Wie bei Gogol
Dabei kenne ich diesen Umschlagplatz seit
acht Jahren, dieses unübersichtliche Verteilerbecken, in dem
Straßenbahnen, Busse und S-Bahnen zusammenlaufen, nur, um ihre
Fracht auszutauschen und aneinander abzugeben. Kaum fliegen
zischend die Türen auf, da stürzt, hastet und schnürt es schon
aufeinander zu, vermengt und verknotet sich - gerade, als ob
waffenlose Gegner sich ineinander verbeißen -, und so sicher und
ungefährdet bewegt sich ihr Zug, so rücksichtslos erzwingt sich die
große Zahl ihren Weg, daß man am besten anhält und wartet, bis
alles vorüber ist, obwohl die Ampel einem Grün gibt. Wenn es nur
dieser Zug wäre mit den hüpfenden Schulranzen, den schlenkernden
Aktentaschen - wenn es nur diese mürrische, morgendliche Prozession
wäre: sie könnte man noch kontrollierend im Auge behalten, aber
hier, wo der Berufsverkehr in ein verzweigtes Delta gelenkt wird,
muß man auch auf unerwartete Begegnungen gefaßt sein, auf plötzlich
ausscherende Einzelgänger, auf Quertreiber, auf kleine Wettläufer,
die hinter parkenden Autos hervorflitzen und die Straße im Spurt zu
überqueren versuchen.
Ich wußte das alles. Denn acht
Jahre gehörte ich selbst zu ihnen, ließ mich von ihrem ungeduldigen
Strom davontragen, von der S-Bahn zum Bus hinüber, der unmittelbar
vor meiner Schule hält; ich war lange genug ein Teil ihrer
Rücksichtslosigkeit.
Doch all dieses Wissen half mir
nicht und hätte keinem geholfen, selbst wenn er zwanzig Jahre
unfallfrei am Steuer gesessen hätte; was geschah, war einfach aus
statistischen Gründen unvermeidlich und kann weder auf mein
Anfängertum noch darauf zurückgeführt werden, daß mein erstes Auto,
mit dem ich noch nicht einmal seit einer Woche zum Unterricht fuhr,
ein Gebrauchtwagen war. Obwohl sich nichts düster oder bedeutsam
ankündigte an diesem Morgen, obwohl es keinen Grund gab, mir eine
besondere Aufmerksamkeit aufzuerlegen - ich sollte mit einer
Doppelstunde Geographie beginnen -, nahm ich, als ich mich dem
Umschlagplatz näherte, frühzeitig das Gas weg und beschleunigte
selbst dann nicht, als die Ampel auf Grün umsprang, mit einem
kleinen Flackern, das mir wie ein Zwinkern erschien, wie eine
Aufforderung, zu beschleunigen und davonzukommen, ehe die beiden
Busse sich öffneten, die auf der andern Straßenseite gerade an
ihren Halteplatz herandrehten. Auf dem Kopfsteinpflaster lag
zerfahrener Schnee, der sich schmutzig unter dem Biß des gestreuten
Salzes auflöste, das Auto fuhr nicht schneller als dreißig, und ich
behielt die Busse im Auge, aus denen sie gleich wie auf ein
Startzeichen herausstürzen würden.
Er mußte aus dem Eingang zur
S-Bahn gekommen sein, mußte die Nummer seines Busses entdeckt
haben, den er, wie alle, die ihre morgendliche Reise so scharf
kalkuliert hatten, um jeden Preis erreichen wollte. Zuerst hörte
ich den Aufprall. Das Steuer schlug aus. Dann sah ich ihn auf der
Haube, das verzerrte Gesicht unter der Schirmmütze, die Arme
ausgestreckt gegen die Windschutzscheibe, auf der Suche nach einem
Halt. Er war, gleich hinter der Ampel, von rechts gegen das Auto
gelaufen; ich bremste und sah, wie er nach links wegkippte und auf
die Fahrbahn rollte. Halteverbot, überall herum Halteverbot, darum
legte ich den Rückwärtsgang ein und fuhr einige Meter zurück, zog
die Handbremse und stieg aus. Wo war er? Dort, am Kantstein, an den
eisernen Sperrketten, versuchte er sich aufzurichten, Hand über
Hand, ein kleiner Mann, Fliegengewicht, in einem abgetragenen
Mantel. Passanten waren schon bei ihm, versuchten, ihm zu helfen,
hatten gegen mich schon feindselige Haltung eingenommen: für sie
war die Schuldfrage gelöst. Sein bräunliches Gesicht war mehr von
Angst gezeichnet als von Schmerz, er sah mich abwehrend an, als ich
auf ihn zuging, und mit gewaltsamem Lächeln versuchte er die
Passanten zu beschwichtigen: nicht so schlimm, alles nicht der Rede
wert.
