Ein Grenzfall


Der junge Zöllner schiebt sein Fahrrad die Strandpromenade entlang. Mittags fährt es sich schlecht hier. Wenn er zum Dienst geht, stürmen die Sommergäste die Mittagstische und die neuen, hochgebauten Hotels. In Strandjacken, in Shorts, in Badeanzügen wimmeln sie über die Promenade. Kinder reißen sich immer noch mal los, um ihre blöden Gummitiere zu holen. Strandbälle fliegen zu den muschelbesetzten Sandburgen hinüber. Ein paar Kerle, die ihre quengelnden Gören huckepack schleppen, sehen nicht nach rechts, nicht nach links. Der junge Zöllner bleibt mitunter stehen, um rotgebrannte Frauen oder Mädchen in feuchten Badeanzügen vorbeizulassen. Es ist schon ziemlich happig, was die so von sich geben. Jedenfalls vergeht einem die Lust, ihnen auf den Sonnenbrand zu klatschen, wenn man sie reden hört. Auf ihren dünnen, steilen Absätzen staksen sie in ihre Zimmer, stoßen die Fenster auf und hängen enge Badeanzüge zum Trocknen raus. Keine von ihnen merkt, daß der Strand jünger und freundlicher wirkt, wenn sie abgeschoben sind. Tang, Treibholz und Seegras haben nun mal auf dem Strand mehr zu suchen als Liegestühle, Nivea-Fahnen und all so'n Zeug.
  Der junge Zöllner schiebt sein Fahrrad zu einem Stand, in dem ein schweigsamer Bursche Brause verkauft, kalte Fischklopse, Ansichtskarten und halbverfaultes Obst. Zwei Gören versuchen ein dreckiges Plastikboot gegen eine Eisportion einzutauschen. Der Besitzer des Stands nimmt das Boot, prüft es und schmeißt es in den Sand. Senge, sagt er, Senge ist das einzige, was ihr dafür kriegen könnt. Der Zöllner läßt sich eine Flasche Brause geben. Am Glas kleben noch die Fusseln des Handtuchs. Er trinkt, setzt das Glas ab und bittet um ein Stück Eis, und der Bursche wirft ihm ein Stück Eis ins Glas und glotzt ihn feindselig an, als ob er nun ruiniert sei oder so. Der Zöllner schiebt die Mütze ins Genick. Er wendet das Gesicht ab und trinkt und sieht hinaus auf den Fjord, in dessen Mitte die Grenze verläuft. Draußen dümpeln Segelboote in der Flaute. Die »Albatros«, ein altmodischer Vergnügungsdampfer, den sie für Betriebsausflüge aufgemöbelt haben, kommt mit Besoffenen von den Inseln zurück. Der Zöllner gießt den Rest der Brause ins Glas. Es zischt und kocht um den Eiswürfel, und als er das Glas ansetzt, prickelt es auf der Oberlippe. Aus einem Strandkorb hängen ein paar Mädchenbeine, lange braune Ständer, die wohl jemand vergessen hat. Wie geht das Geschäft, fragt der Zöllner, und der Bursche am Stand sagt: Belämmert, und kämmt sich ausdauernd über seinem Würstchenkessel.
  Der Zöllner bezahlt die Brause und sagt kein Wort zum Abschied. Er schwingt sich aufs Fahrrad. Ein Bus mit vierundzwanzig Krankenschwestern kommt auf ihn zu, die Krankenschwestern winken und johlen und brüllen ihm etwas nach. Er erkennt sein Spiegelbild auf der langsam vorbeirollenden Metall- und Glaswand des Busses. Es stinkt nach Fischen und Benzin. Auf einer Mauer sind Fischkästen gestapelt, sie trocknen in der Sonne. Breitbeinig, mit großen Schweißflecken unter den Achselhöhlen, sitzt eine Frau allein im warmen Sand, glotzt auf den Fjord und ißt einen Korb leer. Unten am Wasser, im feuchten Sand, gräbt ein Angler nach Sandwürmern. Ein Frauenstrumpf hängt an einem trockenen Ast, die ganze Ferse des Strumpfes ist durchgeblutet. Der junge Zöllner fahrt die Standpromenade zuende, steigt ab, schiebt sein Fahrrad gebeugt einen mit ausgewachsenen Buchen bewaldeten Berg hinauf. Das ist der kürzeste Weg. Er könnte auch durch den Fischereihafen, an den Schienen entlang, die Buchenallee hinauf, an der Kiesgrube vorbei zum Zollgebäude. Das Zollgebäude, von miesen Dienstbaracken umgeben, liegt auf der Kuppe des Berges; davor ist ein Fahrradständer für zwölf Fahrräder und eine Fahnenstange. Von den Fenstern im ersten Stock kann man auf den versauten Strand hinuntersehen, auf den dunklen Fjord und die bewaldeten Inseln, wo sich die Betriebsausflügler mit zollfreiem Alkohol vollsaufen. Aus Kiel, aus Hamburg, sogar aus Hannover kommen sie herauf, um sich hier vollzusaufen. Sechs Baracken stehen um das Hauptgebäude herum. Für alle genügt eine Fahnenstange.
  Der junge Zöllner hebt sein Fahrrad in den Ständer, blockiert das Hinterrad und geht über den leeren, sandigen Platz zu seiner Baracke, um sich zum Dienst zu melden. Im trüben Korridor, der an den Gang eines uralten Schiffes erinnert, trifft er Reinhart, der mit ihm zusammen die Prüfung bestanden hat, und der sich, wie er, zum Dienst melden will. Der junge Zöllner fragt Reinhart: Wie geht's dem Lütten? Reinharts einziger Sohn hat ein Metallputzmittel getrunken und liegt im Krankenhaus. Etwas besser, sagt Reinhart. Sie gehen ins Büro. Alex hat Aufsicht. Gott sei Dank soll der alte Hund bald einen Tritt bekommen und in Pension geschickt werden. Das Büro ist ein langgestreckter Raum mit niedriger Decke; ein schwarzer Kanonenofen steht da, ein Besucherstuhl, zwei Hocker, an einer Wand haben sie eine Spindreihe aufgehängt. Alex raucht nicht, trinkt und hustet nicht. Er redet vorsichtig. Die dringenden Fragen stellt er mit den Augen. Keiner hat ihn je fluchen hören, und wenn er seinen Kaffee aus dicker Porzellantasse trinkt, spreizt er fein den kleinen Finger weg. Er lebt mit seiner Schwester zusammen und läßt sich von ihr die Stullen schmieren. Solange er noch hier herumsitzt mit seinen blankgewetzten Hosen, ist er Manteuffels Vertreter. Manteuffel selbst hockt zum Glück im Hauptgebäude, der kann jeden verrückt machen mit seiner Leidenschaft für sogenannte innere und äußere Sauberkeit und ähnliche Scherze.
