Achtzehn
Diapositive
Was ihr hier seht, ist unsere Fähre »Prinz
Hamlet«; ich muß das Bild wohl noch etwas schärfer einstellen; die
Leinwand könnte auch noch etwas tiefer hängen; ich mach das schon,
Eva, achte du nur darauf, daß Eugen und Thea etwas zum Trinken
haben, und zum Knabbern natürlich... »Prinz
Hamlet«, und dennoch pünktlich, entschlossen, genau nach Plan...
Mit fünftausendvierhundert Tonnen ist dieses weiße Schiff
vermessen... Und diese winkenden zweiundfünfzig Kilo an der Gangway
unter der Baskenmütze, das ist Eva... Natürlich winkt sie mir zu, ich stehe am Kai und mache gerade die
Aufnahme, kurz vor Abfahrt des Schiffes... Bitte, den Tropfenbug zu
beachten, der nach den neuesten hydrodynamischen
Forschungsergebnissen gebaut wurde, und das glatte abgeschnittene
Heck sowie die verkleideten, eleganten Aufbauten... Falls einer von
euch mal hinüber möchte ins alte, geliebte England: diese Fähre ist
wirklich zu empfehlen. Ihr gondelt bei einem doppelten Whisky die
Elbe hinunter, nehmt gemächlich Abschied von den grünen
Luftspiegelungen der norddeutschen Heimat, verschlaft nach einem
Abendessen, das in jedem Fall besser ist, als es die mittelmäßigen
Gegner Englands behaupten die wie immer kabbelige Nordsee, und am
Morgen legt ihr in Harwich an... nicht um sechsuhrfünfundvierzig
oder um siehenuhrzehn wie die skandinavischen Fähren deren
Ankunftszeiten offenbar von Männern bestimmt werden, die selbst
unter Schlaflosigkeit leiden... Hier geht ihr um halb neun von
Bord, mit Fruchtsäften gestärkt, mit Porridge und Kippers... Eva
war so begeistert, daß sie beschlossen hat, England nie mehr auf
einem andern Weg zu erreichen - sie war gerade zum ersten Mal
drüben... Als ich damals zurückkam - mein Gott, wann war das: nach
der Eisenzeit wohl -, also wenn ich an die Fähre denke, die sich im
Herbst sechsundvierzig von Harwich nach Hoek mühte - eine Art
»Mayflower« im Vergleich zur »Prinz Hamlet«... Auch was die Gefühle
anging... Keiner konnte schlafen... Ja, also »Prinz Hamlet«, das
Schiff, das uns hinübertrug.
Und hier - leider sehr undeutlich
- seht ihr ein Bild von unserer Ankunft, das ganz schlicht
sensationell genannt werden kann: Eva vor der Paßkontrolle...
Vermutlich ist die Unschärfe dadurch zu erklären, daß auch das
überraschte Objektiv meiner Kamera blinzeln mußte... Fällt euch
nichts auf, Eugen?... Das ist richtig, bedien dich nur selbst, Eis
steht in der Schüssel auf dem Hocker... Ihr müßt den Blick etwas
heben zum oberen Bildrand... Immer, schätzungsweise aber seit
Wilhelm dem Eroberer, hat England die Ankommenden zweigleisig
empfangen und abgefertigt: hier Einheimische - dort Fremde... Dabei
möchte wohl niemand entscheiden, wer bevorzugt behandelt wurde. Und
nun - die Tradition hat ihre schwarze Börse erlebt, seit England
der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft beigetreten ist... Jetzt
wird jeder zu den Einheimischen gezählt, der das Glück hat, im
Gebiet des Gemeinsamen Marktes zu wohnen... Seht ihr das neue
Schild über der Paßkontrolle?... Du warst ja lange genug drüben,
Eugen, du kannst den Wandel ermessen... Das verkleidet wirkende
Ehepaar neben Eva übrigens, die beiden, die da so bang lächeln:
eine Bauernfamilie aus Holstein. Ein englischer Farmer, der als
Kriegsgefangener auf ihrem Hof arbeiten mußte, hatte sie
eingeladen... Im Unterschied zu Australiern und Kanadiern durften
auch sie den Ausgang für Einheimische benutzen.
Nein, das ist Speakers' Corner,
das kommt später; erst einmal diese Aufnahme, durch das
Abteilfenster, aus dem fahrenden Zug; obwohl sich die Häuser
gleichen, obwohl man hier in Verlegenheit käme, wenn man den ersten
Preis für Trostlosigkeit zu vergeben hätte: mein altes, zugiges
Fenster entdeckte ich sofort, dort im dritten Stock... Stallgeruch
vermutlich... Das Pappstück oben links dürfte neu sein, aber der
Rahmen zum Wäschetrocknen - man hängt ihn ein und sichert ihn mit
zwei Flügelschrauben - stammt garantiert noch aus meiner Zeit...
