Die Schmerzen sind zumutbar


Wir sind noch nicht einmal mit dem Stubenreinigen fertig, wir beide von der Vernehmung, da erscheint sein Adjutant. Der Adjutant läßt sich von Erich Meldung machen, hört genau zu, viel genauer und sorgenvoller als sonst, mustert uns mit skeptischer Neugierde, auch mit Mißtrauen, gibt sich mit unserer Vorderansicht nicht zufrieden und umrundet uns, sehr langsam umrundet er uns und prüft uns auch von hinten, so daß Erich und mir bald klar ist: das wird kein gewöhnlicher Tag. So lange hat sich sein Adjutant noch nie mit uns beschäftigt. Die langsamen Bewegungen, die Aufmerksamkeit, das spickende Mißtrauen sagen uns gleich: der hat was auf dem Herzen, und daß wir uns nicht täuschen, beweist er uns durch die Art, wie er unser Werkzeug durchmustert, auf das wir mitunter zurückgreifen müssen. Schweigend, mit gesenktem Gesicht geht er zum Streckbrett hinüber, betrachtet nachdenklich Wippe und Nagelbank, begrüßt stumm Schläuche, Stricke und elektrische Kabel, schenkt auch den Klemmen und Ledergürteln sein Interesse, die sich in einwandfreier Disziplin anbieten. Der Adjutant sagt kein einziges Wort, er nickt nicht einmal. Steif bewegt er sich, zögernd, er ist bedrückt. Wir erwarten etwas von ihm, erwarten sogar etwas Bestimmtes - nennen wir es ruhig Anerkennung; die hat Erich durchaus verdient für den erfolgreichen Bügeltisch, den er selbst entwickelt hat. Aber sein Adjutant mustert und prüft nur alles, wobei er sich augenscheinlich vor Berührungen hütet, und dann geht er wieder stumm hinaus.
  Wir blicken uns an, wir lösen uns aus der Spannung und wollen gerade mit der Deutung des Besuchs beginnen, als sein Stabschef erscheint. Auch der Stabschef läßt sich von Erich Meldung machen; auch der Stabschef betrachtet uns genauer und sorgenvoller als sonst, geht um uns herum, läßt sich hinten erklären, was wir ihm vorne schuldig bleiben; zuletzt befiehlt er uns, die Hände zu heben. Wir heben die Hände. Der Stabschef dreht die Innenflächen nach oben, er beginnt zu lesen. Die Lektüre gibt die nötigen Auskünfte, er lächelt vorsichtig, sein Mißtrauen scheint teilweise widerlegt. Der Stabschef hat unsere Hände mit Gewinn gelesen, Er drückt sie sacht nach unten und sieht sich um, vielleicht wird er ein anerkennendes Wort für den Bügeltisch übrig haben, den Erich entwickelt hat. Der Stabschef wendet sich unentschlossen unserem Werkzeug zu, als der Bursche des Oberbefehlshabers mit zwei Wolldecken, einer Flasche Cognac und Zigaretten erscheint. Der Bursche zwinkert uns zu, für sein Zwinkern ist er bekannt. Achtsam legt er die Wolldecken auf das Streckbrett, stellt den Cognac auf die Wippe, legt die Zigaretten gut sichtbar daneben. Erich sieht ihn verwirrt an, und man weiß, was er fragen mochte, aber nicht zu fragen wagt. Der Bursche ordnet seine Uniform und stellt sich so neben der Tür auf, daß man vor lauter Erwartung nur noch die Tür anstarrt, es bleibt einem nichts anderes übrig.