Von ihm lief mein Blick zurück
auf das Auto, im rechten Kotflügel war eine eiförmige Delle,
ziemlich regelmäßig, wie von einer Holzkeule geschlagen; an den
Kanten, wo der Lack abgeplatzt war, klebten Stoffäden, auch die
Haube war eingedrückt und aus dem Schloß gesprungen, ein
Scheibenwischer war abgebrochen. Er beobachtete mich, während ich
den Schaden abschätzte, hielt sich mit beiden Händen an der Kette
fest, schwankend, und immer wieder linste er zu den abfahrenden
Bussen hinüber.
Hautabschürfungen auf der Stirn
und am Handrücken, mehr entdeckte ich nicht, als ich auf ihn zutrat
und er mit einem Lächeln zu mir aufblickte, das alles zugab: seine
Unvorsichtigkeit, seine Eile, seine Schuld, und in dem Wunsch, die
Folgen herunterzuspielen und mir zu beweisen, wie glimpflich alles
verlaufen sei, hob er abwechselnd die in ausgefransten Röhrenhosen
steckenden Beine, bewegte den Kopf nach rechts und nach links,
krümmte probeweise den freien Arm: Sieh her, ist nicht alles in
Ordnung? Ich fragte ihn, warum er denn bei Rot, ob er nicht das
fahrende Auto - er hob bedauernd, er hob schuldbewußt die
Schultern; er verstand mich nicht. Furchtsam wiederholte er immer
wieder denselben Satz, machte eine angestrengte Geste in Richtung
des verlaufenden Bahndamms; es waren türkische Wörter, die er
brauchte, ich erriet es am Tonfall. Ich erkannte seine Bereitschaft
zur Flucht und sah, was ihn daran hinderte, doch er wagte es nicht,
die inneren Schmerzen zu bestimmen oder auch nur zuzugeben. Er litt
unter dem Mitgefühl und der Neugierde der Passanten; er schien zu
begreifen, daß sie mich bezichtigten, und litt auch darunter.
Doktor, sagte ich, jetzt bringe ich Sie zu einem Arzt. Wie leicht
er war, als ich ihn unterfing, seinen Arm um meinen Nacken zog und
ihn zum Auto führte, und wie besorgt er die Schäden am Kotflügel
und Kühler erkundete! Während Passanten neu hinzukommenden
Passanten erklärten, was sie gesehen oder auch nur gehört hatten,
bugsierte ich ihn auf den Rücksitz, brachte seinen Körper in eine
Art entspannter Schräglage, nickte ihm ermunternd zu und fuhr los,
den alten Weg zu Schule. In der Nähe der Schule wohnten oder
praktizierten mehrere Ärzte, ich erinnerte mich an die weißen
Emailleschilder in ihren Vorgärten, dorthin wollte ich ihn bringen.
Ich beobachtete ihn im Rückspiegel, er hatte die Augen geschlossen,
seine Lippen zitterten, vom Ohr zog sich ein dünner Blutstreifen
den Hals hinab. Er stemmte sich fest, hob seinen Körper vom Sitz ab
- allerdings nicht, um einen Schmerz erträglich zu machen, sondern
weil er etwas suchte in seinen verschiedenen Taschen, die er mit
gestreckten Fingern durchforschte. Dann zog er ein Stück Papier
heraus, einen blauen Briefumschlag, den er mir auffordernd über die
Lehne reichte: Hier, hier, Adresse. Er richtete sich auf, beugte
sich über die Rückenlehne zu mir, und mit heiserer Stimme,
dringlich und gegen die gewohnte Betonung gesprochen, wiederholte
er: Liegnitzerstraße.
