Die Strafe
Nein, nichts zu essen, Christine, nur einen
Schnaps und sonst nichts. Wo er ist? In seiner Pension, ich habe
ihn selbst zurückgebracht, nachdem alles vorüber war; unser
Gerichtsarzt hat ihm eine Beruhigungsspritze gegeben, die half
nicht, er hat während der ganzen Fahrt gezittert, der alte Mann.
Wie meinst du? Sicher, er wird sich beruhigen, aber morgen wird
alles von neuem beginnen, du kennst doch Vater, er wird seinen
Freispruch anfechten, er wird wieder in mein Büro kommen und mir
immer neue Kataloge seiner Vergehen anschleppen, er wird wieder die
ganze Staatsanwaltschaft wild machen und sie zu überzeugen
versuchen, daß er angeklagt werden muß. Anklage! Das einzige, wofür
er noch lebt: angeklagt zu werden: Wegen unterlassener
Hilfeleistung, wegen strafbarer Mitwisserschaft oder einfach, weil
er im Krieg war. Du weißt ja, daß er sich da zum Künstler
entwickelt hat, es ist ihm gelungen, aus seinem Leben eine einzige
Kette von Verfehlungen zu machen; man darf einen alten Amtsarzt
nicht unterschätzen, auch wenn er mitunter leicht gestört wirkt.
Süchtig, ja; wie andere Bierkrüge sammeln oder Bilder, so sammelt
er eben Gründe zur Anklage, zur Selbstanklage.
Der Plan? Du meinst unseren Plan?
Natürlich haben wir ihn ausgeführt, so, wie Olaf, Günter und ich
alles entworfen hatten; auf die Dauer kann ich's meinen Kollegen
nicht zumuten, sich mit den eingebildeten Vergehen von Vater zu
beschäftigen, deshalb entwarfen wir ja den Plan, und wir alle
glaubten, daß er nicht schlecht war. Und zuerst - gib mir noch
einen Schnaps - verlief es ja auch ganz zufriedenstellend. Danke.
Du hättest ihn sehen müssen - Vater, wie er zu seinem Prozeß
erschien: vergnügt, in Schwarz, eine Aster im Knopfloch, stell dir
vor, ich kann mir nicht helfen, aber er sah aus wie ein alter
Hochzeiter, einer von der miesen Sorte, der bereit ist, jedes
Zwinkern zu erwidern. Wie er über den Platz kam! Wie er den Stock
schwang und leicht gegen die Masten der Lampen schlug! Vielleicht
pfiff er sogar, ich weiß es nicht, jedenfalls, wir beobachteten ihn
vom Fenster und hatten das Gefühl, einen glücklichen Mann zu sehen,
der zu seinem Prozeß eilt. Verdacht? Nein, Christine, er hatte
keinen Verdacht, er glaubte, daß die angesetzte Verhandlung gegen
ihn der Lohn für seine Hartnäckigkeit war, mit der er die Anklage
gegen sich selbst betrieben hatte. Er hat bis zuletzt nicht
gemerkt, daß es eine Scheinverhandlung war, mit der wir ihn
endgültig von seiner Sucht heilen wollten, von seinen krankhaften
Selbstbezichtigungen, mit denen er allen auf die Nerven ging. Wir
wollten ihn los sein, darum hatten wir den Plan im Büro entwickelt,
darum hatten wir uns verabredet, Olaf, Dieter und Günter spielten
mir zuliebe mit, na, du kennst sie ja; sie wollten mir helfen. Und
sie waren ebenso entgeistert wie ich, als sie Vaters Heiterkeit
bemerkten und später die ausgelassene Genugtuung, als er oben auf
der Treppe Adam Kuhl begrüßte.
