SECHZEHNTES KAPITEL

 

Zum Teufel fahren.

Wie sonst konnte man es nennen, wenn das Auto fast von selbst fuhr, wenn der Weg bereits vorbestimmt war, wenn der Teufel selbst dich in die Richtung eines unbekannten Zieles zu ziehen schien?

Nein. Tamara war nicht dabei verrückt zu werden. Entweder sie war schon dort oder Meilen davon entfernt und noch nie gesünder gewesen als jetzt gerade. Das grüne Licht auf der Bergkuppe über ihr wurde immer stärker und obwohl es manchmal wegen der engen Kurven aus ihrem Sichtfeld verschwand, war das elektrische Pulsieren in ihrem Kopf stets präsent und wurde mit jedem ihrer Herzschläge intensiver.

Sie hatte eine Jackson Browne-Kassette in ihr Autoradio geschoben, so als ob die sinnentleerten melancholischen Klänge die richtige Musik für ihre ungewollte Mission wären.  Je höher sie sich auf der schlechten und zerklüfteten Straße hinaufbewegte, desto dunkler wurde der Wald, der alle Schatten schluckte. Die Häuser, die entlang ihres Weges hie und da in kleine Mulden geduckt waren, waren immer weniger geworden. Es waren graue, von den Jahren verwitterte Gebäude, von Weiden umgeben, die von kränklich aussehendem Vieh abgefressen waren.

Tamara schaltete wieder hinunter und nahm eine besonders enge Kehre. Auf einmal konnte sie unter sich Windshake sehen, Quadrate aus Ziegel und Holz, einige hatten bereits die Lichter eingeschaltet. Die unebene Straße führte von der Stadt weg wie ein schwarzer Fluss. Jackson sang gerade etwas über seine Fehler und Missgeschicke, denen er sich nicht stellen wollte oder konnte. Dann war sie wieder zwischen den Bäumen und die Stimme ließ nicht locker und schickte elektrische Impulse durch ihre Wirbelsäule.

Shu-shaaa tah-mah-raaa.

Die Stimme war da, schwebte, drang in sie, überschwemmte sie. Wenn sie nicht der Stimme folgte, dann würde sie zu ihr kommen oder sie würden mit voller Wucht aufeinander prallen. Dieser Teil war nicht in ihrem Traum vorgekommen. Oder vielleicht war das ja ein Tagtraum, einer, bei dem ihr eigenes Leben im Mittelpunkt stand, nicht das Leben ihres Vaters oder das ihrer Kinder. Dies war der Wald in der Nacht, die Eichen erschienen surreal, die Pinien schwenkten ihre Äste, die Färbung der Blätter wirkte irgendwie unecht, so als ob man sie durch ein verschwommenes Kaleidoskop betrachten würde.

Sie nahm eine weitere Kehre und rutschte mit ihrem Auto über die feuchten Steine, dort, wo Quellwasser in einem Rinnsal über die durchweichte Straße floss. Die Reifen drehten sich durch und fanden nach ein paar Sekunden wieder Haftung, aber als sie das Lenkrad wieder geraderichtete um den Berg weiter hinauf zu klettern, rutschte die Böschung auf der einen Straßenseite ab und eine knorrige Eiche fiel fast auf den Toyota.

Sie verriss den Wagen, aber die dicken Äste des Baumes trafen die Seite ihres Autos und zerschmetterten dabei die Windschutzscheibe. Das Gewicht des Baumes drückte den Toyota in den Straßengraben. Das Auto setzte mit dem Unterboden auf und blieb auf der Straße liegen, mit dem linken Vorderrad in der Luft. Tamara schaltete das Allradgetriebe ein, aber der Schlamm und der feste Zugriff der Äste und die Ölwanne, die sich in die Erde gegraben hatte, verhinderten, dass der Toyota mehr machte, als sich an Ort und Stelle hin und her zu bewegen.