  Wir blicken auf die Tür. Der Stabschef hat, im Gegensatz zum Adjutanten, unser Werkzeug flüchtig, vielleicht gedankenlos betastet; jetzt kommt er näher und blickt ebenfalls auf die Tür. Uns braucht keiner mehr zu sagen, mit wessen Besuch wir zu rechnen haben. Auf einmal seufzt der Stabschef; auch wenn es unwahrscheinlich klingt: er seufzt und zuckt die Achseln und gibt Erich durch eine Geste zu verstehen, daß ihn etwas bedrückt. Es ist ihm anzusehen, daß er Erich mit seiner Sorge bekannt machen möchte, aber einstweilen noch nach dem Ton sucht, in dem das geschehen könnte. Der Stabschef sucht nach einer angemessenen Form des Anvertrauens. Er spürt Widerstände. Dann sagt er, was wir schon wissen; nach einem Seitenblick auf den Burschen des Oberbefehlshabers sagt er, daß der Oberbefehlshaber selbst hier gleich erscheinen wird, wir möchten uns darauf vorbereiten. Wir starren auf die Tür: der Oberbefehlshaber ist noch nie bei uns im Vernehmungszimmer gewesen, er ist uns nur aus Zeitungen und Wochenschauen bekannt, allerdings so gut, daß wir ihn mühelos wiedererkennen können. Sein Stabschef nickt bedenklich. Er gibt uns bekannt, daß der Oberbefehlshaber in besonderer Angelegenheit erscheinen werde: zu Hause, also ziemlich weit weg, sagt der Stabschef, habe man sich erregt über die Mittel, die bei der Vernehmung von Gefangenen angewendet werden. Es herrscht dort hinten sogar Empörung, sagt der Stabschef. Es werden, sagt der Stabschef, Unterschriften gesammelt, mit denen gegen die Methoden der Gefangenenvernehmung demnächst protestiert werden wird. Der Stabschef schweigt einen Augenblick, sein Schweigen enthält keinen Vorwurf, er betrachtet von nahe seinen Handrücken. Dann spricht er leise auf seinen Handrücken hinab. Er sagt: Der Oberbefehlshaber will alle Kritiker zu Hause selbst widerlegen, er will sie persönlich ins Unrecht setzen. Zum Beweis, daß die Mittel, die bei der Gefangenenvernehmung angewandt werden, erträglich und zumutbar sind, wird er hier erscheinen und, so sagt der Stabschef, diese Mittel an sich selbst ausprobieren lassen. Der Oberbefehlshaber will sich zur Probe unter normalen Bedingungen vernehmen lassen und damit allen beweisen, daß die Vernehmungen erforderlich und zu erdulden sind. Es soll so etwas wie ein Beispiel werden, sagt der Stabschef, ein humanes Experiment. Nachdenklich geht er zur Wippe, hebt die Cognacflasche hoch, liest das Etikett und hat gegen die Marke nichts einzuwenden. Er gibt Erich den Befehl, Schaufel und Besen wegzuräumen. Er streichelt die Wolldecken, die der Bursche hereingebracht hat. Es interessiert ihn nicht, ob wir auch etwas zum Plan des Oberbefehlshabers zu sagen haben. Während Erich Besen und Schaufel in ein Spind schließt, kann man schwarze Schweißflecken unter seinen Achseln bemerken, und es fällt auf, daß seine Hände zittern. Erich leckt wiederholt über seinen Daumen, wie immer, wenn er erregt ist, er poliert den Daumen an der Hüfte. Erichs schwerer, würfelförmiger Kopf beginnt in langsamem Rhythmus zu nicken. Plötzlich reißt der Bursche die Tür auf, er muß den Schritt seines Herrn früher hören können als andere. Starr steht er da und hält die Tür auf; auch wir stehen starr da, der Stabschef salutiert. Der Oberbefehlshaber geht, wie man ihn in der Wochenschau hat gehen sehen, er gleicht den Photographien, die die Zeitungen täglich von ihm veröffentlichen. Müde kommt er herein, lustlos, ein kleiner, ausgezehrter Mann, sein Gesicht ist fleckig, die dunklen Augen liegen tief. Mit seinen Niederlagen hat er sich die Sympathien der Opposition erworben, durch seine Siege hat er schon zu Lebzeiten das Lesebuch erreicht. Wie eng sein Brustkasten ist! Die Schultern sind schmal, der Hals sehnig, unter dem Uniformhemd kann man die Nackenwirbel erkennen. Zerstreut hebt er eine kleine trockene Hand grüßend an die Mütze. Er geht quer durch das Vernehmungszimmer, wendet sich ruckhaft um, blickt gleichgültig auf seinen Adjutanten und einen Mann in Zivil, die ihm gefolgt sind. Der Oberbefehlshaber ist nur mit Khakihemd und Tuchhose bekleidet, er trägt leichte Stoffschuhe und einen einzigen, ins Gelbliche spielenden Orden. Er nimmt die Mütze ab. Er schließt die Augen; dann wendet er sich an Erich und möchte von ihm wissen, ob er unterrichtet und bereit ist.
