein prüft.

»Wie dem auch sei, Alter. Krieg ich jetzt meinen Krug? Du weißt ja, sonst fang ich noch mehr zum Zittern an.«

Don Oscar wusste genau, wie das war, wenn Ralph kurz vor dem Zusammenbrechen war. Genau deshalb ließ er ja Ralph so lange warten. Hier, wo sich Fuchs und Hase gute Nacht sagen, gab es ja sonst keine Abwechslung. »Wann kannst du zahlen?«

Ralphs Augen wurden kohlrabenschwarz. »Ich krieg´ meine Invaliditätsrente am Ersten, wie immer.«

»Und wer sagt mir, dass du nicht schon in der Moose Lodge alles für Bier ausgeben wirst, bevor du mich bezahlst?« Don Oscar rieb seine Finger an seinem Flannelhemd. Der Schimmel - oder was auch immer es war - ließ seine Finger jucken.

»Ich versprech´s, Don Oscar.«

Don Oscar schmunzelte im Geheimen. Es war ihm ziemlich egal, ob Ralph zahlte oder nicht. Sein kleines Unternehmen stand auf sicheren Beinen, er hatte kaum Unkosten und sein Gewinn war noch dazu steuerfrei. Ein bisschen Großzügigkeit hier in den Bergen konnte er sich schon leisten. »Hier, für dich, Ralphie.«

Ralph nahm Don Oscars Hand, öffneten die Finger des Schwarzbrenners, der den Krug noch festhielt, drückte das Gefäß an seine Brust und rannte zur Türe, wobei er fast auf dem rutschigen Boden zu Fall kam.

Wie ein Eichhörnchen, das sich eine Eichel schnappt. Don Oscar sah vom Gartenhäuschen aus zu, wie sich Ralph kurz mit dem Deckel plagte und dann den Krug gierig an seinen Mund führte. Ralphs Red Man-Kappe rutschte fast von seinem Kopf, aber der Klettverschluss blieb an seinem Kragen hängen. Der Schirm seiner Baseballkappe zeigte schief zu den Baumwipfeln. Wegen seiner Gier lief etwas von dem Schnaps sein stoppeliges Kinn hinab und hinterließ nasse Flecken auf seinem Hemd.

Mit dem Ärmel seines Hemdes wischte sich Ralph über den Mund und steuerte auf den Wald zu. Ralph verschwand zwischen den fahlen Bäumchen und den grau gesprenkelten Baumstümpfen der Eichen. Don Oscar hörte noch ein Weilchen wie Ralph durch das trockene Laub stapfte, dann wurden seine Geräusche leiser und vermischten sich schließlich ganz mit dem Trillern der Zaunkönige und dem Schnattern der Eichhörnchen.

Don Oscar überprüfte die Druckanzeige an seinem Destillierapparat und gab noch ein bisschen Brennholz in das Feuer. Das würde für den ganzen Abend reichen. Seine ganze Hand juckte wie verrückt und er fühlte, wie sich heftige Kopfschmerzen wie ein schweres Gewitter ankündigten. Vielleicht sollte er besser nach Hause gehen und sich ein wenig hinlegen. Genevieve sollte ihm einen Teller heißer Suppe machen und ein Aspirin gegen die Kopfschmerzen geben.

Er schloss die Tür zu seinem Gartenhäuschen und sperrte sie ab. Dann ging er den Pfad zu seinem Haus. Auf halbem Weg fühlte sich sein Kopf so an, als wäre er in einen Schraubstock gespannt, und es kam ihm so vor, als ob er Halluzinationen hätte. Die Bäume waren viel zu grün und die spärliche Vegetation des Frühlings flimmerte, obwohl gar kein Wind ging. Vielleicht war ja sein letzter Brand ein bisschen zu stark geraten.

 

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Genevieve Moody blickte von ihrer Arbeit an einer Steppdecke auf und schaute aus dem Fenster, um zu sehen, ob ihr Mann schon von seinen Geschäften zurückkam. Sie vertraute Ralph Bumgarner überhaupt nicht. Aber Donnie passte schon auf sich auf. Das war schon immer so gewesen und er hatte schon mit ganz anderen Typen als Ralph Geschäfte gemacht.