Nachdem sie eine Minute lang den Motor vergeblich hatte aufheulen lassen, versuchte Tamara die Türe zu öffnen. Sie wurde durch einen zerbrochenen Ast, der so dick war wie ihr Arm, zugehalten und das Gewicht der Blätter drückte zusätzlich gegen das Glas.  Aus der Nähe sahen die Blätter so aus, als hätten sie verkrümmte blaue Venen, die wie Krampfadern eines alten Menschen aussahen.

Sie kletterte auf den Beifahrersitz, öffnete die Türe und zwängte sich ins Freie.  Sie stand da und schaute auf die Eiche, ihre graue Rinde und ihre dunklen Astlöcher, die wie neugierige Augen ausschauten. Die freigelegten Wurzeln, aus der Erde herausgerissen, zitterten wie weiße Würme.

Nein. Der Baum lebt nicht, nicht in DEM Sinn des Wortes.

Sie schaute an der umgefallenen Eiche vorbei auf den Wald, der hie und da mit weißen Granitblöcken durchsetzt war. Andere Bäume lagen auf dem Boden oder waren in der Mitte durchgebrochen. Die kaputten Bäume bildeten fast eine perfekte Gerade, die den Berg hinauf führte.  Die Schneise der Verwüstung führte in die Richtung des Leuchtens und sie konnte ein schwaches Glimmern zwischen den Bäumen ausmachen.

Tamara spürte eine Veränderung in der Luft, so als ob ein Sturm aufziehen würde, aber die Wolken waren dünn und durch die untergehende Sonne rötlich gefärbt. Dieses Ding, die Quelle, dieses Shu-shaaa hatte sie hierher gebracht, aber jetzt war sie alleine. Nun hatte sich das Blatt gewendet und die seltsame Kraft, die im Berg wohnte, hatte den Vorteil eindeutig auf ihrer Seite. Die Luft war wie statisch geladen und der Märzwind unheilschwanger.

Sie hätte nach Hause fahren sollen. Robert würde mit Milch und Keksen für sich und die Kinder am Küchentisch sitzen und sich über die weit fortgeschrittenen Zeiger ihrer hölzernen Kuckucksuhr ärgern. Spätestens bei den Sechs-Uhr-Nachrichten würde sich sein Gesicht vor Ärger verziehen.  Er würde versuchen, nach außen hin ruhig zu erscheinen und den Kindern versichern, dass ihre Mutter wahrscheinlich nur eine Pizza fürs Abendessen holen war. Obwohl das gar nicht ihrem Naturell entsprach, einfach so ohne Nachricht abzuhauen und kein Handy mitzuhaben.

Sie blickte auf die Schatten des Waldes, die immer länger wurden. Kleine Tiere zwitscherten in den Ästen und die Bäume schienen vor Schmerz zu ächzen. Rote Knospen und hellgrüne Zweige streckten sich in schmerzvoller Geburt der untergehenden Sonne entgegen. Bäume brüllten in den Himmel, so als würden sie am lebendigen Leib verbrennen. Sogar der lehmige Boden schrie unter der festen Umklammerung der Wurzeln auf.

Der BERG -

spricht -

nicht -

mit MIR.

Tamara presste ihre Hände auf die Ohren, um so den Ruf der Wildnis abzublocken. Aber die Stimme war schon in ihr, umkreiste ihren Verstand und spann ein feinfaseriges Netz in ihrer Psyche. Sie lehnte sich gegen ihren Toyota. Helle Punkte tanzten hinter ihren geschlossenen Augenlidern. Die Stimme in ihr hatte sich mit dem Chor des brüllenden Waldes in perfekter Harmonie vereint.

Sie fiel auf dem von Unkraut überwuchertem Straßenrand auf die Knie. Wegen dem Ächzen der knöcherigen Äste, dem Heulen der Büsche, dem Glucksen des Baches und dem Wehen des Farns hörte sie die sich nähernden Schritte, die sich durch das Laub pflügten, nicht. Aber sie musste sie gar nicht hören, denn sie konnte sie fühlen.