  Der junge Zöllner grüßt Alex, tritt an ein Schlüsselbrett und nimmt den Schlüssel zu seinem Spind. Er schließt sein Spind auf, das noch nicht vollgestopft ist wie die Spinde der älteren Zöllner, die darin warme Schals, Tabak und sogar Hustensaft aufheben. Er langt tief hinein, taucht fast mit der rechten Schulter ins Spind und schnappt sich das verkratzte Lederetui mit dem Fernglas. Er zieht das Etui am Riemen heraus; das Etui fällt, schlägt gegen seinen Schenkel, er fängt es mit dem Riemen auf. Der junge Zöllner kehrt Alex den Rücken zu und öffnet das Etui. Das Etui ist leer. Hastig durchsucht er das Spind, tastet und klopft es ab, aber außer ein paar Merkblättern und ähnlichem Mist ist nichts drin. Das Fernglas ist weg. Alex hat schon gehört, wie er mit der flachen Hand das Spind abklopfte. Jetzt äugt er erstaunt zu dem jungen Zöllner herüber. Ist was, fragt er, und noch einmal: Suchst du was? Der junge Zöllner schüttelt den Kopf. Vorsichtig schließt er das leere Etui, hebt den Riemen über den Kopf, läßt das Etui vor seiner Brust baumeln. Alles in Ordnung, sagt er und schließt langsam das Spind ab und hängt den Schlüssel ans Brett. Das Etui ist sehr leicht. Es hüpft vor seiner Brust. Er legt eine Hand darauf und drückt es nach unten. Aus den Augenwinkeln sieht er zu Reinhart hinüber, der immer noch vor seinem Spind steht. Reinhart hat sein überscharfes Fernglas vor der Brust hängen und liest eines der kleingedruckten Merkblätter, die jedem auf die Nerven gehen. Der junge Zöllner geht zum Schreibtisch, wartet schweigend, bis Alex die Kopien der Anforderungsliste gelocht und abgeheftet hat, dann sagt er: Ich nehm den Strand bis zur Mole und das Grenzstück im Wald. Wie gestern. Während er spricht, hält er das leere Etui fest. Alex nickt, ohne aufzusehen. Er radiert. Er radiert mit weichen Fingern und pustet die dreckigen Gummikrümel so über den Tisch, daß sie in den Papierkorb fallen. Ich hab's verstanden, sagt Alex und dreht sich nach Reinhart um, der mit dem Merkblatt nicht fertig wird. Du nimmst die Bucht, sagt er zu Reinhart, und sagt auch: Hier ist noch was für dich, worauf Reinhart nur grunzt und lesend näher kommt.
  Die Hand auf dem zerschrammten Etui, verläßt der junge Zöllner mit einem Kopfnicken seine Dienststelle. Auf dem Korridor lauscht er einen Augenblick und hat wohl das Gefühl, daß sie auch drinnen lauschen, darum latscht er aus der Baracke. Er geht langsam über den leeren, sandigen Platz zum Fahrradständer. Bevor er sein Fahrrad heraushebt, grüßt ihn so ein vergnügter, rotwangiger Kerl, der immer auftritt wie unter Festbeleuchtung. Manteuffel kreuzt immer auf, wenn man ihn nicht braucht. Wieder eingelebt, Tabert, fragt er, und der junge Zöllner erschrickt und sagt nur: Ja. Manteuffel ist damit zufrieden. Er hat's eilig wie immer und rudert zur Materialbaracke rüber. Wenn der mal einen Flecken im Anzug hat, ist er für jede Arbeit ungeeignet.
  Die Wipfel der Buchen regen sich, ein leichter Wind ist aufgekommen; über den Fjord gehen jetzt gemächlich Segelboote. Wolken sind nicht in Sicht. Der junge Zöllner fährt die Buchenallee hinab. Familien wandern zum Strand runter, um ihn noch mehr zu versauen. Eine magere Göre, die sich einen Sandeimer auf den Kopf gestülpt hat, versperrt ihm mit ausgestreckten Armen den Weg. Er reißt das Fahrrad herum, legt einen Zahn zu und kreuzt die Schienen.