Daran schien ihm ausschließlich
gelegen zu sein, jetzt, er sprach erregt auf mich ein, seine Furcht
nahm zu: nix Doktor, Liegnitzerstraße, ja, und er wedelte mit dem
blauen Umschlag. Wir kamen an den Taxistand in der Nähe der Schule,
ich hielt, machte ihm ein Zeichen, daß er auf mich warten solle, es
werde nicht lange dauern, danach ging ich zu den Taxifahrern und
erkundigte mich nach der Liegnitzerstraße. Sie kannten zwei
Straßen, die diesen Namen trugen, setzten aber wie
selbstverständlich voraus, daß ich, da ich schon einmal hier war,
in die näher gelegene Straße wollte, und sie beschrieben mir den
Weg, den sie selbst fuhren, am Krankenhaus vorbei, durch die
Unterführung, zum Rand eines kleinen Industriebezirks Ich dankte
ihnen und ging zur Telefonzelle und wählte die Nummer der Schule.
Mein Unterricht hätte langst begonnen haben müssen. Niemand nahm
ab. Ich wählte meine eigene Nummer, ich sagte in das Erstaunen
meiner Frau: Erschrick nicht, ich hatte einen Unfall, mir ist
nichts passiert. Sie fragte: Ein Kind? - und ich schnell: Ein
Ausländer, vermutlich ein Gastarbeiter, ich muß ihn fortbringen;
bitte, verständige du die Schule. Bevor ich die Telefonzelle
verließ, drehte ich noch einmal die Nummer der Schule, jetzt
ertönte das Besetztzeichen. Ich ging zu meinem Auto zurück, vor dem
zwei Taxifahrer standen und gelassen meinen Schaden zum Anlaß
nahmen, um über eigene Schäden zu sprechen, wobei sie sich
gegenseitig zu überbieten versuchten. Das Auto war leer. Ich beugte
mich über den Rücksitz, beklopfte ihn - die Taxifahrer konnten sich
an keinen Mann erinnern, doch sie schlossen nicht aus, daß er nach
vorn gegangen war und sich - vielleicht - den ersten Wagen genommen
hatte. Ein südländischer Typ, Schirmmütze, noch dazu verletzt, wäre
ihnen gewiß aufgefallen. Sie wollten wissen, wo mich das Pech
erwischt hatte, ich erzählte es ihnen und sie schätzten den Schaden
- vorausgesetzt, daß ich gut wegkäme - auf acht-hundert Mark.
Langsam fuhr ich zur Liegnitzerstraße, am Krankenhaus vorbei, durch
die Unterführung, zum Industriebezirk. Eine kleine Drahtfabrik,
deren Gelände mit löchrigem Maschendraht eingezäunt war; schwere
Pressen, die Autowracks zu handlichen Blechpaketen
zusammenquetschten; an trüben Hallen fuhr ich vorbei, die sich
Reparatur-Werkstätten nannten, an Speditionsfirmen und verschneiten
Lagerplätzen, über die nicht eine einzige Fußspur führte.
Die Liegnitzerstraße schien nur
aus einem schirmenden, mit Plakaten vollgeklebten Bretterzaun zu
bestehen, hinter dem starr gelbe Kräne aufragten; keine Wohnhäuser;
zurückliegend, türlos, mit zerbrochenen Fenstern eine aufgelassene
Fabrik; schwarze Rußzungen zeugten immer noch von einem Brand. In
einer Lücke entdeckte ich Wohnwagen, deren Räder tief in den Boden
eingesackt waren. Ich hielt an, verließ das Auto, ging durch den
schmutzigen Schnee zu den Wohnwagen hinüber; die Arbeiter waren
fort. Die Fenster der Wohnwagen waren mit Gardinen verhängt, auf
den eingehängten Treppen lagen Reste von Streusalz; Rauch stieg aus
einem blechernen Schornstein auf.