Mein altes Fenster, an der Rückfront des Schachtes, der zum
Bahndamm hin offen ist... Im Gegenteil, Thea - in den ersten
Monaten war es eine befremdliche, eine erregende Aussicht: die matt
blinkenden Geleise abends, bevor die Nebel kamen und alle Regungen
und Geräusche entweder verbargen oder verdünnten - ich nannte das
meine »DickensStunde«... Oder wenn - an Sonntagnachmittagen - alle
Dinge, wie auf Verabredung, ihre Farbe einbüßten oder in diesem
Londoner Licht eine neue Farbe annahmen, nämlich die Farbe der
Trostlosigkeit: ich nannte das die »Loewenberg-Stunde«, nach einem
jungen Dichter, der mit seinem einäugigen Vater im Nebenhaus
wohnte, beide Emigranten wie ich... Hier wohnte er, und manchmal
las er mir vor... Oder wenn altmodische Lokomotiven erstaunlich
lange Züge vorbeischleppten - beinah jedesmal fühlte ich mich
versucht, die Anzahl der Waggons zu erraten, bevor ich mich ans
Zählen machte; manchmal schloß ich sogar Wetten mit mir selbst
ab... Ganz recht, Eugen, das waren dann schon die ersten Zeichen
dafür, daß ich mich einzugewöhnen begann. Ich nehme an, dir wird es
in der Nähe vom Belgrave-Square ähnlich gegangen sein... Natürlich
haben, vom Zug aus gesehen, alle Vorstädte etwas Trostloses, aber
das Gefühl inspirierender und unüberbietbarer Trostlosigkeit - das
erlebst du nur bei der Einfahrt nach London.
Ja, und hier: der Gegenschuß, das
Haus von der Vorderseite - ich habe die Bilder in eine bestimmte
Reihenfolge gebracht. Diesmal hatte Eva die Hand am Auslöser... die
beiden Männer vor dem imposanten Spalier der Abfalltonnen: Charles
und ich, mühelos zu erkennen; ich überreiche meinem ehemaligen
Hauswirt gerade ein Päckchen schwarzen krausen holländischen Tabak,
seinen Lieblingstabak. Er war Lehrer an einer Abendschule, gab
Geschichte und Heimatkunde - viele Eisenbahner waren seine Schüler;
im ersten Weltkrieg wurde er bei dem Versuch verwundet, das
Maskottchen seiner Einheit einzufangen, einen Ziegenbock...
Charles, unser »MascotMajor«, der sich vornehmlich von Cornflakes
und Tee ernährte... Nachdem sie mein Asylgesuch anerkannt hatten -
es war gar nicht so leicht damals, denn als Redakteur einer
Arbeiterzeitung billigten sie mir nicht den notwendigen Grad von
Gefährdung zu - von der Sammelstelle also machte ich mich auf zu
Charles Sullivan... Wißt ihr, mit welchen Worten er mich begrüßte?
Jeder ist willkommen in meinem Haus — vorausgesetzt, daß er es
übernimmt, einmal in der Woche meine Tiere zu füttern... Was er
hatte? Also ganz sicher lebten mit ihm in seinen anderthalb Zimmern
Katzen, Zierfische, Vögel und ein junger Kaiman, der am liebsten
Bleistifte fraß... Schaut euch die Haarfülle an, und Mr. Charles
Sullivan ist über siebzig... Sein Sohn übrigens, ein
Waffeningenieur, erfand für die Royal Navy eine Spezialmine;
Charles setzte ihm so lange zu, bis er seine Erfindung »vergaß«...
Was mich an ihm störte, was insbesondere Ida an ihm störte, Ida
Ehrlichmann, die an Wochenenden stundenlang beherrscht weinte - so
ein ruhiges, trockenes Weinen, das darauf schließen ließ, daß sie
ein distanziertes Verhältnis zu ihrem Schmerz hatte: seine
Förmlichkeit... seine mechanische Anteilnahme und Förmlichkeit..,
Wenn du Charles mit der unvermeidlichen Erregung anvertraut
hättest: ich habe leider meinen Bruder erschlagen müssen - er hätte
gewiß nicht mehr gesagt als: Oh, I see... Als Ida einmal,
erstaunlich genug, an einem Wochenende weinte - es war, als die
Verbindung mit ihrer Mutter in Breslau abriß - glaubte Charles nach
ihr sehen zu müssen, es lag ihm nicht daran den Grund ihres Leids
zu erfahren, er wollte lediglich seine Anteilnahme ausdrücken, und
so sagte er: Sorry... Machst du mir auch ein Glas, Eugen? Mit zwei
Stückchen Eis, bitte; der Bildwerfer läuft ganz schön heiß... Also
alles in allem wohnte ich hier dreieinhalb Jahre... In einem
Archiv, Thea; nach einigen Kurierdiensten gaben sie mir Arbeit in
einem Zeitschriften-Archiv: ich hatte internationale Berichte über
Flüchtlingsprobleme auszuwerten... Übrigens, ihr könnt euch
überzeugen: die gesamte Installation lag wirklich außerhalb des
Hauses...
Wer kennt dieses Bild nicht:
Trafalgar Square... Eugen weiß natürlich sofort, wo mein Standort
war... Und da, ganz verschattet, unter einer Wolke von Tauben, das
ist Eva; vor lauter Schreck ließ sie zwei Tüten mit Futter fallen
und flüchtete... Schaut euch die beiden Polizisten an; sie sehen
aus, als ob sie Beschwerden der Tauben entgegenzunehmen
hätten.