Wer das ist? Er ist auch in Marggrabowa
geboren, wie Vater,
sie kennen sich seit ihrer Jugend. Kuhl ist
bei der Post gewesen, jetzt trat er als Belastungszeuge auf. Stell
dir vor, Vater hatte ihn nicht nur aufgestöbert, sondern auch
seiner Erinnerung aufgeholfen; um seinen Prozeß zu bekommen, hat er
für den Belastungszeugen gleich selbst gesorgt. Wir sahen, daß er
Adam Kuhl bei der Begrüßung etwas schenkte; seine Gesten, die ganze
Art, wie er den Mann behandelte, der gegen ihn zeugen sollte,
verrieten Dankbarkeit. Er nahm ihn vorsichtig beim Arm, und so, wie
sie ins Justizgebäude gingen, mit gesenktem Gesicht, eng
nebeneinander und lächelnd, hätte man sie für Komplizen halten
können, die sich etwas vorgenommen haben. Eben, auch wir waren
zuversichtlich. Du meinst, wo die Verhandlung stattfand? Nicht mal
im Saal, wir nahmen einfach das große Untersuchungszimmer, da fiel
es nicht so auf, daß kein Publikum anwesend war, aber Vater war so
begeistert, daß ihm nichts fehlte. Er hatte seinen Prozeß, und du
hättest den Eifer sehen sollen, mit dem er den Stuhl des
Angeklagten besetzte, und den noch größeren Eifer, mit dem er Olafs
Fragen zur Person beantwortete. Olaf hatte die Anklage übernommen,
ich machte den Beisitzer, Dieter gab den Richter ab, Günter spielte
den Pflichtverteidiger. Solch einen Angeklagten wie Vater hat die
ganze Staatsanwaltschaft noch nicht erlebt. Auf jede Frage zur
Person gab er mindestens drei Antworten, nicht nur bereitwillig,
sondern besessen von dem Wunsch, dem Gericht ein Bild seiner selbst
zu liefern, und schon hier spürtest du, wie methodisch er darauf
aus war, sich bloßzustellen. Alles, jede Auskunft, färbte er
sozusagen zur Selbstanklage ein Nein, Christine, er klagte sich
nicht an, weil er auf mildernde Umstände aus war; ich hatte vom
ersten Augenblick an das Gefühl, daß er verurteilt werden wollte.
Du hättest dabei sein müssen, wie er seine berufliche Laufbahn
schilderte: also, seine Doktorarbeit hat ihm ein Kollege
geschrieben, von der Albertina hat man ihn verwiesen, weil er als
älteres Semester einen verbotenen Eingriff vornahm, durch eine
Denunziation seines Vorgängers ist es ihm überhaupt gelungen,
Amtsarzt zu werden. So begann er.
Ob das die Wahrheit ist? Ja,
Christine, ich fürchte, das ist die Wahrheit. Zuerst, weiß du, als
er in dieser Art anfing, sich zu bezichtigen, als er so dastand und
sich drehte und sich um Glaubwürdigkeit bemühte, da warfen wir uns
natürlich Blicke zu, belustigt: Also so läuft der Hase. Aber wir
sahen bald ein, daß wir uns täuschten und daß alles, was er gegen
sich vorbrachte, mehr oder weniger der Wahrheit entsprach. Mehr
oder weniger: damit meine ich, daß es seiner subjektiven Wahrheit
entsprach. Die Freude, mit der er sich in Verruf brachte! Die
Ungeduld, mit der er dem Gericht seine Verfehlungen anbot! Wenn
Olaf sprach, schüttelte Vater den Kopf oder gab durch abwehrende
Handbewegungen zu verstehen, daß er mit seinem Ankläger nicht
einverstanden war: er fühlte sich nicht genug bloßgestellt, nicht
ausreichend gebrandmarkt, und manchmal ging es einfach mit ihm
durch, er sprang auf, nahm das Wort und verstärkte und erweiterte
nicht nur die Anklage, sondern machte dem Gericht Vorwürfe. Warum?
Weil nicht schon früher Anklage gegen ihn erhoben wurde; er
glaubte, daß die Gründe, die er im Laufe der Zeit dem Gericht zur
Kenntnis gab, allesamt zur Anklage ausgereicht hätten.
Du hast recht, Christine, in dem
Katalog, den er uns anschleppte, waren beachtliche Verfehlungen,
aber die waren so universal, trafen auf so viele zu, daß wir sie
nicht berücksichtigten. Was sollten wir machen? Er wollte zum
Beispiel dafür verurteilt werden, weil er im Krieg war und
beschwören konnte, daß durch seine Mitwirkung zwei oder drei
Soldaten getötet wurden, feindliche Soldaten. Welch ein Recht
sollten wir da anwenden? Wir taten's mit Befehlsnotstand ab. Ja,
das trifft zu: diesmal hatten wir uns etwas Konkretes,
Überschaubares ausgesucht, eine Sache, die er uns zuletzt
aufgetischt hatte und die wir deshalb verfolgen wollten, weil es
ihm gelungen war, einen Belastungszeugen beizubringen. Eben Adam
Kuhl.
Von mir aus noch ein Glas, aber
nicht ganz voll. Danke. Also stell dir vor, das große
Untersuchungszimmer, Vater eifrig und glücklich auf dem Stuhl des
Angeklagten, rechts von ihm Adam Kuhl in einer angenommenen
Zeugenbank, vor ihnen das Scheingericht - wobei ich dir sagen muß,
daß es ihn überhaupt nicht störte, mich als Beisitzer vorzufinden.