Vermutlich hätte ich die Wagen
nur umrundet und wäre fortgegangen, wenn sich nicht eine Gardine
bewegt, wenn ich nicht den beringten Finger gesehen hätte, der den
gehäkelten grauen Stoff zu glätten versuchte; so stieg ich die
Treppe halb hinauf und klopfte. Ein hastiger, zischender
Wortwechsel im Innern, dann wurde die Tür geöffnet, ich sah nah vor
meinem Gesicht den Siegelring an der Hand, die jetzt auf der Klinke
lag. Den Blick hebend, wuchs er bedrohlich vor mir auf: die
schwarzen Halbschuhe mit weißer Kappe; die engen gebügelten Hosen;
der kurze mit Pelzkragen besetzte Mantel; aus der oberen
Jackentasche leuchtete das Dreieck eines Seidentuchs. Höflich, in
gebrochenem Deutsch, fragte er mich, wen ich suchte, da hatte ich
schon, an seiner Hüfte vorbeisehend, den Mann auf der untern
Liegestatt des doppelstockigen Bettes erkannt, zeigte bereits mit
der Hand auf ihn: Er dort, zu ihm will ich. Ich durfte eintreten.
Vier Betten eine Waschgelegenheit, an den unverkleideten Holzwänden
angepinnte Postkarten, Familienbilder, aus Zeitungen
ausgeschnittene Photographien: dies war das Inventar, das ich
zuerst bemerkte; später, nachdem der auffällig gekleidete Mann mir
einen Hocker angeboten hatte, entdeckte ich Kartons und Pappkoffer
unter den Bettgestellen.
Der Verletzte lag ausgestreckt
unter einer Decke, auf der in roter Schrift das Wort »Hotel« zu
lesen war; seine dunklen Augen glänzten in der Trübnis des Innern.
Er nahm meinen Gruß gleichgültig auf, kein Zeichen des
Wiedererkennen, weder Furcht noch Neugier. Herr Üzkök hatte einen
Unfall, sagte der Mann mit dem Siegelring. Ich nickte und fragte
nach einer Weile, ob ich ihn nicht zum Arzt fahren sollte. Der
Siegelring winkte lebhaft ab: nicht nötig, Herr Üzkök sei in bester
ärztlicher Pflege, zwei Tage schon, seit er diesen Unfall auf dem
Bau hatte, auf der Baustelle. Ich sagte: Heute morgen, ich bin
wegen des Unfalls heute morgen gekommen, worauf der Mann sich
schroff zu dem Verletzten wandte und ihn etwas in seiner
Heimatsprache fragte; der Verletzte schüttelte sanft den Kopf: Von
einem Unfall heute morgen Herrn Üzkök ist nichts bekannt. Ich sagte
ruhig: Mir ist es passiert, dieser Mann lief mir bei Grün vor den
Kühler, ich habe ihn angefahren, die Schäden am Auto können Sie
sich ansehen, es steht draußen. Wieder fuhr der Mann den Verletzten
in seiner Heimatsprache an, ärgerlich, gereizt, mit theatralischer
Energie um Aufklärung bemüht, einen geflüsterten Satz ließ er sich
ausdrücklich wiederholen. Alles, was er mir danach zusammenfassend
sagen konnte, lautete: Herr Üzkök kommt aus Türkei, Herr Üzkök ist
Gastarbeiter, Herr Üzkök hatte Unfall vor zwei Tagen. Ein Auto ist
ihm unbekannt.
Ich zeigte auf den Verletzten und
bat: Fragen Sie ihn, warum er fortgelaufen ist; ich selbst sollte
ihn doch in die Liegnitzerstraße bringen, hierher. Wieder spielten
sie ihr Frage- und Antwort-Spiel, das ich nicht verstand; und
während der Verletzte gepeinigt zu mir aufsah und seine Lippen
bewegte, sagte der Mann mit dem Siegelring: Herr Üzkok ist nicht
fortgelaufen seit dem Unfall auf Bau, er muß im Bett liegen. Ich
hat den Verletzten: Zeigen Sie mir den blauen Briefumschlag, den
Sie mir im Auto zeigten; und er lauschte der Übersetzung und ich
konnte nicht glauben, daß meine Bitte sich im Türkischen so dehnte
und außerdem Spruch und Widerspruch nötig machte. Mit
triumphierendem Bedauern wurde mir mitgeteilt, daß Herr Üzkök
keinen blauen Briefumschlag besessen hätte.