Wenn du weiter erklären willst,
Eva... Nein?... Ja, und hier seht ihr noch einmal den Trafalgar
Square, den Springbrunnen, aus dem Tauben sehr geschickt trinken
und in den manchmal junge Leute springen - Bedingung einer Wette...
Hier am Brunnen lernte ich Cynthia kennen, meine erste Frau, das
heißt: ich hielt sie fest, während sie sich auf Geheiß eines
sonderbaren Polizisten - eines nur hier möglichen Polizisten - das
Gesicht kühlte... Sie hatte etwas zuviel getrunken. Eugen wird euch
bestätigen, daß man in England nicht betrunken in der
Öffentlichkeit erscheinen darf... Cynthia fiel mir sofort auf,
nicht allein deswegen, weil sich wie immer die Farbe ihres Rockes
mit der des Pullovers und der Jacke stritt - eine Antwort auf die
dauerhafte Trübnis ihrer Straße -, sondern weil sie sich in weichem
Schlingergang, eine Hand auf der Steinbrüstung, auf den Polizisten
zubewegte und den Blick zur Spitze der Nelson-Säule erhoben,
mehrmals flüsterte: Komm runter, verdammt nochmal, komm doch
runter... Es war im Herbst achtunddreißig; du warst noch im Lande,
Eugen... Ja, ich weiß, bis zum Juni neununddreißig bliebst du
hier... Der Polizist, die Hände auf dem Rücken, ließ Cynthia sacht
an sich auflaufen; die offizielle Frage, das konnte ich erkennen,
war schon erarbeitet. Er fragte tatsächlich: Welche Gründe haben
Sie dafür vorzubringen, daß Sie angeheitert in der Öffentlichkeit
erscheinen? Worauf Cynthia ziemlich sachgemäß antwortete: Ich sah
gerade die Wochenschau im Kino. Ich hoffe, wir stimmen darin
überein, daß die Vorgänge auf dem Kontinent es rechtfertigen,
einige Gläser mehr als üblich zu trinken. Oder ist Ihnen das nicht
Grund genug? Der Polizist dachte nach, bewertete den Grund, war
offensichtlich zufrieden, empfahl dann aber doch: Für alle Fälle
sollten Sie sich ein wenig Kühlung verschaffen, am besten dort, im
Brunnen... Ich hielt Cynthia fest, während sie sich das Gesicht
kühlte, der Brunnen blieb lange Zeit unser Treffpunkt... Was meinst
du, Thea? O ja, wir haben sie gesehen, Eva bestand sogar darauf,
nicht wahr, Eva? Und wie du sagst, habt ihr euch gegenseitig
geschätzt, Cynthia und du...
Allerdings haben wir sie nicht
Zuhause besucht; wir trafen uns in einem Lokal, das sich »Khyber
Pass« nannte und wo einem schon beim Anblick der Speisen der
Schweiß ausbrach... Cynthia lebt mit Ida Ehrlichmann zusammen, sie
betreut sie... Sagt dir eigentlich dieser Name etwas, Eugen?
Nicht?
So, und das ist nun wieder
Speakers' Corner, aufgenommen an einem Sonntagvormittag... Der
lockenköpfige Redner, der sich gerade zu Eva hinabbeugt, machte ihr
den Vorschlag, Vizepräsidentin einer »Weltbewegung für totalen
Liberalismus« zu werden, so gut fühlte er sich von ihr
verstanden... Nein, nein, diese Polizisten sind nicht dazu da, die
glimmenden Zündschnüre von Revolutionen an Ort und Stelle
auszutreten; sie achten nur darauf, daß die Taschendiebe nicht
allzu erfolgreich werden... Wie bitte? Ja, ich weiß, Eugen, daß
sich einer deiner ersten Artikel, die du damals als Korrespondent
geliefert hast, mit den Hyde Park-Rednern beschäftigte... Obwohl es
mir schwerfiel: auch ich hab mich amüsiert... Dein Witz machte die
Geringschätzung versöhnlich; deine Verachtung für die Debatte wurde
doppelbödig durch die Heiterkeit - einfach weil du einen
unerfahrenen Taschendieb über seine Erlebnisse in einem politischen
Quassel-Zoo schreiben ließest... Du siehst, ich erinnere mich noch
daran... Sicher, Thea, du hast völlig recht: Eugen hatte es nicht
leicht als Korrespondent, er mußte sozusagen im Spagat schreiben,
hier Erwartungen berücksichtigen, dort den eigenen Vorbehalt
kenntlich machen. Ich will gern glauben, daß ich in meinem Archiv
weniger Risiken lief als Eugen: als anerkannter Emigrant war ich
gewissermaßen frei; er aber lief an langer Leine, die der für ihn
zuständige Mann in der Botschaft in der Hand hielt... Nein, Thea,
ich unterschätze weder die Gefahr, in der Eugen sich als
Sonderkorrespondent ständig befand, noch die Dürftigkeit der
Mittel, mit denen er sich von den Mächtigen zu Hause zu
distanzieren versuchte...