  Erich lächelt gequält, er weiß etwas und weiß nichts, er hat da etwas gehört, was er nicht glauben kann, denn das, was man von ihm verlangt, könnte man vielleicht von andern verlangen, und so weiter. Erich erklärt, daß er der Aufgabe nicht gewachsen ist. Erich gibt sich Mühe, hilflos zu erscheinen, überfordert, ungeeignet. Erich bekennt, daß er nicht der Mann sei, um eine Probe-Vernehmung durchzuführen, noch dazu bei seinem eigenen Oberbefehlshaber. Er sehe den Grund ein, sagt Erich, das schon, aber in diesem Falle bringe er auch nicht mehr fertig.
  Der Oberbefehlshaber läßt sich von seinem Burschen ein Cognacglas füllen, trinkt, öffnet sein Hemd über der Brust und steht schweigend und erwartungsvoll da. Erich poliert seinen Daumen an der Hüfte. Der Adjutant, der Stabschef und der Zivilist treten ans Fenster, lehnen sich an und sind Publikum. Ich habe den Eindruck, daß alle Erfahrungen, die Erich mir voraus hat, unnütz geworden sind. Der Oberbefehlshaber steht nur stumm da, nein, das trifft nicht zu - einmal sagt er etwas, er sagt zu sich selbst: Ich brauche den Beweis, also fangen wir an. Erich sieht sich ratlos um, von überall her treffen ihn ruhige auffordernde Blicke. Seine Verlegenheit macht ihn beweglich, er windet sich, wirft den Kopf hin und her, greift in die Luft. Es geht nicht, sagt Erich niedergeschlagen, ich kann es nicht; denn wonach soll ich forschen? Der Oberbefehlshaber nickt, er kann diese erhebliche Verlegenheit einsehen, und er entscheidet: die Vernehmung soll der Umgruppierung der Streitkräfte im westlichen Bergland gelten. Erich tritt einen Schritt zurück, einen Schritt, der Ratlosigkeit und Weigerung ausdrücken soll, worauf der Stabschef die Worte des Oberbefehlshabers langsam wiederholt. Fangt endlich an, sagt der Adjutant; der Zivilist sagt nichts.
  Auf einmal blickt Erich den Oberbefehlshaber an, lange, viel zu lange, wie mir scheint, sie prüfen, sie erkunden einander mit Blicken, und dann gibt Erich mir einen Wink, und ich weiß, was der Wink bedeutet: ich biete dem Oberbefehlshaber eine Zigarette an und gebe ihm Feuer. Der Oberbefehlshaber lächelt nicht, er raucht hastig, als ob er Zigaretten lange entbehrt hätte. Erich bittet den Oberbefehlshaber gehorsamst, sich auf einen ganz gewöhnlichen Stuhl setzen zu wollen, dieser Aufforderung wird nicht entsprochen, weil sie nicht glaubhaft klingt, und Erich muß die Aufforderung wiederholen, schlichter, nachdrücklicher. Er sagt einfach: Setzen Sie sich hier hin. Der Stabschef möchte wissen, ob Erich bei den Vernehmungen die Gefangenen duzt oder siezt, er duzt sie selbstverständlich, er sagt: Wenn man sich so nahe ist, bleibt es nicht aus, daß man aufs Du kommt. Dann machen Sie's doch wie gewöhnlich, sagt der Stabschef; doch Erich schüttelt bekümmert den Kopf und gibt mir einen zweiten Wink, worauf ich, ganz gewohnheitsgemäß, dem Oberbefehlshaber die angerauchte Zigarette fortnehme. Das gefällt dem Adjutanten. Der Adjutant zeigt sich belustigt, er tippt dem Zivilisten auf den Unterarm. Erich überlegt, langsam zieht er den Kopf in die Schultern ein, er überlegt sorgfältig, und dann lacht er auf, reißt mit verzerrtem Gesicht seine Arme hoch und laßt sie kraftlos herabfallen: Erich, die reine Hilflosigkeit.