  Auf der Ringstraße ist kein Verkehr. Er strampelt im Schatten sehr alter Kastanien. Über manche Balkons haben sie gestreifte Markisen gespannt, darunter sitzen Frauen im Unterrock und Männer mit offenen Hemden. Vor einem Neubau bremst er. Er läßt das Fahrrad am Rinnstein stehen, läuft ins Haus und klingelt mehrmals hintereinander bei Tabert. Eine junge, schwarzhaarige Frau öffnet ihm. Sie erschrickt. Er schiebt sie zur Seite, schließt die Tür und hört sie fragen: Um Gottes Willen, was ist passiert? Der junge Zöllner reißt das Etui auf, hält es ihr hin und sagt: Da! Siehst du was? Mein Dienstglas - es ist weg. Vor vierzehn Tagen die Pistole: heute das Glas. Die Frau geht langsam rückwärts zu einem Stuhl. Sie braucht sich nicht umzusehen, bevor sie sich setzt, denn alle Entfernungen in der Wohnung sind instinktiv vermessen. Mein Gott, sagt sie, das hat uns grade noch gefehlt. Sie wollen mich fertigmachen, sagt er, irgend jemand will mich fertigmachen. Du mußt es melden, sagt sie, und dann: Warum hast du es nicht gleich gemeldet? Der junge Zöllner steckt sich eine Zigarette an, schmeißt das Streichholz durchs Fenster und überzeugt sich, daß das Dienstfahrrad noch am Rinnstein steht. Melden, sagt er, bei Manteuffel einen Diebstahl melden? Der macht doch mich dafür verantwortlich, daß sie mir etwas geklaut haben. Als persönliche Beleidigung sieht der es an, wenn man einen Diebstahl meldet, weil das seine verdammte innere und äußere Sauberkeit bedroht. Denk nur an die Pistole! Manteuffel glaubt noch heute, daß ich sie selbst verscheuert habe. Einen Diebstahl begehen oder melden - für ihn ist das die gleiche Sache. Aber wie, fragt die Frau, wie konnte das nur passieren? Ganz einfach, sagt der Zöllner, das Fernglas war im Spind, und der Schlüssel zum Spind hing am Brett. Es muß einer von uns gewesen sein. Mein Gott, sagt sie, und dir muß es passieren, ausgerechnet dir. Warum kann das nicht Reinhart passieren, oder Bungert oder diesem widerlichen Pischmikat, der nicht mal richtig deutsch kann? Wenn ich's melde, sagt er, hab ich alle gegen mich. Ich kann's mir einfach nicht leisten. Zuerst die Dienstpistole und jetzt das Fernglas: alles in vierzehn Tagen. Und wenn wir ein Glas kaufen, sagt sie. Frag mal, was so'n Ding kostet, sagt er, und wovon willst du es bezahlen? Das ist noch nie dagewesen: in vierzehn Tagen zwei solche Sachen; die glauben mir doch nicht. Aber wir müssen doch etwas tun, sagt die Frau, und der Zöllner darauf: Ich hab Dienst, ich darf gar nicht hier aufkreuzen.
  Er reibt die Glut von der Zigarette. Er legt die halbe Zigarette auf den Radioapparat und latscht ohne ein weiteres Wort raus und schwingt sich auf sein Stahlroß, Die Frau lüftet die Gardine und starrt ihm nach, wie er davonfährt: steif die Ringstraße runter und dann um die Ecke zum Gehölz. Er öffnet den Kragen. Vor seiner Brust baumelt das leere Etui. Der Riemen schneidet nicht wie sonst in den Nacken. Am Eingang zum Gehölz ist ein Parkplatz, darauf steht eine Erfrischungsbude, die Frau Puhl gehört. Wer hier seine Brause trinkt, bekommt glatt ihre Lebensgeschichte aufgetischt. Jedem Kunden quatscht Frau Puhl die Ohren voll mit ihrer Lebensgeschichte, in der die Kantine einer Marineartillerie-Schule den größten Raum einnimmt. Sie hat einfach nicht alle beisammen.
  Der junge Zöllner fährt auf dem Hauptweg durchs Gehölz, das in der Saison ein richtiger Saustall ist. Wenn die Sommergäste nicht am Strand rumlungern, kommen sie hier herauf, um sich zu lagern und so weiter. Wo die lagern, da kann man gleich die Städtische Müllabfuhr hinschicken. Eine Schar von Gören, der zwei Nonnen mit weißen Hauben voransegeln, kommt ihm entgegen. Die Gören winken ihm zu. Eine Nonne ruft: Das ist ein Zollbeamter, Kinder; er hütet unsere Grenze. Sonst ist im Gehölz nicht viel los heute. Die meisten zieht's zum Strand.
  Hinter dem Gehölz geht's bergab, über eine Brücke, an einem schattigen Fluß entlang in den Wald, wo die Grenze verläuft. Ein paar Kerle in Manchesterhosen, mit Gummistiefeln an den krummen Beinen - bei dieser Hitze Gummistiefel! - lassen ihre Motorsägen kreischen und pfeifen. Sie säubern Stämme vom Astwerk. Sie verständigen sich durch Zeichen, langsame Zeichen, wie alte Paviane sie geben. Der junge Zöllner steigt ab und bietet ihnen einen Gruß an, doch keiner der Paviane antwortet. Er schiebt das Fahrrad einen schmalen Pfad entlang, aus dem sich gedrungene Wurzeln heben. Hier kann niemand fahren. Der Pfad führt zur Grenze und an der unscheinbaren Grenze entlang, die nur durch einen mistigen Graben vorgestellt wird.
  In einer Schonung schlägt ein Köter an: das ist Hasso. Er heißt nun mal so. Hasso läuft an langer Leine, die Bungert in der Hand hält, Bungert zwängt sich aus der Schonung und grinst und läßt den jungen Zöllner herankommen. Er hat sein Glas vor der Brust hängen. Er stiert auf seine Armbanduhr und fragt: War was unterwegs? Im Büro, sagt der junge Zöllner, ich kam nicht gleich weg. Das Fernglas, das Bungert offen vor der Brust hängen hat, könnte sein Glas sein. Er hat es nicht gekennzeichnet, aber an der Mittelschraube könnte er es wiedererkennen. Wir haben einen Wink von drüben bekommen, sagt Bungert. Sprit, fragt der junge Zöllner, und Bungert darauf: Transistorgeräte - vielleicht versuchen sie's in unserm Abschnitt. Drüben warten sie auch schon - durchs Glas kannst du sie erkennen. Hasso schnüffelt und schnuppert an dem jungen Zöllner herum, manchmal schnappt er sich jaulend ins Fell und beißt da Flöhe tot. Angenehm hört es sich nicht an, wenn der Köter seine gelben Hauer gegeneinander bewegt und sabbernd das Fell durchkämmt. Ich hab außerdem den Strand bis zur Mole, sagt der junge Zöllner. Gut, sagt Bungert, ich schieb jetzt ab. Er wischt sich mit dem Taschentuch über Stirn und Nacken, klopft seine Uniform ab und verkürzt die Leine. Er tippt grüßend an die Mütze und zerrt den Köter, der wie blödsinnig zu scharren anfängt, zum buckligen Pfad.
