Ein Grenzfall
Der junge Zöllner schiebt sein Fahrrad die
Strandpromenade entlang. Mittags fährt es sich schlecht hier. Wenn
er zum Dienst geht, stürmen die Sommergäste die Mittagstische und
die neuen, hochgebauten Hotels. In Strandjacken, in Shorts, in
Badeanzügen wimmeln sie über die Promenade. Kinder reißen sich
immer noch mal los, um ihre blöden Gummitiere zu holen. Strandbälle
fliegen zu den muschelbesetzten Sandburgen hinüber. Ein paar Kerle,
die ihre quengelnden Gören huckepack schleppen, sehen nicht nach
rechts, nicht nach links. Der junge Zöllner bleibt mitunter stehen,
um rotgebrannte Frauen oder Mädchen in feuchten Badeanzügen
vorbeizulassen. Es ist schon ziemlich happig, was die so von sich
geben. Jedenfalls vergeht einem die Lust, ihnen auf den Sonnenbrand
zu klatschen, wenn man sie reden hört. Auf ihren dünnen, steilen
Absätzen staksen sie in ihre Zimmer, stoßen die Fenster auf und
hängen enge Badeanzüge zum Trocknen raus. Keine von ihnen merkt,
daß der Strand jünger und freundlicher wirkt, wenn sie abgeschoben
sind. Tang, Treibholz und Seegras haben nun mal auf dem Strand mehr
zu suchen als Liegestühle, Nivea-Fahnen und all so'n
Zeug.
Der junge Zöllner schiebt sein
Fahrrad zu einem Stand, in dem ein schweigsamer Bursche Brause
verkauft, kalte Fischklopse, Ansichtskarten und halbverfaultes
Obst. Zwei Gören versuchen ein dreckiges Plastikboot gegen eine
Eisportion einzutauschen. Der Besitzer des Stands nimmt das Boot,
prüft es und schmeißt es in den Sand. Senge, sagt er, Senge ist das
einzige, was ihr dafür kriegen könnt. Der Zöllner läßt sich eine
Flasche Brause geben. Am Glas kleben noch die Fusseln des
Handtuchs. Er trinkt, setzt das Glas ab und bittet um ein Stück
Eis, und der Bursche wirft ihm ein Stück Eis ins Glas und glotzt
ihn feindselig an, als ob er nun ruiniert sei oder so. Der Zöllner
schiebt die Mütze ins Genick. Er wendet das Gesicht ab und trinkt
und sieht hinaus auf den Fjord, in dessen Mitte die Grenze
verläuft. Draußen dümpeln Segelboote in der Flaute. Die »Albatros«,
ein altmodischer Vergnügungsdampfer, den sie für Betriebsausflüge
aufgemöbelt haben, kommt mit Besoffenen von den Inseln zurück. Der
Zöllner gießt den Rest der Brause ins Glas. Es zischt und kocht um
den Eiswürfel, und als er das Glas ansetzt, prickelt es auf der
Oberlippe. Aus einem Strandkorb hängen ein paar Mädchenbeine, lange
braune Ständer, die wohl jemand vergessen hat. Wie geht das
Geschäft, fragt der Zöllner, und der Bursche am Stand sagt:
Belämmert, und kämmt sich ausdauernd über seinem
Würstchenkessel.
Der Zöllner bezahlt die Brause
und sagt kein Wort zum Abschied. Er schwingt sich aufs Fahrrad. Ein
Bus mit vierundzwanzig Krankenschwestern kommt auf ihn zu, die
Krankenschwestern winken und johlen und brüllen ihm etwas nach. Er
erkennt sein Spiegelbild auf der langsam vorbeirollenden Metall-
und Glaswand des Busses. Es stinkt nach Fischen und Benzin. Auf
einer Mauer sind Fischkästen gestapelt, sie trocknen in der Sonne.