  Da erhebt sich der Oberbefehlshaber von dem Stuhl, den Erich ihm angewiesen hat, sagt nichts, fordert und befiehlt nichts, sondern steht nur, der Oberbefehlshaber, klein und ausgezehrt da und zwingt Erich stumm in den Blick seiner tiefliegenden Augen, und auf einmal ruft Erich vermutlich zu seiner eigenen Überraschung: Setzen, setz dich hin! Der Oberbefehlshaber setzt sich. Er schlägt die kurzen Beine übereinander. Er weist ein Cognacglas zurück, das ihm von der Seite seines Burschen her zuschwebt, und sieht gefaßt Erich entgegen, der sich ihm geduckt, vielleicht sogar bedeutungsvoll nähert. Also wollen wir uns mal unterhalten, sagt Erich und tritt hinter den Oberbefehlshaber mit verschränkten Armen. Der Zivilist zieht ein Notizbuch aus der Tasche, hebt einen Bleistift und rückt ein wenig vom Adjutanten ab, der sich immer noch belustigt zeigt, der hier wohl erleben möchte, was Chaplin mit seinem Spazierstock vollbringt. Ich sehe nur auf Erich, der mir jetzt zunickt, der mir durch sein Nicken befiehlt, dicht vor den Oberbefehlshaber hinzutreten: das ist mein Platz. Ich und der Oberbefehlshaber schweigen uns an. Erich stellt von hinten die Fragen. Doch zuerst äußert er sich allgemein, er stellt fest: Für Sie ist jetzt alles vorbei, mein Junge, der Kampf, die Angst, der ganze Mist - alles vorbei. Sie leben, sagt Erich, und dafür sollte man dankbar sein. Uns, mein Junge, kannst du deine Dankbarkeit beweisen, indem du uns sagst, was du weißt.
  Ich beobachte forschend den Oberbefehlshaber, er hält die Augen geschlossen, er ist eingeschlafen, nein, er lauscht nur mit geschlossenen Augen, während Erich, tief über ihn gebeugt, kameradschaftlich rät: Erleichtern Sie sich, erzähl uns, was du von den Umgruppierungen weißt, mein Junge, dort im Westen, im Bergland, wo wir dich erwischten. Sie selbst wurden doch einem neuen Regiment zugeteilt. Welche Nummer hat dieses Regiment? Der Oberbefehlshaber schweigt. So geht es allen, sagt
  Erich, vor lauter Freude verlieren sie am Anfang immer das Gedächtnis, aber wir werden es wiederfinden, wir haben es oft wiedergefunden. Man muß sich nur konzentrieren.