Es waren die letzten Wintertage, die Bäume waren noch kahl und von Blüten war noch kaum etwas zu sehen, aber der Geruch nach frischem Kiefernharz kam durch ihre geöffnete Türe. Die Bäume würden jeden Moment ausschlagen und die kleinen schwarzen Wolken am Himmel kündigten den nächsten Sturm an. Es war Gott, der Seine Gießkanne über die Erde schwenkte, um sie für den kommenden Frühling vorzubereiten.

Die letzte Masche ist ein bisschen zu locker geraten, aber es ist ja eine Steppdecke. Schließlich sind es ja die Falten und die losen Fäden und was weiß ich, die eine normale Decke erst zu einer Steppdecke machen. Und so merkt man erst, dass es echte Handarbeit ist, und das verkauft sich im Handwerksladen besonders gut.

Vielleicht würde sie diese Steppdecke verschenken anstatt sie zu verkaufen. An Eula Mae oder an eines der Mull Kinder, die hatten weiß Gott jede Hilfe nötig, die sie kriegen konnten. Und sie brauchte ja das Geld nicht wirklich, solange Donnie mit seinen Geschäften so erfolgreich war.

He, Fräulein Nadel, musst mir ja nicht so in meine Finger stechen. Könnte man ja glatt denken, dass du von meinem Blut lebst, so wie du tust.

Sie konnte Donnie noch nicht sehen. Vielleicht war ja Ralph auf ein schnelles Geschäft aus oder hatte irgendeinen Kuhhandel vorgeschlagen. Ralph hatte große Ohren und hier in den Bergen sagte man, dass das ein Zeichen für einen guten und ausdauernden Liebhaber war, aber sie wusste nicht, wie jemals eine Frau hier die Probe aufs Exempel machen könnte. An Abenden wie diesen bereute sie es, dass Donnie ein Schwarzbrenner war. Wegen der Leute, die dann zu ihm kamen.

Aber sie musste zugeben, dass sie es genoss, einkaufen zu gehen, mit dem neuen Jeep zu fahren und dass sie nicht Stangenbohnen und Kürbisse anpflanzen musste wie ihre Schwestern. Donnie hatte ihr sogar für den Sommer eine Satellitenschüssel versprochen.  Und er war richtig stolz auf seine Arbeit.

Er nannte es »Familienbetrieb« und seine Wangen glühten, wenn er davon sprach, und er sah nett aus, wenn er lächelte.

Nun, nichts geht über Familie und ich werde zu meinem Mann stehen, da komme was wolle.

Vielleicht fiel der Apfel nicht weit vom Stamm und vielleicht muss man ja in den sauren Apfel beißen und vielleicht hat ja auch der schönste Apfel einen Wurm, aber eines musste man ihm lassen, Donnie hat noch nie die Hand gegen sie erhoben. Und sie wusste mit absoluter Sicherheit, dass das keine ihrer Schwestern über ihre nichtsnutzigen Männer sagen konnte.

Und Donnie wurde respektiert. Seine Kunden kamen aus allen Gesellschaftsschichten, nicht nur solche heruntergekommene Typen wie Ralph und seinesgleichen.  Polizeichef Crosley hielt seinen Mund und sagte für eine monatliche Ration nichts und Chester Mull war auch so regelmäßig da, dass man seine Uhr nach ihm stellen konnte. Die Hälfte der Kunden der Moose Lodge kamen vorbei.  Sogar einige der Snobs vom Lion´s Club erfreuten sich an dem illegalen Vergnügen. Und der alte Priester, nicht Blevins, sondern der eine vor ihm, Hardwick, war jeden Montag vorbeigekommen, egal ob es regnete oder die Sonne schien.

Sie hatte Zeit für ihre eigenen Hobbys und als sie einen Webstuhl wollte, war Donnie sofort losgerannt und hatte ihr ohne mit der Wimper zu zucken einen gekauft. Zweitausend Dollar, einfach so.  Jetzt stand er da in einer Ecke, die Fäden hingen wie staubige Spinnweben herab, aber Donnie hatte kein einziges Wort darüber verloren, dass sie ihn nicht mehr benützte. Sie warf noch einen Blick auf den Himmel, der inzwischen so schwarz war wie ein Schwarm Fliegen auf einem Stück Zuckerglasur.

Kein Donnie.

Ihre Gedanken wanderten von der Steppdecke auf ihrem Schoß in die Küche.  Sie war voll mit Kochbüchern, Rezepten und Emailgeschirr, das Donnie ihr gekauft hatte, sodass sie endlich den  Kochwettbewerb beim Blütenfest gewinnen würde. Er hatte ihr sogar eine nagelneue Küchenmaschine gekauft.