Diese Unsicherheit, auf einmal
meldete sich die vertraute Unsicherheit, wie so oft in der Klasse,
wenn ich das Risiko einer endgültigen Entscheidung übernehmen muß;
und weil ich überzeugt war, daß der Verletzte noch seinen schäbigen
Mantel trug, trat ich an sein Lager heran und hob einfach die Decke
auf. Er lag in seinem Unterzeug da, preßte etwas mit den Händen
zusammen, das er offenbar um keinen Preis hergeben
wollte.
Als ich mich, schon auf der
Treppe, nach der Nummer erkundigte, nach der Straßennummer, unter
der die Wohnwagen registriert waren, lachte der Mann mit dem
Siegelring, rief einen knappen Befehl zu
dem Verletzten zurück; und als er mir dann sein Gesicht zuwandte,
Vierzig bis Zweiundfünfzig sagte und dabei vergnügt seine Arme
ausbreitete, spürte ich zum ersten Mal seinen freimütigen Argwohn.
Viel Adresse, sagte er, vielleicht fünfhundert Meter. Ich fragte,
ob dies die ständige Wohnung von Herrn Üzkök sei, worauf er, sein
Mißtrauen durch Lebhaftigkeit tarnend, in Andeutungen auswich: Viel
Arbeit, überall. Manchmal Herr Üzkök ist hier, manchmal dort - er
deutete in entgegengesetzte Richtungen. Obwohl ich mich
verabschiedete, folgte er mir; schweigend begleitete er mich auf
die Straße hinaus, trat an mein Auto heran, strich über die Dellen,
die der leichte Körper dem Blech beigebracht hatte, hob die Haube
an und ließ sich bestätigen, daß das Schloß nicht mehr
einschnappte. War er erleichtert? Ich hatte das Gefühl, daß er, dem
alles doch gleichgültig sein konnte, erleichtert war, nachdem er
den Schaden begutachtet hatte. Er rieb sich das weiche Kinn, dann
mit breitem Daumen die lang heruntergezogenen Koteletten. Ob ich
vorhätte, die Versicherung einzuschalten? Ich gab ihm zu verstehen,
daß mir wohl nichts anderes übrig bliebe, worauf er mit einer
abermaligen, gründlichen Inspektion des Schadens begann und zu
meiner Überraschung einen Schätzpreis nannte, der knapp unter dem
lag, den die Taxifahrer genannt hatten: siebenhundertfünfzig. Er
grinste, zwinkerte mir komplizenhaft zu, als ich einstieg und die
Scheibe herunterdrehte, und in dem Augenblick, als ich den Motor
anließ, streckte er mir seine geschlossene Hand hin: Für Reparatur,
sagte er. Herr Üzkök, er braucht jetzt Ruhe. Ich wollte aussteigen,
doch er entfernte sich bereits, mit hochgeschlagenem Pelzkragen,
unwiderruflich, als habe er das Äußerste hinter sich gebracht.
Nachdem er hinter dem Zaun verschwunden war, sah ich auf das Geld
in meiner Hand, zählte es - die Summe entsprach seinem Schätzpreis
-, zögerte, wartete auf etwas, auch wenn ich nicht wußte, was es
sein könnte, und bevor ich zur Schule ging, lieferte ich den Wagen
in der Werkstatt ab. Im Lehrerzimmer saß natürlich Seewald, saß da,
als hätte er auf mich gewartet, er mit seinem roten Gesicht, dem
haltlosen Bauch, der ihm vermutlich bis zu den Knien durchsacken
würde, wenn er ihn nicht mit einem extrabreiten Riemen bändigte.