Eben, Eugen: Schreiben auf des
Messers Schneide, das war es damals... Nimm ruhig aus der neuen
Flasche... Und du, Thea, du mußt unbedingt die Schinkenspieße
probieren, und die gefüllten Oliven natürlich... Etwas weiter unten
am Hyde Park kannst du übrigens Bilder kaufen, selbstverständlich
nur an trockenen Tagen, Sonntagsmaler... War dein Büro nicht
irgendwo in der Nähe? In der Shaftesbury Avenue? Ach richtig, das
hast du mal erzählt.
Und hier - nein, dieser Vogel
steht auf dem Kopf -, hier habt ihr einen der Original-Tower-Raben:
Eva wagte nicht, ihm längere Zeit ins unbewimperte Auge zu sehen;
Cynthia, meine erste Frau, mochte ihn nicht nur, es war ihr
Lieblingsvogel - und zwar nicht allein, weil er klug und beredsam
ist, sondern weil er etwas vorführt: daß nämlich jeder Versuch,
durch Würde zu beeindrucken, ins Lächerliche gerät... Natürlich
wollte Cynthia wissen, was ich jetzt treibe, und ich erzählte ihr
von deiner Agentur, Eugen - sie kannte sie seltsamerweise nicht -
und daß du mich beteiligt hast... Jedenfalls, ein durch und durch
literarischer Vogel.
Warum wir dieses Bild gemacht
haben - weißt du's noch, Eva?... Wie ihr seht, es ist die rote,
bestickte Tracht eines Fremdenführers im Tower... Die blaue
Knollennase, das fleischige Gesicht: vermutlich gehören sie einem
ehemaligen Feldwebel, der die Geschichte zum Rapport befiehlt und
ihr beweist, daß sie keinen Gesetzen folgt, sondern nur dunkler
Gewalt und romanhafter Machenschaft... Wie der redet, gestikuliert,
demonstriert: da gewinnt Geschichte auf einmal eine schlimme
Glaubwürdigkeit - was schon dadurch bewiesen wird, daß man sich vor
ihren Richtstätten in Gelächter rettet... Ich weiß nicht, es muß
wohl auch an den Kostümen liegen, daß man auf einmal das Gefühl
hat, alles hat sich wirklich ereignet, ich muß mich darum
kümmern... Nein, Thea, ich brauche jetzt einen soliden Schnaps -
aber bedien dich ruhig und schenk auch Eugen nach... Ihr könnt euch
vorstellen, welch ein Aufsehen entstehen mußte, als eines Tages ein
unbekannter Fremdenführer im Tower auftauchte, ein zarter,
dunkeläugiger Mann, der Englisch mit bayerischem Akzent sprach...
In der Uniform der »Yeoman Warders« zog er sogleich die Besucher
auf sich und sprach mit leidenschaftlicher Ergriffenheit - weniger
über die dunkle Romanhaftigkeit der Geschichte... Er demonstrierte
ihr unheilvolles Gesetz: wenn in einer bestimmten Lage die
bestimmten Bedingungen zusammentreffen, dann entsteht mit
Notwendigkeit dieses voraussagbare Resultat... Er sprach im Tower
über die Lage in Deutschland... Die hiesige Geschichte nahm er zum
Anlaß, um auf die jüngsten Exzesse in seiner Heimat hinzuweisen...
Heimsohn...
Michael Heimsohn, ein brillanter
Historiker, der als Emigrant in unserem Archiv arbeitete, neben
mir... Natürlich Thea, kann ich dir sagen, warum er es tat: er
wollte die Aufmerksamkeit verschärfen und glaubwürdig klingen...
Was er in gelegentlichen Vorträgen nicht erreichte - als
Fremdenführer im Tower gelang es ihm; freilich nur so lange, bis
man seine List entdeckte... Entschuldige, Thea, aber ich verstehe
nicht, warum du dich so erregst... Wir sehen uns doch nur einige
Dias an... Aber ich bitte dich: wie kannst du sagen, daß hier
jemand unwillkürlich angeklagt werden soll... Es gab eben zwei
Seiten; Eugens Schicksal bestand darin, auf der einen Seite zu
stehn, und meins, auf der andern Seite... Schicksal ist schon
zuviel: Leute wie wir haben kein Schicksal, allenfalls Lebensläufe,
und die zwingen uns mitunter auf verschiedene Sitzplätze... Aber
weshalb denn? Weshalb fühlst du dich schon gereizt, wenn ich so
etwas feststelle?... Nun mußt du aber eingreifen, Eugen, mit dem
klärenden Wort, das wir von dir gewöhnt sind... Du mußt Thea recht
geben? Ja, verdammt nochmal, woran liegt denn das? Ihr braucht euch
doch nicht zu verteidigen: selbstverständlich weiß ich, was es
bedeutete, zuhause zu bleiben, unter den Luftangriffen zu leben,
mit Ersatzstoffen, oder gar eingezogen zu werden, und dann, wie du,
Eugen, einen Arm zu verlieren... Ich führe euch doch nur Bilder vor
von einer Reise, die Eva und ich in diesem Herbst gemacht haben...
Mittlerweile muß doch jeder ein erträgliches Verhältnis zu seiner
Vergangenheit gefunden haben... Das ist eine gute Idee,
Eva...