Sie blickte auf, nur um über sich einen Teenager zu sehen. Er hatte schwarze Haare, eine Jacke der Chicago Bulls und einen starken Kiefer, ein typischer Teenager, der hier plötzlich aus dem Nichts aufgetaucht war – normal, alltäglich, jedoch völlig unnatürlich, denn sein Fleisch war aufgedunsen und feucht.  In seinen Augen, die grün und leer glitzerten, blitze eine Drohung auf. In seinem fröhlichen Grinsen, das seine verfaulten Zähne offenbarte, konnte sie Zärtlichkeit herauslesen. Und jetzt befummelte er sie mit metallenen Händen.

Er war ein Teil der inneren Stimme, ein Teil von dem, was an ihrem Verstand genagt hatte. Und jetzt war sie in seinem Gehirn, nur dass sein Gehirn aus Matsch und Schleim war. Ein Name, ja, "Shu-shaaa" war sein Name und dazu auch noch "Wade". Aber das ergab keinen Sinn. Im Moment machte ja überhaupt nichts mehr Sinn. Kein Sinn, nur mehr Sinneswahrnehmungen.

Und sie hatte den Eindruck, dass es besser wäre, aus seiner Reichweite zu verschwinden, denn er war dabei, ein Angebot zu machen. Ein Opfer. Sie sollte das Opfer sein.

Dann war seine Hand plötzlich auf ihrer Schulter, zerrte am Stoff ihrer Bluse, striff ihren BH-Träger von der Schulter und entblößte sie so im untergehenden Sonnenlicht. Er zog sie zu sich und sein Atem war wie ein tödlicher Nebel, der von den hölzernen Leichen der umgefallenen Bäume aufstieg. Und sie spürte unter seinen Fingern die Mutter-Kreatur hinter ihm und in ihm. Sie fühlte den Hunger, seinen Instinkt, sein Verlangen, sie zu besitzen.

Sie sah, die Vision, die er in dem heißen Samen seines Herzen trug: Das große Shu-shaaa wiedervereint, das helle Feuerrad der Galaxien, das in sich selbst zurückkehrte, die Heimkehr der nebeligen Wolken des Universums, Materie, die verspeist und als schwarze Materie wieder ausgeschieden wird, das Universum, das seinen eigenen Schwanz zu verspeisen beginnt. 

Dann, nachdem die Zeiger der Zeit wieder zurückgedreht, der Sand wieder in den oberen Teil der Sanduhr gestopft sein würde, nachdem Geschichte ausgelöscht und vernichtet worden wäre, würde nur ein ruhiges, schwarzes Nichts bleiben. Der schreckliche ewige Frieden eines kollabierten Kosmos, ohne ein einziges Fünkchen Licht oder irgendeine Form von Leben. Sie konnte die Zukunft deutlich sehen.

Die Vision war durch die kurze Berührung hervorgerufen worden. Aber jetzt hatte er die Hand zurückgezogen und der körperliche Kontakt brannte nicht mehr auf ihrer Haut, denn sie hatte sich auf den Rücken fallen lassen und trat mit beiden Füßen nach dem Teenager. Sein Fleisch gab wie ein überreifer Pfirsich nach.

Die anfänglich überwältigende Kraft der übersinnlichen Invasion war gewichen. Die Eindrücke einer galaktischen Antiklimax wirbelten noch immer durch Tamaras Kopf, aber sie hatte diese bereits zur Seite geschoben, für eine spätere Analyse gespeichert. Zuerst musste sie das hier überleben.

Der Junge taumelte zurück, aber kam wie eine zugedröhnte Schnecke wieder näher. Der Junge pochte am ganzen Körper, pulsierte vor feuchter Vorfreude, dampfte wie eine Orchidee im Gewächshaus. Instinktiv wusste Tamara, dass er sie vergewaltigen wollte. Nicht nur eine Vergewaltigung ihres Fleisches und ihrer Körperöffnungen, sondern eine Verletzung ihres Inneren. Ihres menschlichen Seins, ihrer Körperflüssigkeiten, Zellen, Neuronen und Synapsen, ihres Blutes, Speichels und Schweißes. Ihrer Seele.