  Der junge Zöllner lehnt das Fahrrad an einen Baum. Er öffnet das Etui und untersucht es, aber außer dem grauen, ledernen Putzlappen ist da nichts zu finden. Er steckt den Putzlappen in seine Rocktasche und beginnt, das Etui mit Sand zu füllen. Es ist warmer, lockerer Sand, den er neben dem Pfad zusammenkratzt. Er wiegt das Etui auf ausgestreckter Hand, schließt es und hängt es sich um. Er latscht die Grenze ab bis zum Hünengrab und spürt bei jedem Schritt das Gewicht des Etuis. An der Grenze ist nichts los heute, die Kollegen von drüben lassen sich nicht blicken. Der Himmel ist immer noch wolkenlos. Im Unterholz knistert die Hitze. Er steigt auf das Hünengrab hinauf und blickt über die Waldlichtung nach drüben. Er raucht eine Zigarette, knipst sie aus und steckt die lange Kippe in die Schachtel zurück. Eine Dampfsirene dröhnt gedämpft vom Fjord herauf. Über die Waldlichtung drüben schiebt ein Kerl eine Schubkarre. Der junge Zöllner klettert vom Hünengrab runter, schiebt das Fahrrad zum Hauptweg, sitzt auf und fährt zur Chaussee und dann weiter zum Hafen. Im kleinen Hafen hat die »Albatros« mit den Betriebsausflüglern festgemacht. Fast alle, die von Bord gehen, schwanken. Zwei Burschen schleifen eine besoffene Alte über den Laufsteg, alle drei haben blöde Papierhüte auf. Ein junges Mädchen steht spreizbeinig mit leicht eingeknickten Knien an der Reling und übergibt sich. Wie aus einer Röhre schießt das Erbrochene aus ihrem Mund und platscht in das stille, sonnüberglänzte Hafenbecken. Irgendwo auf dem altmodischen Dampfer wird immer noch gesungen. Ein Wurstmaxe empfiehlt den besoffenen Ausflüglern brüllend seine Würstchen.
  An der Mole liegt eine feine Segelyacht. Der junge Zöllner tippelt da raus und bleibt über der Yacht stehen. Eine schwere Frau in Shorts, mit stark geäderten Schenkeln, liegt schlaff und tot auf geblümten Kissen. Sie ist barfuß. Sie hat zwei verwachsene Zehen. Neben ihr auf der Heckbank liegen Zigaretten, und da liegt in einem hellbraunen Etui ein Fernglas. Er lehnt das Fahrrad an einen Poller. Das Fahrrad fällt um, und die tote blonde Frau erwacht von dem Lärm und lächelt, ganz bedusselt von der Sonne. Sie können hier nicht über Nacht liegen bleiben, sagt er. Keine Sorge, sagt sie, wir gehn bald raus: mein Sohn holt nur Obst und Sonnenöl. Sie langt nach der Zigarettenpackung, öffnet sie, reicht sie ihm hinauf, doch er lehnt ab. Er hockt sich auf der Steintreppe hin und gibt ihr Feuer. Das Fernglas könnte das gleiche Format haben wie sein Glas, vielleicht auch die gleiche Schärfe. Trinken dürfen Sie wohl auch nicht, sagt die Frau. Nein, sagt er, trinken nicht. Aber eine Aufnahme, sagt die Frau, darf ich Sie bitten, eine Aufnahme von mir zu machen? Sie brauchen nur den Auslöser runterzudrücken. Von mir aus, sagt er.
  Sie turnt schwerfällig in die Kajüte runter. Wie sie das aushält mit dem hochgepreßten Busen und den kneifenden Shorts. Ihre Haut ist griesig. Man hat nichts davon, sie sich gründlich anzusehen. Unten nimmt sie einen Schluck aus einer Flasche und wischt mit dem Handrücken über den breiten Mund. Sie schnappt sich einen Kamm, kämmt das stumpfe Haar, dann kommt sie mit ihrem Photoapparat zurück. Er knipst sie vor dem Mast, er knipst sie zur Sicherheit an der Pinne und mit verschränkten Armen vor dem Rettungsring. Danach legt sie los mit »ganz herzlichem Dank« und so weiter. Der junge Zöllner winkt ab und murmelt etwas. Ein gutes Glas haben Sie, sagt er. Keine Ahnung, sagt sie, das Glas gehört meinem Sohn. Er nimmt das hellbraune Etui von der Heckbank und fragt; Darf ich mal? Sie bringt ihre träge Masse in Ruhestellung. Klar, sagt sie.
  Er hebt das Glas an die Augen, stellt die Trennschärfe ein, blickt über den Fjord hinaus bis zu den kahlen Inseln, von denen die Ruderboote der Angler ins tiefere Wasser hinausstreben. Weit draußen tauchen die grauen Aufbauten eines Minensuchers auf. Langsam schwenkt er über den Fjord zum Strand. Segelboote ziehen vorbei. Er erkennt den Kopf eines Schwimmers. Parallel zum Strand fahren ein paar von diesen elenden Motorbooten. Hinter einer Strandburg tauchen Köpfe auf, wie Seehunde aus einer Welle. Im Schutz seines Korbes zieht ein silberhaariger Sommergast seine Badehose aus. Er hat hängende Hüften, einen hängenden Hintern. Die Buden und Stände sind von Gören und jungen Leuten belagert. Überall am Wasser stehen brüllende Kinder. Kinder können einem den ganzen Urlaub versauen, weil sie sich entweder den Fuß aufschneiden oder auf die Toilette geschleppt werden wollen oder weil ihnen eines der blöden Gummitiere wegschwimmt. Vor dem Fischgeschäft hält die Karre von der Räucherei. Bungert verläßt das Geschäft. Ein sehr gutes Glas, sagt der junge Zöllner. Das will ich meinen, sagt ein arroganter Bursche mit Seglermütze, der hinter ihm aufgekreuzt ist. Die Frau rappelt sich wieder auf. Sie nennt den riesigen Burschen »Liebling«. Sie sagt: Hast du auch Sonnenöl, Liebling, worauf der Liebling freundlich grunzt und mit seiner wasserdichten Einkaufstasche an Bord springt. Ich hab sogar Notraketen, sagt er, drüben in der Werft bekommt man alles, neu oder gebraucht, im Magazin. Wir dürfen hier nicht liegen bleiben an der Mole, sagt sie, und der junge Zöllner legt das Glas auf die Heckbank und sagt: Festmachen schon; nur über Nacht können Sie hier nicht liegenbleiben. Er grüßt, packt sein Fahrrad, dreht es herum und latscht zum Hafen zurück. Im Bauch der »Albatros« singen immer noch besoffene Betriebsausflügler. Neben dem Laufsteg findet eine dieser verrückten Abschiedsszenen statt: mehr als achtzig Ausflügler sagen sich da gegenseitig auf Wiedersehn. Ein Kerl im Regenmantel hat einen Hustenanfall, doch das hindert ihn nicht, andern die Flosse zu drücken. Zu den öffentlichen Toiletten ist eine endlose Prozession unterwegs. Vor dem Eingang warten die Leute in Viererreihe. Der junge Zöllner überquert die Schienen. Er geht am Haus der Hafenverwaltung vorbei. Das Haus ist ziemlich verdreckt und runtergekommen. Auf dem Fensterbrett liegen tote Fliegen. Die Gardinen sind nicht nur mies, sondern auch zerrissen. Er sieht erst gar nicht hinein, er geht zu den Schuppen hinüber und von dort an einer leeren Slipanlage vorbei zur Werft.