Breitbeinig, mit großen Schweißflecken unter den Achselhöhlen,
sitzt eine Frau allein im warmen Sand, glotzt auf den Fjord und ißt
einen Korb leer. Unten am Wasser, im feuchten Sand, gräbt ein
Angler nach Sandwürmern. Ein Frauenstrumpf hängt an einem trockenen
Ast, die ganze Ferse des Strumpfes ist durchgeblutet. Der junge
Zöllner fahrt die Standpromenade zuende, steigt ab, schiebt sein
Fahrrad gebeugt einen mit ausgewachsenen Buchen bewaldeten Berg
hinauf. Das ist der kürzeste Weg. Er könnte auch durch den
Fischereihafen, an den Schienen entlang, die Buchenallee hinauf, an
der Kiesgrube vorbei zum Zollgebäude. Das Zollgebäude, von miesen
Dienstbaracken umgeben, liegt auf der Kuppe des Berges; davor ist
ein Fahrradständer für zwölf Fahrräder und eine Fahnenstange. Von
den Fenstern im ersten Stock kann man auf den versauten Strand
hinuntersehen, auf den dunklen Fjord und die bewaldeten Inseln, wo
sich die Betriebsausflügler mit zollfreiem Alkohol vollsaufen. Aus
Kiel, aus Hamburg, sogar aus Hannover kommen sie herauf, um sich
hier vollzusaufen. Sechs Baracken stehen um das Hauptgebäude herum.
Für alle genügt eine Fahnenstange.
Der junge Zöllner hebt sein
Fahrrad in den Ständer, blockiert das Hinterrad und geht über den
leeren, sandigen Platz zu seiner Baracke, um sich zum Dienst zu
melden. Im trüben Korridor, der an den Gang eines uralten Schiffes
erinnert, trifft er Reinhart, der mit ihm zusammen die Prüfung
bestanden hat, und der sich, wie er, zum Dienst melden will. Der
junge Zöllner fragt Reinhart: Wie geht's dem Lütten? Reinharts
einziger Sohn hat ein Metallputzmittel getrunken und liegt im
Krankenhaus. Etwas besser, sagt Reinhart. Sie gehen ins Büro. Alex
hat Aufsicht. Gott sei Dank soll der alte Hund bald einen Tritt
bekommen und in Pension geschickt werden. Das Büro ist ein
langgestreckter Raum mit niedriger Decke; ein schwarzer Kanonenofen
steht da, ein Besucherstuhl, zwei Hocker, an einer Wand haben sie
eine Spindreihe aufgehängt. Alex raucht nicht, trinkt und hustet
nicht. Er redet vorsichtig. Die dringenden Fragen stellt er mit den
Augen. Keiner hat ihn je fluchen hören, und wenn er seinen Kaffee
aus dicker Porzellantasse trinkt, spreizt er fein den kleinen
Finger weg. Er lebt mit seiner Schwester zusammen und läßt sich von
ihr die Stullen schmieren. Solange er noch hier herumsitzt mit
seinen blankgewetzten Hosen, ist er Manteuffels Vertreter.
Manteuffel selbst hockt zum Glück im Hauptgebäude, der kann jeden
verrückt machen mit seiner Leidenschaft für sogenannte innere und
äußere Sauberkeit und ähnliche Scherze.
Der junge Zöllner grüßt Alex,
tritt an ein Schlüsselbrett und nimmt den Schlüssel zu seinem
Spind. Er schließt sein Spind auf, das noch nicht vollgestopft ist
wie die Spinde der älteren Zöllner, die darin warme Schals, Tabak
und sogar Hustensaft aufheben. Er langt tief hinein, taucht fast
mit der rechten Schulter ins Spind und schnappt sich das verkratzte
Lederetui mit dem Fernglas. Er zieht das Etui am Riemen heraus; das
Etui fällt, schlägt gegen seinen Schenkel, er fängt es mit dem
Riemen auf. Der junge Zöllner kehrt Alex den Rücken zu und öffnet
das Etui. Das Etui ist leer. Hastig durchsucht er das Spind, tastet
und klopft es ab, aber außer ein paar Merkblättern und ähnlichem
Mist ist nichts drin. Das Fernglas ist weg. Alex hat schon gehört,
wie er mit der flachen Hand das Spind abklopfte. Jetzt äugt er
erstaunt zu dem jungen Zöllner herüber. Ist was, fragt er, und noch
einmal: Suchst du was? Der junge Zöllner schüttelt den Kopf.