Sie rollte sich zur Seite, sprang auf die Füße und griff nach der Autotür. Ihre Fingernägel kratzten über das Blech der Karosserie, bis sie die Türschnalle gefunden hatte. Dann tauchte sie in das Innere des Autos und schlug ihr Knie hart an den Schaltknüppel, als sie auf den Beifahrersitz krabbelte. Gerade als der Junge in den Toyota zu greifen versuchte, schlug sie die Türe mit aller Wucht zu.

Tamara hörte ein Geräusch wie das Brechen von grünen Bohnen, als die Türe zuflog. In den grün leuchtenden Augen des Jungen war keine Überraschung zu lesen, als seine abgetrennten Finger in ihren Schoß fielen. Kreischend beförderte sie die Finger auf den Autoboden. Aus den Wunden tröpfelte eine milchige Flüssigkeit. Obwohl sie vom Rest des Körpers abgetrennt waren, bewegten sich die Finger weiter, als ob sie blind und taub noch weiter etwas suchen würden.

Dann erschien das Gesicht des Teenagers auf einmal auf der Windschutzscheibe und er presste seine sumpfigen Lippen in einem kalten Kuss auf das Glas. Die Augen glühten vor Verlangen als schlammige Handflächen suchend über das Glas strichen. Tamara verschloss das Auto mit einem Handgriff von innen.

Kannte sich dieses Shu-shaaa, der Quell der inneren Stimme, mit Schlössern aus?

Sie konnte fühlen, dass das Shu-shaa immer stärker wurde, den Berg auffraß, sich wie eine Kletterpflanze ausbreitete und dabei Sonnenlicht, Wasser und Bakterien aufsog. Es war gefräßig, genauso wie der Junge am Fenster, der schmerzlich versuchte, sie zu bekehren, ihre Energie zu verzehren und sie in eine leere Hülse zu verwandeln. Genauso wie die Mutter-Kreatur die ganze Welt als leere Hülle zurücklassen würde, nachdem sie hier ihre Energiespeicher aufgefüllt haben würde.  

Keine Stimmen mehr. Kein Zweifel mehr.

Alles, was jetzt noch zählte, war das Überleben in einer Welt, die aus den Fugen geraten war.

Tamara kroch auf die Rückbank und legte ihre Hand auf die Türschnalle. Der Junge rutschte auf dieselbe Seite des Autos, wobei seine verwundete Hand eine nasse Spur auf der Windschutzscheibe hinterließ. Er bewegte sich nur langsam, aber Tamara war sich nicht sicher, ob Flucht die beste Lösung war. Sie konnte sicher schneller laufen als der eine da, aber sie spürte, dass da noch andere in der Nähe waren. Viele andere.

Trotzdem konnte sie nur schlecht die ganze Nacht hier ausharren. Es könnte Stunden dauern, bis irgendjemand auf dieser verlassenen Straße vorbeikommen würde. Vielleicht würde es bis morgen dauern. Die Bergbewohner gingen normalerweise sehr früh schlafen. Und wie konnte sie sich Hilfe erwarten, wenn sich der ganze Berg gegen sie verschworen hatte.

Sie entschied sich, alles zu riskieren. Wenn sie einfach der Straße folgte, würde sie bald zu einem Haus kommen. Und wenn der Mond herauskommen würde, dann brauchte sie kein zusätzliches Licht, um den anderen zu entwischen, die so wie der Junge infiziert - beziehungsweise bekehrt - worden waren. Sie konnte mit Leichtigkeit ihre chaotischen Schwingungen aufnehmen, denn ihre Feinfühligkeit schien mit der größeren Nähe des Shu-shaaa gewachsen zu sein.