  Ein Arbeiter kriegt nicht mal sein Maul auf, als der Zöllner ihn nach dem Magazin fragt. Nur mit seinem Kopf macht er eine sparsame Bewegung in eine bestimmte Richtung. Das genügt auch. Hinter Hügeln von Ventilen, Kolben und Rohren und all dem ausgedienten Mist liegt das Magazin. Es ist eine ziemlich große Bude mit zwei Stockwerken und einem Teerpappendach. Neben dem Eingang hängt ein Verbotsschild, darunter ist eine Klingel. Der Zöllner drückt den Klingelknopf. Drinnen rasselt und tobt ein elektrischer Klöppel, daß man am liebsten abhauen möchte. Wie Alarm hört sich das an, gleich wird die Hafenpolizei erscheinen und ohne Anruf schießen, und so weiter.
  Endlich kommt der Verwalter. Es ist ein befehlsgewohnter Alter in fleckigem Tuchmantel, mit ausgetretenen Schuhen an den Füßen und stark behaarten Händen.
  Komm rein, sagt er zum Zöllner und zieht ihn in die Bude und schließt hinter ihm die Tür ab. Sie steigen eine luftige Treppe hinauf. Sie gehen in ein behelfsmäßiges Kontor mit Oberlicht. Der Verwalter packt einen gelben Ordner mit Listen weg. Er setzt sich und nimmt einen Schluck aus einer Blechtasse. Womit kann ich dem Zoll dienen? fragt er. Eine Hängematte, sagt der Zöllner, ich bin auf der Suche nach einer billigen Hängematte. Kann gebraucht sein. Tut mir leid, sagt der Verwalter, die letzten Hängematten hab ich ans Kinderheim verkauft. Ich denke, bei euch kann man alles kriegen, sagt der Zöllner, vom Mast bis zur Schraube. In vierzehn Tagen krieg ich wieder Hängematten, sagt der Verwalter, wenn's weiter nichts ist. Der junge Zöllner nickt, geht zur Tür, dreht sich nochmal um und fragt ruhig: Und ein Glas? Ein gebrauchtes Fernglas? Du hast doch eins, sagt der Verwalter. Ich suche es nicht für mich, sagt der Zöllner.
  Der Verwalter dreht sich weg, geht zu einem Regal und hebt einen Karton heraus. Er stellt den Karton auf den Tisch. Oben drauf liegen Lappen und ölverschmierte Arbeitshandschuhe. Suchend kramt er alles zur Seite, hebt eine kleine Steuerbordpositionslaterne heraus, zuletzt bringt er ein zusammengeschlagenes Handtuch zum Vorschein. Er schlägt es auseinander und hält dem jungen Zöllner ein Glas hin und sagt: Hundertfünfzig, und du hast es. Es ist ein sehr gutes Glas. Ich hab's gerade reinbekommen. Der Zöllner nimmt das Glas. Er bewegt es im Gelenk. Er sieht auf die Mittelschraube und erkennt, daß die mattgraue Schutzfarbe da zur Hälfte weggekratzt ist. Seine Hand beginnt zu zittern. Es ist sein Fernglas. Wenn du es mal prüfen willst, sagt der Verwalter. Wer beliefert euch mit so guter Ware, fragt der Zöllner. Geschäftsgeheimnis, sagt der Verwalter, und dann: Weil du es bist, hundertdreißig. Ich weiß nicht, sagt der Zöllner, ich muß es mir nochmal überlegen. Sowas geht schnell weg, sagt der Verwalter, und der Zöllner gibt das Glas zurück und sagt: Ich komm wieder, ich muß nur mal ausrechnen, wo ich den Zaster einspare. Aber von mir aus: es ist so gut wie gekauft. Der Verwalter wickelt das Glas in das Handtuch, legt es in den Karton und stellt den Karton ins Regal. Zurücklegen kann ich es nicht, sagt er. Ich beeil mich, sagt der junge Zöllner. Er gibt durch ein Handzeichen zu verstehen, daß er den Weg hinaus allein findet. Er steigt die Treppe hinab und schließt die Tür auf. Draußen packt er sein Fahrrad mit einer Hand in der Mitte der Lenkstange. Der stumme Arbeiter glotzt ihm lange nach, wie er davongeht zum Hafen und in Richtung Strandpromenade.
  Das Fjord-Café ist von Halbstarken besetzt. An den Tischen im kleinen überwachsenen Vorgarten ist kein Platz mehr frei. In Badehosen und Bikinis hocken die Halbstarken da herum und können sich glatt den ganzen Nachmittag an einer Brause festhalten. Aus den Lautsprechern in den Linden singt Lemmy Baboo. Die Halbstarken geraten regelrecht in Trance, wenn Lemmy singt. Jetzt kann man am besten ihre Haltungsschäden studieren. Einige Burschen tragen Schnürsenkelschlipse um den nackten Hals. Die Mädchen haben klobige falsche Ringe an den Fingern. Der junge Zöllner geht vorbei. Er hört, wie jemand sagt: Da geht 'ne grüne Gurke. Er könnte stehenbleiben, in den Vorgarten gehen, sich den Satz wiederholen lassen und, wenn er wollte, einem Burschen mit Hängeschultern die Fresse polieren. Er latscht vorüber. Er blickt auf den Fjord hinaus, in dessen Mitte hier die Grenze verläuft. Ein Zollkutter von drüben patroulliert mit kleiner Fahrt ins offene Wasser hinaus. Es ist hier nicht sehr viel los.