  Erich gibt mir einen Wink, ich bitte den Oberbefehlshaber, sich zu erheben. Ich geleite ihn zur Wippe hinüber. Ich bitte ihn, in der Wippe Platz zu nehmen, was er wortlos tut. Im Hintergrund, am Fenster, seufzt einer, das ist der Stabschef. Ich binde den Oberbefehlshaber höflich, zu seiner eigenen Sicherheit, auf der Wippe fest, und auf ein Zeichen von Erich mache ich ihn darauf aufmerksam, daß er den rechten Zeigefinger heben soll, wenn es ihm zu ungemütlich wird. Die nun folgende Übung, sagt Erich zum Zivilisten, dient der Konzentration und der Erinnerung, und danach packt er den Oberbefehlshaber an den schmächtigen Schultern, drückt ihn nach hinten, hält ihn so in gewagter Rücklage, bittet tatsächlich hörbar um Verzeihung und läßt den an die Wippe gefesselten Oberbefehlshaber los, die Wippe schlägt nach vorn, sie fällt der Wand zu, der Oberbefehlshaber sieht die Wand auf sich zufallen und reißt das Gesicht zur Seite, erprobt auch ruckartig den Spielraum der Glieder in den Fesseln, doch er schlägt nicht gegen die Wand, denn zehn Zentimeter vorher endet der Schwung der Wippe. Und jetzt geht es hin und her, vor und zurück, in berechnetem Rhythmus, in kalkuliertem Schwung: wer auf die Wippe gefesselt ist, hat unwillkürlich das Gefühl, daß er der Wand immer näher kommt, daß er, wenn nicht jetzt, so doch das nächste Mal mit dem Gesicht gegen die Wand geschlagen wird. Der Oberbefehlshaber reißt jedesmal das Gesicht zur Seite. Er protestiert nicht. Sein rechter Zeigefinger hebt sich nicht. Erich stellt einen Fuß auf die Wippe, hält die Wippe in Schwung. Er fragt: Erinnerst du dich? Fällt dir jetzt die Nummer des Regiments ein? Nicht? Immer noch nicht? Aber vielleicht kennst du andere Nummern, mein Junge? Entschuldigung, sagt Erich erschrocken und wendet sich zum Fenster um, doch vom Fenster ermuntert man ihn, in der begonnenen Weise fortzufahren; nur der Zivilist hat, wie erwartet, eine Frage. Der Zivilist möchte wissen, ob jeder Gefangene, der zur Vernehmung gebracht wird, die Möglichkeit erhält, durch ein Heben des rechten Zeigefingers die Befragung zu unterbrechen. Erich überläßt es mir, zu antworten, und ich sage deutlich: Ja, und dann binde ich auf ein Zeichen den Oberbefehlshaber von der Wippe los.
  Er taumelt, der leichte, schmächtige Mann ist nicht ganz da, will ich mal sagen; sein Körper zittert, er stöhnt leise. Sein Bursche segelt schon wieder mit einem Cognacglas heran. Der Adjutant hält ihn zurück. Der Adjutant kippt den Cognac selbst runter - zerstreut allerdings, das muß betont werden. Erich selbst verhindert, daß der Oberbefehlshaber eine Zigarette erhält. Erich hat längst die Klemmen in der Hand. Er arbeitet jetzt wie gewöhnlich, mit kurzem Schnaufen. Die Klemmen schnappen nach den mageren Handgelenken des Oberbefehlshabers und halten ihn stehend unter der Brause fest, es ist die Gedächtnisbrause. Welche Regimenter, fragt Erich und stößt dem Oberbefehlshaber aufmunternd in den Rücken. Welche Streitkräfte werden umgruppiert? Mit welchem Ziel?
  Der Oberbefehlshaber kann sich an nichts erinnern, ihm ist alles entfallen, und deshalb drehe ich die Brause auf, weil ich weiß, daß Erich mir gleich ein Zeichen dazu geben wird.
  Der Oberbefehlshaber ist naß. Das Tuch seiner Uniform
schwärzt sich, es klebt an seinem Körper. Der magere Körper windet sich. Der Oberbefehlshaber gleicht einem traurigen Vogel im Regen. Wie erwartet, erkundigt sich der Zivilist nach der Temperatur des Wassers, die Auskunft stimmt ihn zufrieden, er nimmt eine bedächtige Eintragung vor. Um das Gedächtnis des Oberbefehlshabers zu erweichen, laß ich es noch mehrmals kurz niederregnen, doch ohne Erfolg: obwohl Erich mit der flachen Seite eines Lineals die Fragen skandiert, erhält er keine Antwort.