Vorsichtig schließt er das leere Etui, hebt den Riemen über den
Kopf, läßt das Etui vor seiner Brust baumeln. Alles in Ordnung,
sagt er und schließt langsam das Spind ab und hängt den Schlüssel
ans Brett. Das Etui ist sehr leicht. Es hüpft vor seiner Brust. Er
legt eine Hand darauf und drückt es nach unten. Aus den
Augenwinkeln sieht er zu Reinhart hinüber, der immer noch vor
seinem Spind steht. Reinhart hat sein überscharfes Fernglas vor der
Brust hängen und liest eines der kleingedruckten Merkblätter, die
jedem auf die Nerven gehen. Der junge Zöllner geht zum
Schreibtisch, wartet schweigend, bis Alex die Kopien der
Anforderungsliste gelocht und abgeheftet hat, dann sagt er: Ich
nehm den Strand bis zur Mole und das Grenzstück im Wald. Wie
gestern. Während er spricht, hält er das leere Etui fest. Alex
nickt, ohne aufzusehen. Er radiert. Er radiert mit weichen Fingern
und pustet die dreckigen Gummikrümel so über den Tisch, daß sie in
den Papierkorb fallen. Ich hab's verstanden, sagt Alex und dreht
sich nach Reinhart um, der mit dem Merkblatt nicht fertig wird. Du
nimmst die Bucht, sagt er zu Reinhart, und sagt auch: Hier ist noch
was für dich, worauf Reinhart nur grunzt und lesend näher
kommt.
Die Hand auf dem zerschrammten
Etui, verläßt der junge Zöllner mit einem Kopfnicken seine
Dienststelle. Auf dem Korridor lauscht er einen Augenblick und hat
wohl das Gefühl, daß sie auch drinnen lauschen, darum latscht er
aus der Baracke. Er geht langsam über den leeren, sandigen Platz
zum Fahrradständer. Bevor er sein Fahrrad heraushebt, grüßt ihn so
ein vergnügter, rotwangiger Kerl, der immer auftritt wie unter
Festbeleuchtung. Manteuffel kreuzt immer auf, wenn man ihn nicht
braucht. Wieder eingelebt, Tabert, fragt er, und der junge Zöllner
erschrickt und sagt nur: Ja. Manteuffel ist damit zufrieden. Er
hat's eilig wie immer und rudert zur Materialbaracke rüber. Wenn
der mal einen Flecken im Anzug hat, ist er für jede Arbeit
ungeeignet.
Die Wipfel der Buchen regen sich,
ein leichter Wind ist aufgekommen; über den Fjord gehen jetzt
gemächlich Segelboote. Wolken sind nicht in Sicht. Der junge
Zöllner fährt die Buchenallee hinab. Familien wandern zum Strand
runter, um ihn noch mehr zu versauen. Eine magere Göre, die sich
einen Sandeimer auf den Kopf gestülpt hat, versperrt ihm mit
ausgestreckten Armen den Weg. Er reißt das Fahrrad herum, legt
einen Zahn zu und kreuzt die Schienen.
Auf der Ringstraße ist kein
Verkehr. Er strampelt im Schatten sehr alter Kastanien. Über manche
Balkons haben sie gestreifte Markisen gespannt, darunter sitzen
Frauen im Unterrock und Männer mit offenen Hemden. Vor einem Neubau
bremst er. Er läßt das Fahrrad am Rinnstein stehen, läuft ins Haus
und klingelt mehrmals hintereinander bei Tabert. Eine junge,
schwarzhaarige Frau öffnet ihm. Sie erschrickt. Er schiebt sie zur
Seite, schließt die Tür und hört sie fragen: Um Gottes Willen, was
ist passiert? Der junge Zöllner reißt das Etui auf, hält es ihr hin
und sagt: Da! Siehst du was? Mein Dienstglas - es ist weg. Vor
vierzehn Tagen die Pistole: heute das Glas. Die Frau geht langsam
rückwärts zu einem Stuhl. Sie braucht sich nicht umzusehen, bevor
sie sich setzt, denn alle Entfernungen in der Wohnung sind
instinktiv vermessen. Mein Gott, sagt sie, das hat uns grade noch
gefehlt. Sie wollen mich fertigmachen, sagt er, irgend jemand will
mich fertigmachen. Du mußt es melden, sagt sie, und dann: Warum
hast du es nicht gleich gemeldet? Der junge Zöllner steckt sich
eine Zigarette an, schmeißt das Streichholz durchs Fenster und
überzeugt sich, daß das Dienstfahrrad noch am Rinnstein steht.
Melden, sagt er, bei Manteuffel einen Diebstahl melden? Der macht
doch mich dafür verantwortlich, daß sie mir etwas geklaut haben.
Als persönliche Beleidigung sieht der es an, wenn man einen
Diebstahl meldet, weil das seine verdammte innere und äußere
Sauberkeit bedroht. Denk nur an die Pistole! Manteuffel glaubt noch
heute, daß ich sie selbst verscheuert habe. Einen Diebstahl begehen
oder melden - für ihn ist das die gleiche
Sache. Aber wie, fragt die Frau, wie konnte das nur passieren? Ganz
einfach, sagt der Zöllner, das Fernglas war im Spind, und der
Schlüssel zum Spind hing am Brett. Es muß einer von uns gewesen
sein. Mein Gott, sagt sie, und dir muß es passieren, ausgerechnet
dir. Warum kann das nicht Reinhart passieren, oder Bungert oder
diesem widerlichen Pischmikat, der nicht mal richtig deutsch kann?