  Plötzlich bleibt er stehn. Aus dem Fischgeschäft kommt eine
junge, schwarzhaarige Frau. Sie schleppt eine volle Einkaufstasche. Sie trägt ein dünnes rotes Kleid und Sandalen an den nackten Füßen. Offenbar ist sie noch nicht fertig mit ihren Einkäufen, sie ist nie fertig mit ihren Einkäufen. Dicht vor den Schaufenstern geht sie die Promenade entlang. Im Vorübergehen prüft sie die Auslagen, begrabbelt da einen Blumenkohl, untersucht Pfirsiche auf dunkle Stellen. Der junge Zöllner folgt ihr vorsichtig. Er weiß, daß sie jetzt Puddingpulver, jetzt Marmelade, jetzt Brot, jetzt Käse kauft. An einem pilzförmigen Stand trinkt sie eine Tasse Kaffee. Mit ihrem Kopfschütteln hat sie es abgelehnt, Kuchen zu essen. Sie zahlt hastig. Dann geht sie zum Schaufenster eines Optikers. Sie setzt die Einkaufstasche ab. Sie sieht sich die ausgestellten Ferngläser an.
  Der Zöllner lehnt sein Fahrrad an einen Baum, geht von hinten an sie heran, sie sieht ihn im Spiegelbild der Scheibe und dreht sich schnell um. Sie lächelt, als ob er sie ertappt hätte, und sagt nichts weiter als: Ich bin gerade beim Einkaufen. Er zieht sie um das Eckfenster. Er beobachtet die Strandpromenade, dann sagt er: Wir müssen aufpassen, im Dienst haben die das nicht gern. Ich habe Bungert getroffen, sagt sie, und er: Ich weiß, wo mein Glas ist. Ich hab es gerade in der Hand gehabt. Hast du es wieder, fragt sie erstaunt. Nein, sagt er, aber ich weiß, wo es ist. Man hat es mir angeboten, für hundertdreißig Mark. Dein Glas? Mein Glas, sagt er und steckt sich eine Zigarette an. Drüben in der Werft, sagt er, der Verwalter in der Werft hat es mir angeboten. Und von wem hat er's, fragt sie. Wenn ich das wüßte, sagt er, wenn ich das wüßte, wären wir weiter. Aber es muß einer von uns gewesen sein. Das kannst du doch melden, sagt sie, du kannst es Manteuffel persönlich melden. Er schüttelt den Kopf. Er sagt: Es ist nichts bewiesen damit. Willst du es dann vielleicht zurückkaufen, fragt sie, dein eigenes Glas zurückkaufen? Ich muß es tun, sagt er, ich hab' so eine Ahnung, als ob ich es tun muß. Es ist furchtbar, sagt sie, und er, schon unterwegs zu seinem Fahrrad: Es kann heute später werden, warte nicht auf mich. Er winkt der Frau zu, und die Frau winkt zurück und geht langsam hinter ihm her.
  Der junge Zöllner fährt wieder zurück durch den Hafen zur Werft. Wer ihn von weitem fahren sieht, könnte denken, der hat seinen Dienst hinter sich oder muß Verstärkung holen oder so etwas.
  Auf dem unübersichtlichen Gelände der Werft, zwischen rostigen Kesseln und zerschlagenen Aufbauten steigt er ab, duckt sich und schüttet den Sand aus seinem Etui. Er reinigt das Etui mit dem Taschentuch; dann fährt er zum Magazin und drückt den Klingelknopf, der in beiden Stockwerken Alarm auslost. Er sieht sich um. Der stumme Arbeiter ist verschwunden, vielleicht haben sie ihn als Gallionsfigur an einen Bug geleimt. Fern am Wasser fährt ein Kran entlang. Der Kranführer brüllt und regt sich auf, um zwei Seeleute von den Schienen zu jagen. Der Himmel bewölkt sich. Bald wird die Sonne fort sein. Der Zöllner klingelt noch einmal, und jetzt hört er den Schritt des Verwalters auf der Treppe, jetzt auf dem Gang. Der Verwalter öffnet die Tür. Er bleibt im Eingang stehen. Ich möchte das Glas, sagt der Zöllner, ich bin zurückgekommen, weil ich es kaufen möchte. Der Verwalter schnalzt bedauernd mit der Zunge. Es ist weg, sagt er, ich hab's eben verkauft. Das kann nicht sein, sagt der Zöllner, und der Verwalter darauf: Wenn ich's dir sage: vor zehn Minuten ging das Ding weg. Einer von euch hat's gekauft, wenn du's genau wissen willst. Von uns? fragt der Zöllner, wie sah er aus? Ich merk mir keine Gesichter, sagt der Verwalter, er war jung, das ist alles, was ich dir sagen kann. Der Verwalter zuckt die Achseln. Hängematten in vierzehn Tagen, sagt er. Ja, sagt der Zöllner, ist gut.
  Die Tür schließt sich vor ihm, und er murmelt etwas gegen die Tür und bleibt länger stehen als üblich. Er steckt sich eine Zigarette an. Er öffnet das leere Etui vor seiner Brust und schließt es wieder. Die »Albatros« läuft mit nüchternen Betriebsausflüglern zu ihrer letzten Tagestour aus. An Bord stehen ein paar Kerle mit Ferngläsern und glotzen auf zwanzig Meter die Zurückbleibenden an. Drüben vor den Hotels halten einige Busse. Die Leute, die aussteigen, schleppen sich gleich zu den Kneipen und Freßlokalen, in denen man das ganze Zeug aus dem Fjord vorgesetzt kriegt: Sprotten, Muscheln, Dorsche und Aale. Wenn man sieht, wie die Leute da von den Bussen reinströmen, weiß man, wovon die Kneipen leben, die dicht an dicht stehen mit ihren hochtrabenden Namen. Fjordblick heißen sie oder Fjordkeller und eine nennt sich sogar Fjordtröpfchen. Viele von denen, die mit den Bussen herkommen, kriegen den Fjord selbst überhaupt nicht zu sehn. Zuhause wissen sie nur noch, wieviel sie gesoffen haben.