  Ich weiß, daß Erich gleich schreien wird, und tatsächlich: er schreit, schreit den Oberbefehlshaber an, schüttelt ihn, so daß ich schon anfange, mir Sorgen zu machen, und vom Fenster her höre ich den Stabschef auch schon rufen: Na, na, na; da lenkt Erich zum Glück wieder ein, lächelt und weist triumphierend auf den rechten Zeigefinger des Oberbefehlshabers, der sich nicht erhoben hat, nicht um Beendigung bittet. Los, sagt Erich, komm raus, nenn mir die Nummer des Regiments, warum willst du sie für dich behalten, du schadest dir nur.
  Ich weiß, daß jetzt die Sache mit der Zigarette und dem Schlauch kommen wird, doch als ich die Zigarette anstecke, gibt Erich mir ein energisches Zeichen, er schüttelt mitleidig den Kopf über mich und befreit den Oberbefehlshaber aus den Klemmen.
  Erich schubst den Oberbefehlshaber zum Streckbrett hinüber. Ich zwinge den schmächtigen, durchnäßten Mann nieder. Ich binde ihn mit Kabelschnüren auf dem Streckbrett fest - klein genug ist er, es läßt sich allerhand an ihm strecken. Sein Gesicht ist verschlossen, die Lippen zittern. Er liegt ohne Protest da. Ich lausche auf seinen Atem und zweifle nicht, daß es Erich gelingen wird, alles von ihm zu erfahren; wir werden über die Umgruppierungen der Streitkräfte im westlichen Bergland Bescheid wissen, bevor die einzelnen Kommandeure etwas davon hören.
  Erich dreht das Rad, die hölzernen Blocke gleiten in den Lagerungen. Der kleine Körper in dem nassen Zeug strafft sich. Die Lippen des Oberbefehlshabers springen auf. Auch das, sagt Erich zum Fenster, dient nur dazu, die Erinnerung freizulegen. Gespannt beobachten wir, wie der gebundene Körper sich streckt, wie er sich aufbäumt und fällt und schließlich auf den gleichbleibenden Zug nur noch mit einem Stöhnen antwortet. Wir brauchen nicht auf den rechten Zeigefinger zu achten - das besorgt der Stabschef am Fenster -, wir können uns konzentriert der Vernehmung widmen. Ich will Erich den Ledergürtel reichen, doch er verwarnt mich durch einen Blick, und ich hänge den Gürtel wieder an den Haken. Ich beuge mich tief über den Oberbefehlshaber. Er ist bei gutem Bewußtsein. Erich beginnt mit seiner flüsternden Vernehmung, zieht die Drehung an, fragt, dreht abermals und fragt weiter - so lange, bis der Oberbefehlshaber aufschreit und sich auf die Lippen beißt; den Zeigefinger hebt er nicht. Nur die Nummer deines Regiments, sagt Erich, dann hört alles auf, nur die kleine, bescheidene Nummer. Erzähl uns, was du weißt, sagt Erich und zieht an; da hätte manch einer zu sprechen begonnen bei so vielen Drehungen. Der Oberbefehlshaber schweigt. Er hält den Schmerz aus und schweigt. Wir können die Unruhe verstehen, die sich am Fenster bemerkbar macht, wir können auch den Wunsch des Burschen einsehen, der unaufhörlich versucht, sich seinem Oberbefehlshaber mit einem gefüllten Cognacglas zu nähern, doch da es eine normale Probe sein soll, können wir die regelmäßige Stärkung durch Cognac nicht zulassen. Der Zivilist schreibt jetzt hastig, er tarnt sich mit Gleichgültigkeit. Der Adjutant raucht, nur der Stabschef scheint zu leiden. Ich blicke bewundernd auf Erich und frage mich: Wie kann er so ruhig bleiben bei aller Erfolglosigkeit? Setzt er, so frage ich mich, seine ganze Hoffnung auf den Bügeltisch, auf dem, im rechten Augenblick, alle gesprächig wurden? Bisher ist es noch keinem gelungen, auf dem Bügeltisch stumm zu bleiben. Ich meine, hier entdeckten auf einmal alle ihr Gedächtnis. Will Erich es bis zum Bügeltisch kommen lassen?