Hab schon gehört, sagte er, nun erzähl mal. Aus seiner
Thermosflasche bot er mir Tee an, nein, er drängte ihn mir so
gewaltsam auf, als wolle er das Recht erwerben, jede Einzelheit
meines Unfalls zu erfahren, ausgerechnet Seewald, der bei jeder
Gelegenheit für seine Erfahrung warb, nach der es keine
Originalerlebnisse mehr gebe. Alles, so behauptete er, was uns
vorkommt oder zustößt, sei bereits anderen vorgekommen oder
zugestoßen, die Bandbreite unserer Erlebnisse und Konflikte sei ein
für alle Mal erschöpft, selbst in einer seltenen Lage dürfe man
nicht mehr als einen zweiten Aufguß sehen.
Ich trank seinen stark gesüßten
Tee, erschrak, als ich sah, wie sehr meine Hand zitterte - weniger
wenn ich die Tasse aufnahm, als wenn ich sie absetzte. Also die
Anfahrt, der Unfall, die Flucht des Verletzten, und dann als ich
ihm die Begegnung im Wohnwagen schilderte konnte ich die Entstehung
eines für ihn typischen Lächelns beobachten, eines überlegenen,
rechthaberischen Lächelns das mich sogleich reizte und bedauern
ließ, ihm alles aufgetischt zu haben. Es war mein Unfall, mein
Erlebnis und deshalb hatte ich doch wohl das Recht, es auf meine
Weise zu bewerten und besonders die Begegnung im Wohnwagen mit der
angemessenen Unentschiedenheit darzustellen. Für ihn indes, für
Seewald war alles längst entschieden; Wie bei Gogol, sagte er, hast
du es denn nicht gemerkt, mein Lieber - genau wie bei Gogol. Ich
war froh, daß die Glocke mich zur Stunde rief und mir seine
Erklärungen erspart blieben, vor allem der unvermeidliche Hinweis
darauf, wie mein Erlebnis im Original aussah.
Ich werde ihm nicht erzählen, daß
sowohl die Taxifahrer als auch der Mann mit dem Siegelring den
Preis für die Reparatur zu hoch angesetzt hatten; da die Dellen
ausgeklopft werden konnten, behielt ich mehr als zweihundert Mark
übrig. Und ich werde Seewald nie und nimmer erzählen, daß ich, in
dem Wunsch, dem Fremden oder Herrn Üzkök den Rest des Geldes
zurückzugeben, noch einmal in die Liegnitzerstraße fuhr, in der
Dämmerung, bei Schneefall.
Das Fenster des Wohnwagens war
abgedunkelt, die Behausung sah verlassen aus, zumindest
abgeschlossen, doch auf mein mehrmaliges Klopfen wurde geöffnet,
und wieder stand er vor mir, mit dem roten Seidentuch in der Hand,
mit dem er sich anscheinend Luft zugefächelt hatte. Mindestens
sechs Männer hockten auf den Betteestellen, kurz gewachsene, scheue
Männer, die bei meinem Anblick die Rotweingläser zu verbergen
suchten. Wie ertappt saßen sie da, einige wie überführt, kein
Gesicht, auf dem nicht eine Befürchtung lag. Ich fragte nach Herrn
Üzkök; der Mann mit dem Siegelring erinnerte sich nicht an ihn, er
war ihm nie begegnet, hatte ihn nie betreut. Da wußte ich schon,
daß er auch Schwierigkeiten haben würde, sich an mich zu erinnern,
und als ich ihm das überschüssige Geld zurückgeben wollte, sah er
mich mit beinahe grämlicher Ratlosigkeit an: er bedauerte sehr,
doch er dürfte ja wohl kein Geld annehmen, das ihm nicht gehörte.
Ich sah auf die schweigenden Männer, sie schienen ausnahmslos Üzkök
zu gleichen, und ich war sicher, daß sie, wenn ich am nächsten Tag
wiederkäme, bestreiten würden, mich je gesehen zu haben. Es standen
hier mehrere Wohnwagen nebeneinander: hatte ich mich im Wagen
geirrt? Eins jedoch weiß ich genau: daß ich das Geld auf einen
Klapptisch legte, ehe ich ging. 1973