Ein neues Bild, und was ihr seht,
ist Soho bei Tag - das einzige Vergnügungsviertel, das, so scheint
mir, bei Tageslicht mehr preisgibt als bei Nacht... Deinen großen,
bebilderten Bericht, Eugen, habe ich übrigens noch im Gedächtnis...
Was Soho heißt? Es war wohl der Kampfruf eines Raubritters, der
diese Gegend einmal für sich beanspruchte... In Soho erkennt man
nämlich am Tag - und nur am Tag -, mit welcher Bereitwilligkeit
dieses England ganze Flüchtlingsgenerationen aus aller Welt
aufgenommen hat. Und gleichzeitig erfährt man die feine
Abschätzigkeit, mit der ein Ausländer bedacht wird... Das da vorn
ist ein Delikatessengeschäft, daneben eine marokkanische Kneipe,
und wiederum daneben eins der teuersten Restaurants der Stadt -
»Christopher Colombo«. Über dem Delikatessengeschäft - die Schilder
im Hausflur sind leider nicht zu sehen - kannst du nicht nur
holländischen und französischen, sondern auch persischen und
algerischen Privatunterricht nehmen... Wenn ich mich recht
erinnere, Eugen, hast du damals ziemlich kritisch über Soho
geschrieben... Zigaretten liegen auf dem Hocker, gleich neben
dir... Ironisch gerichtet hast du Soho - vielleicht ohne zu wissen,
daß es hier, in diesem Delikatessenladen, die beste deutsche
Leberwurst zu kaufen gab, besser noch als in Hamburg... Cynthia,
meine erste Frau, war so begeistert, daß sie mich einmal bat, einen
ganzen Kringel mitzubringen; scheibchenweise verteilte sie ihn an
ihre Schützlinge als Belohnung... Sie war Kindergärtnerin, ja...
Und auch heute - trotz allem, was geschehen ist —, wenn sie heute
in der Nähe zu tun hat, vergißt sie nie, sich in diesem Laden ein
Stück Leberwurst zu holen... Stell dir vor, sagte sie einmal zu
mir, wenn ihr euch nur auf solche friedlichen Spezialitäten
konzentriert hättet...
Und hier, Eugen weiß natürlich
sofort, wer hinter diesem Bretterzaun seine geladene Armbrust in
Richtung Soho hebt: Eros selbstverständlich, sein Standbild ist das
Wahrzeichen von Piccadilly Circus... Ich bin froh, daß ich euch den
Anblick ersparen kann - das Denkmal ist von erlesener
Scheußlichkeit, hingegen verdient der Bretterzaun jede
Aufmerksamkeit... Nein, das Denkmal wird nicht gerade restauriert;
die Bretter stellen eine vielsagende Schutzmaßnahme dar... Wogegen?
Gegen nationale Begeisterung, gegen Freude, die sich gewaltsam
äußern muß... So ist das hier: wenn zum Beispiel die
Nationalmannschaft ein begeisterndes Fußballspiel liefert, gerät
die Nation aus dem Häuschen und Eros in Gefahr; darum muß der Knabe
geschützt werden, vorsorglich... Frag die Psychologen, warum Eros
hier büßen muß, sobald ein Anlaß zu nationaler Begeisterung
besteht... Geradeaus, Eugen, und dann die letzte Tür links; ich hab
das Licht im Bad brennen lassen... Dort übrigens, in dieser
Imbiß-Scheune - es gibt hier etliche davon - haben Cynthia und ich
nach der Trauung gegessen, zusammen mit unseren Trauzeugen: Charles
Sullivan, meinem Wirt, und Ida Ehrlichmann, die sich ausnahmsweise
selbst zwei Stunden freigegeben hatte... Warum? Weil sie beinahe
zweihundert Kunden hatte, denen sie nichts anderes als ihre Zeit
und Teilnahme anbot - ältere, alleinstehende Menschen zumeist, die
sie einmal in vierzehn Tagen besuchte, und die noch dringender auf
sie warteten als auf den Milchmann... Unser Komitee, sie hatte in
unserem Komitee freiwillig diese Aufgabe übernommen, eine magere,
dunkelhäutige Frau, die sich, wie ich erfuhr, heimlichen Exerzitien
unterwarf mit dem Ziel, in ihrer Anteilnahme nicht zu ermüden und
das Erfahrene als verpflichtenden Besitz zu behandeln... Cynthias
Familie? Das kann ich dir sagen, Thea: Cynthias Vater war Kapitän
auf einem Fischdampfer, ein wohlhabender Mann. Als er erfuhr, wen
Cynthia zu heiraten beabsichtigte, schickte er ihr ein
Beileidstelegramm, für das er sich allerdings während des Krieges
entschuldigte... Gut, daß du wieder da bist, Eugen, wir wollen uns
gerade ein neues Bild zu Gemüte führen... Und den Namen von Ida
Ehrlichmann hast du wirklich noch nie gehört? Ja, du sagtest es
bereits.
Dies Bild hat Eva gemacht, es muß
der St. James Park sein - nein, es ist wieder der Hyde Park...
Eigentlich müßtest du erzählen, Eva, was dich hier so reizte...