Was auch immer den Verstand oder das Gewissen oder die Seele dessen, das sich Shu-shaaa nannte, ausmachte, es wurde immer stärker und fühlte sich in dieser Umgebung immer wohler.

In seiner natürlichen Umgebung.

Und sein Verständnis von Tamara spiegelte ihr eigenes Verständnis von ihm wieder.

»Mah-raaa…«, sage der Junge. »Tah-mah-raaa…« . .”

Oh Gott. Es spricht. Es kennt meinen NAMEN.

Tamara drückte die Türschnalle und trat dann mit beiden Beinen die Tür auf und den Jungen zu Boden. Als er taumelte, sprang Tamara auf die Straße. Sie rannte in Richtung Osten, dorthin, von wo sie gekommen war. Sie warf nur einen Blick zurück auf den Jungen, der ihr langsam folgte, auf Beinstümpfen, denen die Füße fehlten.

Sie hörte sein klagendes Rufen sowohl mit ihren Ohren als auch mit ihrem Verstand.

»Shu-shaaa…mah-raaa…Auuuugeeen.«

Aber in seiner Stimme, die direkt von der Macht kam, die auch ihre innere Stimme lenkte, in dem glücklichen Nebel des kosmischen Besitzers, konnte Tamara den menschlichen Teil noch fühlen, den Jungen, der sich wünschte, irgendwo high zu werden oder mit einem Cheerleader zu flirten oder im Kirchenchor zu singen. Dieser Teil wusste noch, was er einmal war und nicht mehr sein konnte. Dieser Teil brüllte noch, während die Urkraft seine friedlichen Ambitionen im Keim erstickte.

Dann rannte sie die Straße bergab. Sie war keine Läuferin, aber sie hielt sich fit und sie merkte, dass sich das Training ausgezahlt hatte. Natürlich hatte sie sich nie gedacht, dass einmal ihr Leben davon abhängen könnte. Sogar jemand, der in die Zukunft schauen konnte, war nicht immer auf das Schlimmste vorbereitet.

Ihr Verstand drehte sich um sich selbst, als sie die ersten hundert Meter im Laufschritt zurücklegte, während sich die Dunkelheit wie eine schwarze Decke vom Himmel senkte. Sie war bald aus der Gefahrenzone heraus, weg von der Kraft, die ihre Sinne betäubt hatte, weg vom wütenden Berg, der seinen Appetit auf die Welt herausgeschrien hatte.

Sie versuchte zu verstehen, wie so etwas überhaupt die Welt heimsuchen konnte. Aber vielleicht war es ja schon immer da gewesen, irgendwo in den tausenden Himmeln, in dem doch nicht so unendlichen Universum.

Und es wurde nicht nur größer, es verwandelte sich sogar und lernte. Es hatte sich an die Umgebung angepasst und entwickelte sich um zu überleben, passte sich an das unbekannte Biosystem an. Oder vielleicht adaptierte es sich an das System in einem gegenseitigen Austausch, einer Symbiose, in der Jäger und Gejagter ein- und derselbe waren.

Denn es kannte ihren Namen…

Sie war so in ihren Gedanken verloren, dass das Auto sie beinahe überfahren hätte, bevor sie es gesehen hatte. Die Scheinwerfer glitten über sie, als sie auf die andere Straßenseite sprang. Ihr Knöchel knickte zur Seite, als sie in den Straßengraben fiel. Das Auto kam auf dem Kies schlitternd zu stehen, während die Reifen nach Halt suchten. Eine Tür öffnete sich und beleuchtete den Innenraum des Fahrzeuges.

»Alles okay?«, rief eine Stimme. Sie zählte die Köpfe von drei Männern. Sie wusste, dass das sogar hier in den Bergen ein Risiko war. Trotzdem hatte sie keine andere Wahl, wenn sie noch vor Sonnenaufgang nach Hause kommen wollte. Bevor die Stimmen ausschwärmen würden.