»Es ist eine eigene Wissenschaft«, hatte er ihr gesagt. »Nicht Glück oder alte Bergweisheiten, sonst würde Elvira Oswig nicht Jahr für Jahr das blaue Band des Siegers gewinnen. Sie hat den Bogen raus, das ist alles.«

Das Blütenfest war schon am kommenden Wochenende und mit ihrem neuesten Rezept würde sie dieses Jahr gewinnen. Donnie hatte gesagt, dass dieses Jahr kein Juror auf Erden die Einsendung von Genevieve Moody übergehen könne.

Und da kam er auch schon daher, er taumelte den Weg entlang, als ob er ein bisschen zuviel probiert hätte. Seinen Kopf hielt er schief, als ob er ein Eimer mit einem Loch wäre, aus dem Wasser tropfte.

Ach Gott, altes Mädchen, steh auf und hilf ihm aufs Sofa. Du weißt schon, er arbeitet hart für dich und erwartet nicht einmal ein kleines Dankeschön, nur hie und da ein paar Anzüglichkeiten, aber das taten ja ALLE. Und außerdem, das dauert ja nicht lange und wenn es Donnie nach Hause bringt, dann bin ich auch gerne bereit dazu.

Sie legte ihre Nadel und die Stoffreste zur Seite. Ihr Mann stolperte die Treppen herauf und zog seine Füße so über den Boden, als wären seine Stiefel voller Schlamm.

»Hallo Liebling, geht´s dir auch gut?«, fragte sie und strich mit der Hand ein paar Fäden von ihrem Schoß.

Um die Wahrheit zu sagen, er sah aus wie ein Stück Scheiße und nickte, was aber nichts zu sagen hatte, da er nichts mehr hasste als sich zu beklagen. Er schlang seine Arme um sie, aber seine Augen waren nur halb geöffnet und das Weiße in seinen Augen wirkte bedrohlich.

»Moment, vielleicht sollte ich dich besser ins Bett bringen, Donnie.«

Er lehnte sich mit seinem ganzen Gewicht auf sie, so als ob er etwas Unanständiges mit ihr vorhatte, aber es war ja erst Nachmittag und sie hatten es seit ihrer ersten Zeit zusammen nicht mehr bei Tageslicht getan. Außerdem roch sein Atem wie ein Fass voll mit verfaultem Sauerkraut.

»Hast du Fieber?«, fragte sie. »Ich glaub´, du hast einen Anfall, irgendwas ist dir nicht bekommen.« 

Warum schaute er sie nicht an?

»Liebling?«

Sie versuchte zurückzuweichen, aber seine Arme packten sie fester und sein Gesicht kam immer näher. Die Ränder seiner Augen waren geschwollen und grünlich, wie die Farbe von verfaulten Wassermelonen.

»Sag doch was«, bat sie. »Und versuch mich nicht zu küssen, dein Atem stinkt ja so, als würde ein Stinktier in deinem Mund wohnen und...«

Plötzlich merkte sie, dass noch etwas nicht stimmte, außer dem Gestank aus seinem Mund und den seltsamen Augen. Aus seinem Mund, der auf dem ihren lag, kam kein Atem.

Oh Gott, da stimmt etwas nicht und du musst weg von hier, weil er nicht atmet und warum kannst du deine Beine nicht bewegen und er will dich noch immer küssen und seine Zunge fühlt sich an wie eine kalte schleimige Schlangenhaut und was steckt er dir da in den Mund, das ist so schlüpfrig und oh Gott jetzt kannst du auch nicht mehr atmen und das ist nicht wahr aber du kannst nicht atmen so viel ist sicher und irgendetwas stimmt mit deinen Knochen nicht und auch nicht mit deinen Eingeweiden und oh Gott, lass bitte meine Lungen arbeiten, so muss es sein wenn man stirbt aber warum tut es so weh und jetzt wirst du das blaue Siegerband nie gewinnen und wir sind alle aus Sauerkraut und was ist das shhhh oh guter Gott ich kann mein Herz nicht mehr schlagen hören und die ganze Welt ist grün und weiß und grün und weiß so muss es sein wenn dein ganzes Leben vor deinen Augen vorbeizieht vor deinen Augen deinen Augen deinen Augen deinen