Wenn ich's melde, sagt er, hab ich alle gegen mich. Ich kann's mir
einfach nicht leisten. Zuerst die Dienstpistole und jetzt das
Fernglas: alles in vierzehn Tagen. Und wenn wir ein Glas kaufen,
sagt sie. Frag mal, was so'n Ding kostet, sagt er, und wovon willst
du es bezahlen? Das ist noch nie dagewesen: in vierzehn Tagen zwei
solche Sachen; die glauben mir doch nicht. Aber wir müssen doch
etwas tun, sagt die Frau, und der Zöllner darauf: Ich hab Dienst,
ich darf gar nicht hier aufkreuzen.
Er reibt die Glut von der
Zigarette. Er legt die halbe Zigarette auf den Radioapparat und
latscht ohne ein weiteres Wort raus und schwingt sich auf sein
Stahlroß, Die Frau lüftet die Gardine und starrt ihm nach, wie er
davonfährt: steif die Ringstraße runter und dann um die Ecke zum
Gehölz. Er öffnet den Kragen. Vor seiner Brust baumelt das leere
Etui. Der Riemen schneidet nicht wie sonst in den Nacken. Am
Eingang zum Gehölz ist ein Parkplatz, darauf steht eine
Erfrischungsbude, die Frau Puhl gehört. Wer hier seine Brause
trinkt, bekommt glatt ihre Lebensgeschichte aufgetischt. Jedem
Kunden quatscht Frau Puhl die Ohren voll mit ihrer
Lebensgeschichte, in der die Kantine einer Marineartillerie-Schule
den größten Raum einnimmt. Sie hat einfach nicht alle
beisammen.
Der junge Zöllner fährt auf dem
Hauptweg durchs Gehölz, das in der Saison ein richtiger Saustall
ist. Wenn die Sommergäste nicht am Strand rumlungern, kommen sie
hier herauf, um sich zu lagern und so weiter. Wo die lagern, da
kann man gleich die Städtische Müllabfuhr hinschicken. Eine Schar
von Gören, der zwei Nonnen mit weißen Hauben voransegeln, kommt ihm
entgegen. Die Gören winken ihm zu. Eine Nonne ruft: Das ist ein
Zollbeamter, Kinder; er hütet unsere Grenze. Sonst ist im Gehölz
nicht viel los heute. Die meisten zieht's zum Strand.
Hinter dem Gehölz geht's bergab,
über eine Brücke, an einem schattigen Fluß entlang in den Wald, wo
die Grenze verläuft. Ein paar Kerle in Manchesterhosen, mit
Gummistiefeln an den krummen Beinen - bei dieser Hitze
Gummistiefel! - lassen ihre Motorsägen kreischen und pfeifen. Sie
säubern Stämme vom Astwerk. Sie verständigen sich durch Zeichen,
langsame Zeichen, wie alte Paviane sie geben. Der junge Zöllner
steigt ab und bietet ihnen einen Gruß an, doch keiner der Paviane
antwortet. Er schiebt das Fahrrad einen schmalen Pfad entlang, aus
dem sich gedrungene Wurzeln heben. Hier kann niemand fahren. Der
Pfad führt zur Grenze und an der unscheinbaren Grenze entlang, die
nur durch einen mistigen Graben vorgestellt wird.
In einer Schonung schlägt ein
Köter an: das ist Hasso. Er heißt nun mal so. Hasso läuft an langer
Leine, die Bungert in der Hand hält, Bungert zwängt sich aus der
Schonung und grinst und läßt den jungen Zöllner herankommen. Er hat
sein Glas vor der Brust hängen. Er stiert auf seine Armbanduhr und
fragt: War was unterwegs? Im Büro, sagt der junge Zöllner, ich kam
nicht gleich weg. Das Fernglas, das Bungert offen vor der Brust
hängen hat, könnte sein Glas sein. Er hat es nicht gekennzeichnet,
aber an der Mittelschraube könnte er es wiedererkennen. Wir haben
einen Wink von drüben bekommen, sagt Bungert. Sprit, fragt der
junge Zöllner, und Bungert darauf: Transistorgeräte - vielleicht
versuchen sie's in unserm Abschnitt. Drüben warten sie auch schon -
durchs Glas kannst du sie erkennen. Hasso schnüffelt und schnuppert
an dem jungen Zöllner herum, manchmal schnappt er sich jaulend ins
Fell und beißt da Flöhe tot. Angenehm hört es sich nicht an, wenn
der Köter seine gelben Hauer gegeneinander bewegt und sabbernd das
Fell durchkämmt. Ich hab außerdem den Strand bis zur Mole, sagt der
junge Zöllner. Gut, sagt Bungert, ich schieb jetzt ab. Er wischt
sich mit dem Taschentuch über Stirn und Nacken, klopft seine
Uniform ab und verkürzt die Leine. Er tippt grüßend an die Mütze
und zerrt den Köter, der wie blödsinnig zu scharren anfängt, zum
buckligen Pfad.