Eben, es sind nicht nur die Uniformen dieser englischen Nannies, es
sind die drei ungetümen Kinderwagen, die die strengen Kindermädchen
zu einer Art Wagenburg zusammengeschoben haben... Und wenn ihr
genauer hinseht, entdeckt ihr an jedem dieser Wagen eine kleine,
goldene Krone, was soviel heißt, daß ihr plärrender, gepuderter,
vermutlich in nassen Windeln hegender Inhalt von adligem Geblüt
ist: beachtet mich, zwar scheiße ich in die Strampelhose, doch
alsbald werde ich unweigerlich einen bekannten Namen erben... Ganz
recht, Eugen, wenn das kein Klassenbewußtsein ist... Nein, es ist
mir nicht bekannt, daß du damals auch über den englischen Adel
geschrieben hast... Unterdrückt? Sie haben deinen Artikel
unterdrückt? Das wundert mich nicht; schließlich gab es da einige
seltsame Sympathien; ich habe selbst eine Photographie gesehen, die
einen gewissen Herzog von Windsor mit einem gewissen Robert Ley
zeigt, ausgerechnet mit dem Leiter der Arbeitsfront.
Dies Bild wollte ich nicht
zeigen, ich weiß gar nicht, wie es in den Stapel geraten ist... Du
vermutest richtig, Eugen: es ist das Albert Memorial in den
Kensington Gardens... Meinst du, Eva? Aber ich fürchte, das wird
Thea und Eugen kaum interessieren... In der Tat seht ihr nichts
anderes als das Albert Memorial, ein reitendes Paar, Schläfer auf
dem Rasen; hier in der Nähe geschah einmal ein Unglück, es war zur
Zeit der Invasion... Cynthia wollte mit ihren Kindern die Straße
überqueren, sie achtete immer darauf, daß alle sich an den Händen
hielten, doch einige rissen sich los, und ein Lastwagen der Armee
konnte nicht mehr rechtzeitig bremsen... Der Schock war so groß,
daß sie fast ein halbes Jahr im Hospital blieb, kaum sprach, und
wenn, dann nur über Schuld... Ja, so war es auch: in ihren Augen
traf die Schuld keinen einzelnen, sondern den Krieg, und dieser war
nach ihrer Ansicht...
Wie meinst du, Thea?... Ich
glaube, dies ist keine Ge
legenheit, zu vergleichen, ein Unglück gegen
das andere auszuspielen, eine Not an der andern zu messen... Ich
weiß, daß beim großen Bombardement von Hamburg viele Kinder
verbrannten. Aber spürst du denn nicht, daß wir von verschiedenen
Heimsuchungen sprechen? Zählen die Ursachen denn gar nicht mehr?...
Nein Eugen, ich versuche nicht, die Opfer zu unterscheiden und für
einige mehr zu beanspruchen als für andere. Ich frage mich nur, ob
es zur gleichgültigen Geschäftsordnung der Geschichte gehört, daß
wir die Opfer ein zweites Mal sterben lassen, indem wir darauf
verzichten, Schuld zu übernehmen... Einverstanden, darüber können
wir mal bei anderer Gelegenheit sprechen.
Was sich auf diesem Bild so unscheinbar gibt:
die »Straße
der Tinte«, Fleet Street... Hier also sind
die Kollegen von der Presse Zuhause, die »siebente Weltmacht«.
Soviel ich weiß, ist die angemessene Geschichte dieser Straße noch
nicht geschrieben worden - oder täusche ich mich, Eugen? Ein
mühsamer, ein geduldiger Weg vom Verbot aller Gazetten bis zur
Pressefreiheit... Den größten Widerstand übrigens sollen Kollegen
geleistet haben, die vom Staat bestochen worden waren, gekaufte
Schreiber und Schönfärber... Welch eine Zeit muß das gewesen sein,
als auf dem ganzen Weg von Old Bailey bis zur Fleet Street Reporter
Posten bezogen hatten, um das letzte Urteil an die Redaktion zu
signalisieren - für die allerneueste Meldung... Jedenfalls, ich
hatte die Ehre, Fleet Street als meine Adresse angeben zu können...
Du auch, nicht, Eugen? Aber ihr wart doch auf einen
Informationsdienst abonniert damals?... Eben, dich muß doch der
Beruf regelmäßig hierher geführt haben... Nein, im »Ye Olde
Cheshire Cheese« war ich nie aber ich habe von diesem alten Pub
gehört. Ida Ehrlichmann war manchmal dort, sprach Zeitungsleute an,
suchte sie für die Schicksale und die Situation ihrer »alten
Kunden« zu interessieren... Sie erzählte mir von zähen
Überredungsversuchen, die oft deshalb erfolglos blieben, weil ihre
Erzählungen »unrealistisch« schienen... Wie mußte ihr zumute sein:
sie, eine Sachverständige der Not, deren Berichte gleichwohl
unglaubwürdig wirkten... Hier, in diesem Pub, sind ihr auch ihre
Listen abhanden gekommen... Ich weiß, Eva, aber bisher gab es wohl
keinen Anlaß, dir davon zu erzählen... Es waren die Listen mit den
Adressen all ihrer Schützlinge, dazu private Äußerungen über ihre
Lage und Tätigkeiten; ihr könnt euch vorstellen, was der Verlust
für sie bedeutete. Und ihr könnt wohl auch ermessen, wie es sie
traf, als einige ihrer »Kunden« anonyme Warnungen erhielten;
drohende Aufforderungen zum Wohlverhalten gegenüber der alten
Heimat... Es war nicht möglich, Thea... Sie hatte keine Gewißheit,
nur einen Verdacht... Ich teile durchaus ihre Annahme, daß die
Listen an die Botschaft gelangt sind... Das kann ich dir sagen,
Eugen: sie trug diese Listen deshalb mit sich herum, weil es im
Haus von Charles Sullivan keine Schlüssel zu den Zimmern gab... Du
hast deine Zweifel, Thea? Gut, dann will ich dir sagen, daß auch
ich eines Tages eine anonyme Warnung erhielt; man riet mir, meine
»feindliche Tätigkeit« im Archiv aufzugeben... Aber warum wollt ihr
denn nichts mehr trinken?... Eva, nötige doch mal ein
bißchen...