»Ja, ja«, sagte sie und hinkte vorsichtig zu der geöffneten Autotür. »Hatte gerade eine Panne.«

»Ja, ich habe das Auto gesehen«, sagte der alte Mann auf dem Fahrersitz. Er sprach mit dem ländlichen Akzent, der ihn als Dorfbewohner identifizierte. »Und…ah…den Jungen.«

Im schwachen Licht des Autos konnte sie die Gesichter der Männer im Mercedes ausmachen. Der Mann auf dem Rücksitz, der zirka fünfzig Jahre alt sein durfte, war gut gekleidet und hatte freundliche blaue Augen. Der Fahrer trug einen teuren Anzug und hatte einen modischen Haarschnitt. Er schien ein wenig nervös zu sein. Sie schaute in den Rückspiegel, als seine Augen immer wieder zu dem alten Mann, der mit einem gegerbten Gesicht neben ihm saß, wanderten.

»Steigen Sie ein, junge Frau«, sage der Mann auf dem Rücksitz. »In einer Nacht wie dieser sollten Sie besser nicht alleine unterwegs sein.« Er rutschte auf den Sitz hinter dem Fahrer. »Ich bin Herbert DeWalt. Der Chauffeur heißt Kyle Emerland und das da ist Chester Mull.«

»Tamara«, sagte sie. »Tamara Leon. Danke fürs Mitnehmen.«

Tamara setzte sich in den freien Sitz und schaute zu den zwei Männern vorne, als der Mercedes langsam weiter fuhr. Sie kamen zu einer Lichtung, mit Grasland auf beiden Seiten der Straße. Der aufgehende Mond tauchte das Tal in weißes Licht, das die entfernten Bergrücken cremig und undeutlich erscheinen ließ. Sie entspannte sich ein bisschen. Dann sah sie, dass der alte Mann auf dem Beifahrersitz ein Gewehr hatte.

»Schrecken Sie sich nicht«, sagte DeWalt. »Niemand wird Ihnen etwas zuleide tun. Wir sind hier auf einer kleinen Geschäftsreise.«

Chester drehte sich um und lächelte sie an, wobei er seine wenigen Zähne zeigte, als wären sie kostbare Juwelen. Ein dunkles Stück Kautabak befand sich in einer Backe. Er roch so, als ob er gerade aus einem Whiskeyfass gekrochen wäre.

»Weder Mann noch Maus sollten um diese Zeit unterwegs sein. Auch keine Frau«, sage er, während er ihr mit Gefallen ins Gesicht blickte. »Aber wir freuen uns über Ihre Gesellschaft. Sie haben grüne Augen, aber dieses Grün mögen wir.«

»Sei ruhig Chester«, sagte DeWalt. »Wir brauchen sie nicht noch mehr zu erschrecken, als sie es ohnehin schon ist.«

Der Fahrer warf auch einen Blick auf das Gewehr. Chester schwenke den Gewehrlauf so, dass er auf Emerland zeigte. »Keine Gefahr, Emerland, solange du nicht in ein Loch in der Straße fährst und mein Finger deshalb den Abzug drückt«, drohte er ihm.

»Emerland«, sagte Tamara. »Sie sind doch der Architekt.«

Emerland strahlte, weil sie ihn erkannt hatte, obwohl sie in seinen Augen die nackte Angst lesen konnte.

»Das dürfen Sie nicht persönlich nehmen, aber ich habe gehört, dass Sie ein richtiges Arschloch sind«, fügte sie hinzu. DeWalt und Chester lachten. Emerland wurde in seinem Sitz augenblicklich ein Stück kleiner.

»Verdammt, passen Sie doch auf"«, schrie Chester plötzlich. Emerland verriss den Wagen und kam gerade noch an einer Figur vorbei, die wie aus dem Nichts auf der Straße aufgetaucht war. Tamara hörte einen dumpfen Aufprall am hinteren Teil des Wagens.

»Habe ich gerade jemanden angefahren?« Emerlands Augen wirkten im Rückspiegel weit aufgerissen.