  Der junge Zöllner streift am Spalier der Kneipen entlang. Er fährt zur Chaussee, die den Wald durchschneidet. Er hält an der gleichen Stelle, an der er immer absitzt. Staubige Autos rollen in Kolonnen vorbei. In vielen sitzen Burschen mit nackten Oberkörpern. Verschwitzte Frauen hocken spreizbeinig auf den Beifahrersitzen und stieren auf die flimmernde Chaussee. Einige der mistigen Autos tragen an der Kühlerhaube Rentiergeweihe, bei andern sind die Scheinwerfer mit Birkenzweigen verdeckt. Auf den meisten Rücksitzen liegen erhitzte Gören, die sich im Schlaf besabbern. Es ist nicht leicht, über die Chaussee zu kommen, keiner hält an.
  Drüben im Wald, hinter der Schonung, wird es stiller. Die Paviane mit ihren Motorsägen haben Feierabend gemacht oder Kaffeepause, vielleicht sind sie auch auf den Zweigen weggeturnt. Auf einer Lichtung sitzen ein Langer und eine träge Breite im Badeanzug. Der Lange saugt sich am Gebiß des Mädchens fest, das den Kopf nach hinten geworfen hat wie unter einem Würgegriff; gleich wird der Nackenwirbel brechen. Der Zöllner sieht weg, blickt auf den Boden, als ob er den genauen Verlauf der Grenze bestimmen müßte. Auf der andern Seite ist nichts los. Nur einmal winkt ihm ein Kollege von drüben zu, mustert ihn durchs Glas, winkt noch einmal und schiebt ab. Heute kontrolliert ihn niemand. Die Transistorgeräte sind längst drüben - wenn nicht, werden sie nächste Woche rübergebracht.
  Er geht weiter auf dem Pfad neben der Grenze bis zum kleinen Waldsee. Er wirft eine Kippe in den stinkenden See. Auf der andern Seite des Sees steht Pischmikat und grinst. Sie gehen aufeinander zu. Sie geben sich die Hand. Pischmikats Frau ist seit zwei Jahren in der Klapsmühle, weil sie aus jedem unbewachten Kinderwagen Säuglinge klaute. Der hat es schon gehabt, daß er nach dem Dienst vier unbekannte Säuglinge im Schlafzimmer fand. Er besucht seine Frau und bringt ihr Obstkuchen und Saft, weil sie immer Durst hat.
  Hast du Reinhart gesehen, fragt er. Reinhart ist vorbeigesaust hier, als ob sie wären hinter ihm her. Nein, sagt der junge Zöllner, ich hab ihn nicht gesehn. Hat nur gelacht und ist gerannt, und weg war er, sagt Pischmikat. Er hat doch die Bucht heute, sagt der junge Zöllner, und Pischmikat darauf: Mir hat er keine Auskunft gegeben, nur vorbeigerannt ist er. Nahm er dich nicht mit? Er ist jung wie du, ist Anfänger wie du: da möchte man vieles allein machen. Sie setzen sich ans Ufer des kleinen, stinkenden Sees. Das Wasser ist dunkel und brühwarm, Sie tauschen Zigaretten aus und sitzen und beobachten schweigend die Grenze. Plötzlich sagt Pischmikat: Was will der Alex nur von dir? Warum will er dich fertigmachen? Ich weiß es nicht, sagt der junge Zöllner, vielleicht weil ich den Diebstahl der Pistole gleich gemeldet hab, ohne mit ihm darüber zu reden. Er hat was gegen dich, sagt Pischmikat. Ja, sagt der junge Zöllner, ja, ich weiß. Solltest nach Feierabend ein Bier mit ihm trinken, sagt Pischmikat. Kann sein, sagt der junge Zöllner, ich werd ihn mal einladen. Sie sitzen eine Weile schweigend nebeneinander, dann stehen sie schweigend, ohne Verabredung, auf, nicken sich zu und gehen in verschiedene Richtungen davon.
  Der junge Zöllner geht weiter an der Grenze entlang bis zum verlassenen Gehöft. Hier endet sein Bezirk. Das Gehöft ist fensterlos, in den Mauern geplatzt, die nackten Räume werden als Toilette benutzt. Bei Regen kann man sich hier unterstellen. Er umrundet das Gehöft, steht und lauscht in den verwilderten Garten, alles ist still. Er sieht auf die Armbanduhr. Ruhig beobachtet er ein rechteckiges Feld und den Rand einer Schonung. Es wird dämmrig. Jenseits der Grenze kläfft ein Köter, ein anderer antwortet ihm aus großer Entfernung. Der junge Zöllner kehrt zu seinem Fahrrad zurück und schiebt es zu einem breiten, sandigen Waldweg, der von der Grenze wegführt. Der Weg ist zerfahren von den Rädern der HolzLastwagen. An den Seiten liegen gefällt Stämme, bereit zum Abtransport. Das Geländer einer Brücke, die über einen mageren Bach führt, ist eingedrückt. Kühl ist der Sand und feucht auf dem Weg unter den Bäumen. An Fahren ist nicht zu denken. Bis zur Kreuzung muß er das Fahrrad schieben, bis zur alten gepflasterten Chaussee. Jetzt geht's bergab, an verdreckten Fabrikhöfen vorbei. An allen Mauern hängen Fruchtsaft-Plakate. Die Fjord-Zeitung macht Reklame für sich. Man kriegt schon genug von dieser Gegend auf der kurzen Fahrt von der Kreuzung bis zur Unterführung. Arbeiterinnen pfeifen hinter ihm her, sie tragen sehr enge Röcke, man kann darunter die dreieckigen Slips erkennen, deren Gummizug in den Oberschenkel schneidet.
  Er fährt durch die Unterführung, an der Endstation der Straßenbahn vorbei und, ohne den Freihafen zu berühren, die Buchenallee hinauf. Im Zollgebäude oben auf dem Berg brennen die ersten Lichter. Auch in einigen Dienstbaracken sind Lichter aufgeflammt. Der junge Zöllner steigt ab, blickt hinab in die Kiesgrube. Auf dem Grund stehen zwei Lastwagen. Sie stehen sich mit laufenden Motoren und brennenden Scheinwerfern gegenüber, als würden sie gleich aneinandergeraten. Vor einer Bude stehen ein paar Kerle und rauchen. Aus dem Zollgebäude ist Radiomusik zu hören, nein, nicht aus dem Zollgebäude, sondern aus dem Buchenwald. Tagsüber haben die Sommergäste den Strand versaut, jetzt müssen sie im Wald Krach machen. Gottseidank wird es bald Herbst.