  Erich gibt mir ein Zeichen, ich binde den Oberbefehlshaber los, stelle ihn auf die Füße und muß ihn auffangen und halten, muß ihn, dessen Leichtigkeit mich überrascht, auf den Arm nehmen und hinübertragen auf den Bügeltisch, den Erich selbst entwickelt hat. Wieder binde ich den Oberbefehlshaber fest und mache ihn darauf aufmerksam, daß er, wie jeder vor ihm, die Möglichkeit hat, durch das Heben des rechten Zeigefingers die Vernehmung augenblicklich auszusetzen. Ich versichere mich, ob er verstanden hat. Er hat verstanden, denn er nickt schwach. Er hat die Augen geschlossen und bibbert unter der Kälte eines für ihn neuen Schmerzes. Erich duckt sich. Erich schreit auf einmal los, daß ich selbst erschrecke. Die Nummer, schreit er, ich will die Nummer deines Regiments hören. Der Oberbefehlshaber schweigt. Erich nimmt das vorgewärmte Bügeleisen aus der Halterung, hebt es hoch über den schmächtigen Körper und zwingt den Oberbefehlshaber, das Bügeleisen anzublicken. Erich macht die Wärmeprobe, indem er mit zwei angefeuchteten Fingerkuppen leicht gegen das Eisen tippt und sich eine zischende Bestätigung geben läßt, dann senkt er langsam das Bügeleisen, berührt leicht einen Schenkel, läßt Dampf aufsteigen und sagt: Trocknen, wir werden dich ganz trockenbügeln, denn mit nasser Uniform können wir dich nicht entlassen. Erich arbeitet weiter. Der Oberbefehlshaber schlägt mit den Absätzen, seine Schultern zucken. Er unterdrückt den Atem. Er will etwas sagen, jetzt, jetzt will er etwas sagen, nein, er schluckt nur, spannt seine Halsmuskeln, er scharrt mit den Händen rasend auf dem Tisch, aber den Zeigefinger, den Zeigefinger hebt er nicht.
  Dann bemerke ich, wie er die Augen öffnet und Erich ansieht, nicht befehlend oder auffordernd, sondern eher skeptisch und auch mit Geringschätzung, und Erich zögert, Erich erscheint hilflos und überfordert: er stellt das Bügeleisen in die Halterung zurück. Er schüttelt entmutigt den Kopf. Er kann nicht verstehen, was passiert ist, und müde befiehlt er mir, den Oberbefehlshaber aus seiner Lage zu befreien.
  Ich binde ihn los, setze ihn auf die Füße und überlasse es ihm selbst, sein Gleichgewicht zu finden, während der Adjutant und der Stabschef sich gehorsamst erlauben, dem Oberbefehlshaber zur bestandenen Probe zu gratulieren - sie gratulieren ihm tatsächlich. Der Bursche nähert sich mit Cognacglas und Zigaretten und legt dem Oberbefehlshaber eine Wolldecke über die zitternden Schultern. Erich sitzt fassungslos auf einem Stuhl und poliert seinen Daumen in der Hüfte. Ja, sagt der Oberbefehlshaber auf Befragen zum Zivilisten, ja, die Schmerzen sind zumutbar: das hoffe ich gezeigt zu haben. Ich klopfe wie immer an die Tür des Sanitätszimmers, klopfe nur aus Gewohnheit, und wie immer erscheint der rothaarige Sani mit Fingerschiene und Verband. Er hat nichts als Schiene und Verband bei sich, stutzt beim Eintreten, will wieder hinaus, doch ich deute auf den Oberbefehlshaber, und der Sani tritt zu ihm und versucht ohne ein Wort, den rechten Zeigefinger zu schienen. Man kann schon verstehen, daß der Zivilist da erstaunt fragt: Was machen Sie da? Und dem Sani kann man es nicht übelnehmen, wenn er gewohnheitsgemäß erklärt: Den rechten Zeigefinger schienen. Es ist alles in Ordnung, sagt der Oberbefehlshaber, alles ist heil: unsere Kritiker haben eine Antwort erhalten.
  Jetzt allerdings könnte der Sani etwas weniger erstaunt dastehen.

1966