»Das war nur so ein verdammter Zombie«, sagte Chester mit seinem Mund voll braunem Speichel. Er spuckte einfach auf die weinroten Fußteppiche des Mercedes. »Habe seine grün leuchtenden Augen gesehen. Die Arschlöcher sind schon überall unterwegs. Fahren Sie weiter, bevor er wieder aufsteht!«

Chester schwenkte wieder sein Gewehr, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen. Emerland trat auf das Gaspedal und der Kies stob unter seinen Reifen weg. Emerlands Handy läutete, Chester nahm es in die Hand, öffnete die Autotür und warf das Telefon aus dem Fahrzeug. »Möchte nicht, dass Sie mit Ihren Freunden sprechen, bevor wir hier fertig sind«, sagte Chester zu Emerland.

»Wir hatten Recht, Chester«, sagte DeWalt. »Ich weiß nicht, ob es eine Krankheit ist, aber es scheint sich rasend schnell auszubreiten. Das ist jetzt schon der vierte, oder?«

Tamara überraschte sie, als sie sagte: »Es gibt schon Dutzende von ihnen.«

DeWalt und Chester drehten sich zu ihr und Emerland wagte es, in den Rückspiegel zu blicken.

»Was auch immer es ist, es ist auf dem Berg«, sagte sie. »Das Ding, das alles verursacht hat.«

»Hey, das Gleiche haben wir gedacht«, sagte Chester.

»Ich kenne mich mit diesen Dingen aus«, fuhr sie vorsichtig fort. »Sie sind in meinem Kopf. . . Ich sehe Dinge.«

Sie wusste, dass sie sich verrückt anhörte, aber die ganze Welt war verrückt, so als ob Gott das Universum auf den Kopf gestellt und die Naturgesetze umgedreht hätte.  Und was sie jetzt brauchte, waren Verbündete. Sie musste ihren Wahnsinn mit anderen teilen. Robert war weit weg, mit den Kindern in Sicherheit. Zumindest hoffte sie, dass sie in Sicherheit waren. Sie musste sich darauf verlassen können, dass Robert jetzt die Verantwortung für die Familie übernahm, während sie sich um das hier kümmerte.

»Sie sehen Dinge?« Emerland schüttelte den Kopf. »Jesus. Ich bin von einer Gruppe von Verrückten gekidnappt worden!«

»Halten Sie das Maul und fahren Sie weiter«, herrschte Chester ihn an. »Und kein weiteres Wort mehr, bis wir beim Dynamitlager angekommen sind. Sie sehen die Dinge so, wie wir das getan haben.« Er drehte sich zum Rücksitz und schenkte Tamara wieder sein feuchtes, schiefes Lächeln. »Sprechen Sie weiter! Wir sind ganz Ohr.«

Sie erzählte von ihrer Fähigkeit, in die Zukunft zu sehen. Nur die Kurzversion, ohne Ausschmückungen und ohne Platz für unangenehme Fragen. Es war das erste Mal, dass sie es irgendjemandem außer Robert erzählte. Es gab ihr auch Selbstvertrauen, ihre Geschichte einem Haufen Fremden zu erzählen, die ihre Skepsis nicht zeigen konnten. Und es machte ihre hellseherische Begabung auch viel realer als zuvor, so als ob sie sie jetzt nicht mehr leugnen konnte, nicht einmal vor sich selbst. Sie lachten auch kein einziges Mal.

Als der Mercedes durch die Nachtluft schnitt, beschrieb sie das Shu-shaaa und was sie vom Wald und dem Jungen fühlen konnte. Sie erzählte ihnen von der "kosmischen Mission" und merkte während ihrer Erklärungen, wie unglaublich es eigentlich klang. Sie wurde aber nicht unterbrochen. Ihre Zuhörer nickten nur in Zustimmung. Als sie geendet hatte, erzählte ihr DeWalt von dem Erdmund, den sie gefunden hatten.