  Der Innendienst hat schon Feierabend gemacht. Über den sandigen Platz latschen zwei Frauen vom ReinemachKommando; sie machen einen Heidenlärm und fuchteln mit den Armen. Vor dem Abschied fällt ihnen am meisten ein: eine halbe Stunde brauchen sie, um endlich loszukommen voneinander. Am Rande des Platzes flammen die großen Bogenlampen auf. Der Zöllner sitzt auf. Er fährt das letzte Stück bis zur Baracke und lehnt sein Fahrrad gegen die Wand. Er geht den trüben Korridor entlang, in einem Raum wird telefoniert. Er öffnet die Tür zum Büro. Alex sitzt gebeugt und leise schnaufend über einem Stapel blauer Mappen, die er mit Skriptol beschriftet. Auf seiner Aktenmappe liegt fein zusammengefaltet Butterbrotpapier - vermutlich ist er die ganze Dienstzeit mit dem gleichen Bogen ausgekommen. Der junge Zöllner angelt sich das Dienstbuch, grüßt Alex, läßt sich an einer Ecke des Schreibtisches nieder. Alex sieht ihn gleichgültig an, schnappt sich die blauen Mappen und steht auf. Ich geh mal zum Hauptgebäude rüber, sagt er. Ist gut, sagt der junge Zöllner. Alex schlurft mit seinen beschrifteten Mappen raus. Der Zöllner macht seine Eintragung. Er schließt das Dienstbuch und legt es in eine Schublade. Dann tritt er an das Schlüsselbrett, hebt den Schlüssel zu seinem Spind ab. Er öffnet sein Spind. Langsam hebt er den Riemen über seinen Kopf und nimmt das leere Etui in die Hand. Er schiebt sein Etui tief in das Spind hinein und blickt sich schnell um: draußen schlurft Alex unter dem Licht der Bogenlampen zum Hauptgebäude hinauf. Das Schlüsselbrett ist nur zwei Schritte entfernt. Jeder Haken hat seine Nummer. Er hebt den Schlüssel Nummer 5 ab und öffnet Reinharts Spind. Vorn liegt ein Stapel von blödsinnigen Merkblättern, daneben das Etui mit dem Fernglas. Auf dem Gang draußen ist es still, im Nebenzimmer telefoniert Michelsen immer noch. Der junge Zöllner öffnet Reinharts Etui, holt das Glas heraus, sieht auf die Mittelschraube und erkennt, daß die mattgraue Schutzfarbe zur Hälfte weggekratzt ist. Es ist sein Glas. Er wirft das leere Etui in Reinharts Spind, schließt ab und hängt den Schlüssel ans Brett. Dann steckt er sein Glas in sein Etui und schiebt das Etui tief in den Spind hinein und schließt ab. Er zieht die metallene Klammer von seiner Hose und drückt die Klammer in der Hand zusammen. Auf einer Karte gegenüber der Tür verfolgt er noch einmal die Wege, die er heute gemacht hat.
  Michelsen von nebenan kommt herein und puhlt sich am Ohrläppchen; er fragt: Ist Alex nicht hier? Im Hauptgebäude, sagt der junge Zöllner und begleitet Michelsen hinaus. Sie gehen schweigend den Gang entlang, draußen geben sie sich die Hand. Sie trennen sich. Unten am Fjord sind die Kneipen erleuchtet. Alle sind bevölkert von Sommergästen, die sich zur Nacht vollsaufen. Die Kneipenwirte brauchen sich jedenfalls nicht selbst anzupumpen. Die ganze Strandpromenade wimmelt von vergnügten Sommergästen, die unter Johlen und Pfeifen zu einem Lokal hinschieben, dort, wo im Freien getanzt wird. Der junge Zöllner fährt nach Hause, führt das Rad in den zugigen Flur und blockiert es am Eingang zum Keller. Er hat die Erlaubnis des Hauswirts. Er klingelt ein einziges Mal bei Tabert, bevor er die Tür selbst aufschließt und sie hinter sich zufallen läßt. Vor der Garderobe zieht er seine Jacke aus und hängt sie über einen Drahtbügel. Dann geht er ins Wohnzimmer. Am kleinen Tisch vor dem Radio sitzen Reinhart und seine Frau; beide trinken Bier. Endlich, sagt die Frau, wir warten schon eine halbe Stunde auf dich. Sie steht auf, holt ein Glas und eine Flasche Bier und schenkt ihm ein. Er setzt sich ohne ein Wort. Reinhart hat dir etwas zu erzählen, sagt die Frau, etwas, was dich sehr interessiert. Der junge Zöllner antwortet nicht. Auch Reinhart wurde etwas gestohlen, sagt die Frau, aber er hat es wieder zurück. Ich mußte einfach zu dir kommen, sagt Reinhart, ich hoffe, du hast nichts dagegen. Reinhart hat einen Verdacht, sagt die Frau. Der junge Zöllner nimmt eine halbe Zigarette vom Radio und steckt sie sich an. Er öffnet sein Hemd über der Brust. Wir finden ihn, sagt Reinhart, wir kriegen ihn bestimmt. Der kann sich auf was gefaßt machen. Reinhart hat das Schloß an seinem Spind präpariert, sagt die Frau. Der junge Zöllner steht auf, geht zum offenen Fenster und sieht auf die Kastanien hinab. Die Farbe ist blau und rot, sagt die Frau, die bleibt drei Tage an den Fingern, man kann sie nicht abwaschen. Wer es auch sein wird, sagt Reinhart, ich frag erst gar nicht, ich erledige es selbst. Wir werden alles rauskriegen, sagt die Frau. Der junge Zöllner hebt seine Hand vorsichtig über dem Fensterbrett. Erstaunt sieht er auf seine Fingerkuppen. Jetzt werden wir alles erfahren, sagt die Frau, und der junge Zöllner, ohne sich umzudrehn: Hoffentlich.

1966