Das nahm ich auch an: ihm genügte der Staatsanwalt. Und dann also,
nach der Vernehmung zur Person, die Anklage. Vater nickte heftig -
und zustimmend - als Olaf ihn beschuldigte, den damaligen
Machthabern in die Hände gearbeitet zu haben; und er sah fordernd
auf Adam Kuhl, um ihn zur Bestätigung der Anklage zu ermuntern. -
Wart doch ab, Christine. Olaf erinnerte an die letzten Wochen des
Krieges, als alles verloren war, als alles erkennbar verloren war,
da gab es nur eins, sich und andere zu retten - allerdings nicht
für die, deren Macht zu Ende ging. Sie verlangten eine letzte
Erhebung, einen letzten Widerstand, ein letztes Aufgebot - zu
diesem letzten Aufgebot sollte auch Adam Kuhl gehören, sie nannten
das Volkssturm. Aber Adam Kuhl wollte nicht, er sah nicht ein, daß
er noch in letzter Minute etwas riskieren sollte, und um nicht
geholt zu werden, simulierte er. Was? Das will ich dir sagen: er
gab vor, daß sich sein Sehvermögen von Tag zu Tag verschlechtere,
er habe nicht nur Schwierigkeiten, gab er vor, Leute zu
unterscheiden, sondern überhaupt zu erkennen, deshalb bitte er, vom
letzten Aufgebot befreit zu werden. Der Simulant wurde zum Arzt
geschickt, zum Amtsarzt, der sollte die Krankheit bestätigen. -
Eben, Christine, das sollte man annehmen, zumal Vater einer der
letzten Ärzte bei uns war, alle anderen waren fort. So erschien
jedenfalls Adam Kuhl bei Vater, und der untersuchte ihn und gab
vor, zu glauben, was Kuhl ihm auftischte; doch er tat es nur, um
dem Simulanten den Argwohn zu nehmen. Ich wollte, daß er sich in
Sicherheit wiege, sagte Vater vor unserem Gericht, einfach, weil
ich ihn so am ehesten überführen konnte. - Wie bitte? Nicht so
ungeduldig. Zuerst mußt du dir die Szene vorstellen. Kuhl, der
Belastungszeuge, versucht alles zu verharmlosen; er sagt, es hätte
alles viel schlimmer kommen können, oder: Hauptsache, das Ende war
gut, worauf der Angeklagte ärgerlich wird und den Zeugen ermahnt,
die Vorgänge nicht zu bagatellisieren. Der Angeklagte fordert den
Zeugen gewissermaßen auf, ihn angemessen zu belasten, und der alte
Kuhl gibt traurig zu, daß Vater allerhand mit ihm anstellte: er
entzündete ein Streichholz vor den Augen des Simulanten, ließ ihn -
ein sicherer Test - durch einen niedrigen Türrahmen gehen; er
stellte ihm jedenfalls mehrere Fallen, und schließlich schaffte er
es, Adam Kuhl zu überführen: Vater beobachtete ihn, wie er seine
Rente abholte und das Geld nachzählte. Kuhl sagte vor unserem
Gericht: Zum Schluß, da hat der Herr Doktor mich durchschaut und
hat mich gemeldet, was er ja hat tun müssen. Und Vater,
aufspringend: Ich hätte den Zeugen decken können. Ich tat es nicht.
Ich überführte ihn und lieferte ihn aus; sie schickten ihn in eine
Strafeinheit, nachdem sie ihn zunächst zum Tode verurteilt hatten.
Du hättest sehen sollen, Christine, wie der Angeklagte den Zeugen
zu seinen Ungunsten berichtigte. Kuhl sagte tatsächlich einmal, der
Herr Doktor habe ja nur seine Pflicht getan. Das reizte Vater so
sehr, daß er Adam Kühl in scharfen Worten klarmachte, welche
größere Pflicht er verletzt habe, als er die von ihm verlangte so
blind erfüllte. Nein, für Adam Kuhl ging es nicht rasch vorüber,
seine Einheit geriet in Gefangenschaft, und er selbst hat über vier
Jahre in einem Lager am Eismeer gesessen; die Herzkrankheit, die er
von dort mitbrachte, ist nicht simuliert. Vater übernahm die
Verantwortung für alles, was sein Belastungszeuge durchlitten
hatte. Er erklärte sich schuldig im Sinne der Anklage und bat,
verurteilt zu werden - wobei er das Gericht aufforderte bei seinem
Schuldspruch auch die anderen Vergehen zu berücksichtigen. Du hast
recht: Vater übertraf jeden Staatsanwalt, und auf die Versuche
Günters, ihn zu verteidigen, reagierte er nicht nur mit Unwillen,
sondern auch mit Zwischenrufen. So etwas hast du noch nicht erlebt,
wie der seinen Verteidiger widerlegte! Vater mußte mehrmals ermahnt
werden. Wirklich, es war keine gespielte Feindseligkeit, mit der er
Günter manchmal ansah. Das ist das richtige Wort: unbarmherzig; er
kämpfte unbarmherzig um eine ihm angemessene Strafe, von der er
glaubte, daß sie ihm rechtmäßig zukomme. Je bedenklicher es für ihn
wurde, je schwerwiegender sein Fall erschien, desto größer wurde
seine Genugtuung.