Der junge Zöllner lehnt das
Fahrrad an einen Baum. Er öffnet das Etui und untersucht es, aber
außer dem grauen, ledernen Putzlappen ist da nichts zu finden. Er
steckt den Putzlappen in seine Rocktasche und beginnt, das Etui mit
Sand zu füllen. Es ist warmer, lockerer Sand, den er neben dem Pfad
zusammenkratzt. Er wiegt das Etui auf ausgestreckter Hand, schließt
es und hängt es sich um. Er latscht die Grenze ab bis zum Hünengrab
und spürt bei jedem Schritt das Gewicht des Etuis. An der Grenze
ist nichts los heute, die Kollegen von drüben lassen sich nicht
blicken. Der Himmel ist immer noch wolkenlos. Im Unterholz knistert
die Hitze. Er steigt auf das Hünengrab hinauf und blickt über die
Waldlichtung nach drüben. Er raucht eine Zigarette, knipst sie aus
und steckt die lange Kippe in die Schachtel zurück. Eine
Dampfsirene dröhnt gedämpft vom Fjord herauf. Über die Waldlichtung
drüben schiebt ein Kerl eine Schubkarre. Der junge Zöllner klettert
vom Hünengrab runter, schiebt das Fahrrad zum Hauptweg, sitzt auf
und fährt zur Chaussee und dann weiter zum Hafen. Im kleinen Hafen
hat die »Albatros« mit den Betriebsausflüglern festgemacht. Fast
alle, die von Bord gehen, schwanken. Zwei Burschen schleifen eine
besoffene Alte über den Laufsteg, alle drei haben blöde Papierhüte
auf. Ein junges Mädchen steht spreizbeinig mit leicht eingeknickten
Knien an der Reling und übergibt sich. Wie aus einer Röhre schießt
das Erbrochene aus ihrem Mund und platscht in das stille,
sonnüberglänzte Hafenbecken. Irgendwo auf dem altmodischen Dampfer
wird immer noch gesungen. Ein Wurstmaxe empfiehlt den besoffenen
Ausflüglern brüllend seine Würstchen.
An der Mole liegt eine feine
Segelyacht. Der junge Zöllner tippelt da raus und bleibt über der
Yacht stehen. Eine schwere Frau in Shorts, mit stark geäderten
Schenkeln, liegt schlaff und tot auf geblümten Kissen. Sie ist
barfuß. Sie hat zwei verwachsene Zehen. Neben ihr auf der Heckbank
liegen Zigaretten, und da liegt in einem hellbraunen Etui ein
Fernglas. Er lehnt das Fahrrad an einen Poller. Das Fahrrad fällt
um, und die tote blonde Frau erwacht von dem Lärm und lächelt, ganz
bedusselt von der Sonne. Sie können hier nicht über Nacht liegen
bleiben, sagt er. Keine Sorge, sagt sie, wir gehn bald raus: mein
Sohn holt nur Obst und Sonnenöl. Sie langt nach der
Zigarettenpackung, öffnet sie, reicht sie ihm hinauf, doch er lehnt
ab. Er hockt sich auf der Steintreppe hin und gibt ihr Feuer. Das
Fernglas könnte das gleiche Format haben wie sein Glas, vielleicht
auch die gleiche Schärfe. Trinken dürfen Sie wohl auch nicht, sagt
die Frau. Nein, sagt er, trinken nicht. Aber eine Aufnahme, sagt
die Frau, darf ich Sie bitten, eine Aufnahme von mir zu machen? Sie
brauchen nur den Auslöser runterzudrücken. Von mir aus, sagt
er.