Und hier seht ihr einen
Straßenmaler, am Victoria Embankment... Der Mann fiel mir deshalb
auf, weil er - ihr könnt es erkennen - nur Straßenmaler malte, die
ihrerseits auch wieder Straßenmaler malten... Schaut euch die Beine
der Zuschauer an, die Mädchenbeine, die Männerbeine, schaut nur
genauer: es ist jeweils nur ein eigentümliches Bein, also müssen
die Zuschauer einbeinig sein.
Eine historische Aufnahme, ja,
dies ist ein Bild von historischem Wert, denn inzwischen wurde die
»Windmill« abgerissen, einer der berühmtesten Unterhaltungsschuppen
- Show-Programme waren die Spezialität der »Windmill«; und ihr
Wahlspruch, der durch Kühnheit oder Wurstigkeit oder ganz einfach
durch englischen Trotz legitimiert war, lautete: »Nie
geschlossen«... In deinem Aufsatz, Eugen, - er hieß wohl: »Was ist
englisch an den Engländern?« - hast du damals diesen glorreichen
Trotz vergessen, der zu Unerwartetem befähigt. Ich wollte sagen:
die «Windmill« hat ihren Wahlspruch während des Krieges erworben:
nicht einmal der wütendste Bombenangriff beeindruckte die Direktion
so sehr, daß sie sich zum Abbruch des Programms entschlossen hätte.
Hier wäre die Schau weitergegangen, selbst wenn es Brandbomben
geregnet hätte, und was ich über die Direktion gehört habe: die
hätte es fertiggebracht, den Gästen zum Abschied noch warme
Bombensplitter als Souvenir zu überreichen... Nein, Thea, nicht
sehr oft, vielleicht ein halbes Dutzend Mal... Wann ich zuletzt
dort war? Das kann ich sogar genau sagen: im Herbst
sechsundvierzig, einen Tag, bevor mich die letzte Fähre von Harwich
auf den Kontinent brachte... mit Cynthia, ja, mit meiner ersten
Frau... Wir hatten gepackt, Abschiedsbesuche gemacht, zwei Plätze
reserviert, alles war beschlossen und geordnet und abgesichert, und
am letzten Abend, der uns auf der Insel geblieben war, gingen wir
in die »Windmill«... Wie immer, viele Soldaten, gute Musik, eine
sehr freigebige und witzige Show... Cynthia hatte offenbar nur
einen Gedanken: sie fragte wohl schon zum fünften Mal, woran es
liegen könnte, daß er überhaupt nicht älter werde; sie meinte einen
sehr ernsten Zeitungsverkäufer, den wir schon seit Jahren
kannten... Wie bitter Nein, Eva, das ist wohl zu privat... Ach, nur
den Abschied meinst du?... Da habe ich auch nur Vermutungen -
manchmal glaube ich sogar, daß alles anders verlaufen wäre, wenn
wir nicht versucht hätten, den letzten Abend in der »Windmill« zu
verbringen... Cynthia stand auf einmal auf und nickte mir zu,
während der Vorstellung, in dem Augenblick, als eine neue Nummer
angekündigt wurde, die »Katzenwäsche« hieß. Natürlich nahm ich an,
daß sie gleich wieder zurückkehren werde, doch die »Katzenwäsche«
und zwei andere Nummern gingen vorüber, und ihr Platz blieb leer...
Sie saß zuhause, auf dem Fensterbrett, rauchte, machte eine Geste
gegen das Gepäck hin, gegen mein Gepäck... Sie hatte ihre Koffer
bereits wieder ausgepackt... Mag sein, Thea, vielleicht auch Furcht
oder Vorurteile, oder weil sie die Entdeckung gemacht hatte, nicht
vergessen zu können; sie selbst erklärte es nicht und konnte es
auch später nicht erklären. Sie war nur davon überzeugt, dem Leben
hier nicht gewachsen zu sein... Nein, sie machte zumindest keinen
entschiedenen Versuch; sie sah ein, daß ich zurückkehren mußte, und
am nächsten Tag bestand sie sogar darauf, mich zum Zug zu bringen.
In diesem Augenblick wußten wir beide, daß mehr beschlossen war als
nur meine Abreise.