Ja, Christine, dann zog sich also
das Gericht zur Beratung zurück, wir gingen in ein Nebenzimmer,
rauchten, beobachteten Vater und Adam Kuhl, die ans Fenster traten
und sich flüsternd unterhielten: offensichtlich machte Vater da
seinem Hauptbelastungszeugen Vorwürfe. Wir brauchten uns nicht zu
beraten. Wir hatten ihm seinen Prozeß gegeben, wir hatten ihn -
zumindest nahmen wir das an - glücklich gemacht.
Das Urteil? Du bist genau so
ungeduldig wie Vater, auch er konnte das Urteil nicht erwarten, du
hättest sehen sollen, wie er aufsprang von seinem Stuhl, als das
Gericht einzog, begierig auf den Spruch, den er verdient zu haben
glaubte. Er bog sich sozusagen heran und verharrte starr und
erwartungsvoll, bis wir uns setzten und Dieter aufstand, das Urteil
zu verkündigen. Nein, es war nicht formuliert. Dieter hatte sich
nur ein paar Stichworte aufgeschrieben während der Verhandlung, das
genügte ihm. Hoffnungsvoll blickte Vater auf Adam Kuhl, dann auf
Dieter, er schien so sicher, daß seine Schuld ein für allemal
festgestellt worden war und daß das Gericht sie ihm nun bestätigen
werde.
Dieter ist für die Folgen nicht
verantwortlich, gewiß nicht, er hat den Spruch überzeugend
begründet, ich wunderte mich sogar darüber, wie weit er ausholte;
er schilderte noch einmal die Lage am Ende des Krieges, erwähnte
die Ausnahmegesetze, das Kriegsrecht, und mußte bekennen, daß in
solch einer Zeit Simulantentum geahndet werden mußte. Da horchte
Vater schon auf, da machte er schon seine abwehrenden
Handbewegungen. Und als Dieter Vaters Verhalten zwar nicht
belobigte, aber so darstellte, daß man Verständnis für ihn
aufbringen mußte, da kam er nah an den Richtertisch heran und
protestierte leise. Was meinst du? Eben, als dann der Freispruch
erfolgte, geriet Vater außer Fassung. Er, dessen Haltung du immer
so bewundert hast, er nahm Dieters Hände und beschwor ihn, sein
Urteil gerecht zu begründen. Dieter hatte festgestellt, daß Vater
in der damaligen Zeit das Unrechtsbewußtsein gefehlt hat, deshalb
müsse das Gericht auf Freispruch erkennen, mangels Beweises
natürlich.
Und dieser Adam Kuhl? Als der
Freispruch erfolgte, ging er tatsächlich zu Vater und gratulierte
ihm. Weißt du, was er sagte: Nu, sehn Se, Herr Doktor, das hab ich
doch immer gemeint, und jetzt können wir Freunde bleiben. Vater?
Der übersah Kuhls Hand, der hörte offenbar nicht einmal den
Glückwunsch. Vater fiel auf die Knie. Er bat das Gericht, das
Urteil neu zu formulieren. Ich sah, daß er Mühe hatte beim Atmen,
außerdem war er so erregt, daß ich unsern Gerichtsarzt rief; er gab
ihm eine Beruhigungsspritze. Ich sagte doch schon, ich selbst habe
ihn in die Pension gebracht.
Es hat geklingelt? Mach nicht
auf, vielleicht ist er das schon, vielleicht bringt er neues
Material gegen sich. Wie meinst du? Was denn sonst? Wir müssen ihn
freisprechen; ich fürchte - selbst wenn Olaf, Dieter und Günter das
alles noch einmal spielen wollen -, ich fürchte, Christine, wir
müssen ihn auch beim nächsten Mal freisprechen.
1970