»Das ist es«, sagte sie. »Die seltsame Musik, die ich gehört habe, war gar keine richtige Musik. Es ist die Ausgangsquelle. Seine Stimme.«

»Sie meinen, es spricht?«, fragte Chester?

»Es hat mich beim Namen genannt. Durch den Jungen.«

Chester hatte sein Gewehr gesenkt, damit die wenigen vorbeifahrenden Autofahrer keinen Verdacht schöpften.  Er sagte: »Normalerweise hätte ich das Ganze als einen Haufen Blödsinn bezeichnet und gedacht, dass da jemand etwas geraucht hat. Aber ich habe es mit meinen eigenen Augen gesehen und ich war mein gesamtes Leben noch nicht eingeraucht gewesen. Dennoch ist hier irgendetwas verdreht und es hat nichts mit mir zu tun.  Die sind so wie Zombies aus einem Horrorfilm.«

»Also sie haben ihre Mission, wie Sie es nennen, Tamara«, sagte DeWalt. »Und wir haben unsere Mission.«

Er erzählte ihr von dem Plan, die Höhle mit Dynamit zu sprengen. »Wir wissen, dass das eigentlich das FBI oder wer auch immer machen müsste…«

»Aber es würde Tage, vielleicht sogar Wochen dauern, bis man jemanden überzeugen könnte, dass wir nicht verrückt sind«, sagte Tamara, die ja ein Experte auf diesem Gebiet war. »Und es wird minütlich stärker. Ich kann es fühlen. Es lernt von seiner Umgebung, wird stärker und intelligenter.«

Chester schaute mit einem tränenden Auge zu Tamara. »Noch eine Sache stört mich. Zum Teufel, mich stören viele Dinge. Aber was soll das Shu-shaaa-Zeug?«

»Vielleicht hat es das Geräusch von irgendeiner Lebensform im Wald aufgeschnappt. Etwas, das es bekehrt hat. Aber der Junge hat versucht, mit mir zu sprechen Also muss es dabei sein, eine Sprache zu lernen. Eine menschliche Sprache.«

»Es kann also schon die Sprache der Bäume, oder? Und die der Schweine und Hühner und womit Don Oscars Kopf noch gefüllt war. Das erklärt auch, warum Boomer versucht hatte zu bellen, aber nichts anderes als sumpfige Geräusche von sich gegeben hat.«

»Und die Leute, die verwandelt wurden, haben zwar noch immer ein paar eigene Gedanken, ihre Gedanken sind trotzdem in denen der Urkreatur gefangen, im Shu-shaaa.«

»Ich bin nicht Einstein«, sagte DeWalt, »aber was Sie sagen passt nicht zu dem, was wir über Physik wissen.«

»Nun, Einstein wusste über diese Sachen auch nichts«, sagte Tamara. »Gesetze sind dafür da, dass man sie bricht.«

DeWalt dachte einen Augenblick darüber nach und nickte dann und blickte aus dem Autofenster.

Chester drehte sich nochmals zu ihr um. »Sie meinen, da gibt es noch mehr von diesen Zombiemachern irgendwo im Himmel?«

Tamara nickte. »Alle sind auf dem Weg zu ihrer Version des Himmels, Nirwana, wie Sie es auch immer nennen wollen. Das hört sich jetzt vielleicht komisch an, aber jeder ist wie eine Energie, die nach Hause geht und vielleicht in tausend Jahren oder vielleicht in zehn Millionen Jahren werden sich alle treffen und…« . . “

Emerland schüttelte den Kopf. Chester blickte aus dem Autofenster auf die Sterne draußen. DeWalt fragte: »Und was, Tamara? Sie rennen hier offene Türen ein. Sie sind der einzige Experte, den wir hier jemals haben werden.«

»Dann werden sie zu einem Gott.«

»Verdammte Scheiße«, sagte Chester.

Sie fuhren schweigend weiter, als sich die Straße in Richtung Sugarfood zu schlängeln begann.