Wollt ihr noch mehr Bilder sehen?... Wir sind
auch gleich
am Ende, Thea... Wenn du mich so fragst: die
Lehre, die England jedem erteilt, besteht darin, daß nichts so
dauerhaft, so langweilig und bekömmlich ist wie eine Ehe zwischen
Vernunft und Erfahrung... Was ist denn das? Eine Marktszene, ja,
der berühmte Straßenmarkt in der Portobello Road... Weißt du, Eva,
warum wir den aufgenommen haben? Jedenfalls, Eugen kann euch
bestätigen, wie sehr man in dieser Stadt darauf hält, unter
Gleichen zu sein: gleichen Neigungen nachzugehen, von den gleichen
Produkten zu leben, die gleiche Zunftsprache zu sprechen... Die
Ärzte, die die höchsten Rechnungen schreiben, zieht es wie
selbstverständlich in die Harley Street; wer einen Luxusladen
eröffnen will, denkt zunächst an die Bond Street; ein Zeitungsmann
hält sich an die Fleet, und wer mit einer Botschaft zu tun hat, der
ist über kurz oder lang auf Belgravia angewiesen... Ich weiß nicht,
Thea, woran das liegt; vielleicht geheime Merkmale,
Erkennungszeichen oder Hoffnungen; vielleicht aber auch das
übereinstimmende Gefühl, Treibgut zu sein, Zeuge für die
Gleichgültigkeit der Geschichte... Auch die Not hat ihre
Anziehungskraft, ihr Aroma...
Wie ich das meine? In dem Haus,
in dem Ida Ehrlichmann heute wohnt, leben außer ihr noch sieben
Emigranten: gleiches Los drängt auf gleiche Adresse - so als müßte
man sich mit Hilfe des Nachbarn der eigenen Wirklichkeit
versichern, der gleichen Narben und Untröstlichkeiten... Man
versteht einander ohne Bedingungen. Und natürlich verstand jeder im
Haus Ida Ehrlichmann, die eines Tages - man stelle sich vor: eine
alte Frau von gesammelter Freundlichkeit - auf den Konsulatsbeamten
schoß, der ihren Wiedergutmachungsantrag bearbeitete... Ein junger
Mann, der sich unbeteiligt in ihr Leben hineinfragte, der natürlich
keine Rücksicht nehmen konnte auf die Einzigartigkeit des
Erlittenen... Aus ihrem Stofftäschchen holte sie ruhig einen
Revolver hervor und schoß, ohne Schaden anzurichten... Cynthia
erzählte, daß der Beamte sie an einen Mann erinnerte, den sie
mehrmals im »Cheshire Cheese« getroffen hatte... Wie gesagt, sie
hat sich ihrer angenommen... Aber warum denn so überstürzt, Thea?
Seid doch nicht so überempfindlich, ich versteh dich nicht - wo
soll hier eine Anklagebank stehen?... Es tut mir leid, wenn es dir
so vorkommt, doch hier macht niemand den Versuch, irgend jemandem
ein schlechtes Gewissen beizubringen... Entscheide du, Eugen: wir
stellen das Ding jetzt ab und nehmen gemütlich einen zur Brust...
Mein Gott: dir muß es doch ähnlich gehen: Bilder aus der Eisenzeit,
unwirklich, kaum noch zu glauben... Da kann man nichts machen, wenn
du dich erschöpft fühlst; dennoch, wir bedauern sehr, daß ihr so
plötzlich aufbrechen wollt... Wie meinst du das, Eugen?
Natürlich hat jeder seine eigenen
Erinnerungen... Vielleicht Gegenerinnerungen, wie du sagst... Also
ihr wollt nicht einmal austrinken? Schade... Nein, Eva, ich geh
schon mit zur Tür... Nichts vergessen, Thea? Den Schal vielleicht,
wie am letzten Sonntag? Wieso denn; ich glaube, wir haben
ebensoviel zu bedauern.
Was sehe ich, Eva: du verschaffst
dir wohl deine eigene Vorstellung... Wenn mich nicht alles täuscht,
unser alter Pub in der Fleet Street, »Ye Olde Cheshire Cheese«...
Ich gebe zu, ich hatte es vorhin bewußt ausgelassen und zur Seite
gelegt... Schau dir die geschmiedete Laterne an und das alte
Ornament über der schmalen Tür: dort ist ihr passiert, was sie bis
heute nicht verwunden hat; dort sind Ida Ehrlichmann die Listen
ihrer »Kunden« abhanden gekommen... Weiß ich, was ihr überstürzter
Aufbruch bedeutete?... Thea fühlte sich noch mehr herausgefordert
als Eugen... Vielleicht wirst du es jetzt einsehn: solange
unseresgleichen lebt, muß man darauf gefaßt sein, daß die
gemeinsame Besichtigung von Vergangenheit schon ausreicht, um
verfrüht aufzubrechen... Verfrüht und argwöhnisch... Frag mich
nicht danach, Eva: ich traue ihm nichts zu und alles... Tu ruhig
drei Stückchen Eis ins Glas... Was ich nun vorhabe, kann ich dir
genau sagen: nicht weil er mein Chef ist, sondern weil er heute
unser Gast war, werde ich in etwa vierzig Minuten bei ihm anrufen
und ihn fragen, ob er sicher nach Hause gekommen ist. Morgen haben
wir einen ziemlich schweren Tag.
1973