Sie turnt schwerfällig in die
Kajüte runter. Wie sie das aushält mit dem hochgepreßten Busen und
den kneifenden Shorts. Ihre Haut ist griesig. Man hat nichts davon,
sie sich gründlich anzusehen. Unten nimmt sie einen Schluck aus
einer Flasche und wischt mit dem Handrücken über den breiten Mund.
Sie schnappt sich einen Kamm, kämmt das stumpfe Haar, dann kommt
sie mit ihrem Photoapparat zurück. Er knipst sie vor dem Mast, er
knipst sie zur Sicherheit an der Pinne und mit verschränkten Armen
vor dem Rettungsring. Danach legt sie los mit »ganz herzlichem
Dank« und so weiter. Der junge Zöllner winkt ab und murmelt etwas.
Ein gutes Glas haben Sie, sagt er. Keine Ahnung, sagt sie, das Glas
gehört meinem Sohn. Er nimmt das hellbraune Etui von der Heckbank
und fragt; Darf ich mal? Sie bringt ihre träge Masse in
Ruhestellung. Klar, sagt sie.
Er hebt das Glas an die Augen,
stellt die Trennschärfe ein, blickt über den Fjord hinaus bis zu
den kahlen Inseln, von denen die Ruderboote der Angler ins tiefere
Wasser hinausstreben. Weit draußen tauchen die grauen Aufbauten
eines Minensuchers auf. Langsam schwenkt er über den Fjord zum
Strand. Segelboote ziehen vorbei. Er erkennt den Kopf eines
Schwimmers. Parallel zum Strand fahren ein paar von diesen elenden
Motorbooten. Hinter einer Strandburg tauchen Köpfe auf, wie
Seehunde aus einer Welle. Im Schutz seines Korbes zieht ein
silberhaariger Sommergast seine Badehose aus. Er hat hängende
Hüften, einen hängenden Hintern. Die Buden und Stände sind von
Gören und jungen Leuten belagert. Überall am Wasser stehen
brüllende Kinder. Kinder können einem den ganzen Urlaub versauen,
weil sie sich entweder den Fuß aufschneiden oder auf die Toilette
geschleppt werden wollen oder weil ihnen eines der blöden
Gummitiere wegschwimmt. Vor dem Fischgeschäft hält die Karre von
der Räucherei. Bungert verläßt das Geschäft. Ein sehr gutes Glas,
sagt der junge Zöllner. Das will ich meinen, sagt ein arroganter
Bursche mit Seglermütze, der hinter ihm aufgekreuzt ist. Die Frau
rappelt sich wieder auf. Sie nennt den riesigen Burschen
»Liebling«. Sie sagt: Hast du auch Sonnenöl, Liebling, worauf der
Liebling freundlich grunzt und mit seiner wasserdichten
Einkaufstasche an Bord springt. Ich hab sogar Notraketen, sagt er,
drüben in der Werft bekommt man alles, neu oder gebraucht, im
Magazin. Wir dürfen hier nicht liegen bleiben an der Mole, sagt
sie, und der junge Zöllner legt das Glas auf die Heckbank und sagt:
Festmachen schon; nur über Nacht können Sie hier nicht
liegenbleiben. Er grüßt, packt sein Fahrrad, dreht es herum und
latscht zum Hafen zurück. Im Bauch der »Albatros« singen immer noch
besoffene Betriebsausflügler. Neben dem Laufsteg findet eine dieser
verrückten Abschiedsszenen statt: mehr als achtzig Ausflügler sagen
sich da gegenseitig auf Wiedersehn. Ein Kerl im Regenmantel hat
einen Hustenanfall, doch das hindert ihn nicht, andern die Flosse
zu drücken. Zu den öffentlichen Toiletten ist eine endlose
Prozession unterwegs. Vor dem Eingang warten die Leute in
Viererreihe. Der junge Zöllner überquert die Schienen. Er geht am
Haus der Hafenverwaltung vorbei. Das Haus ist ziemlich verdreckt
und runtergekommen. Auf dem Fensterbrett liegen tote Fliegen. Die
Gardinen sind nicht nur mies, sondern auch zerrissen. Er sieht erst
gar nicht hinein, er geht zu den Schuppen hinüber und von dort an
einer leeren Slipanlage vorbei zur Werft.
Ein Arbeiter kriegt nicht mal
sein Maul auf, als der Zöllner ihn nach dem Magazin fragt. Nur mit
seinem Kopf macht er eine sparsame Bewegung in eine bestimmte
Richtung. Das genügt auch. Hinter Hügeln von Ventilen, Kolben und
Rohren und all dem ausgedienten Mist liegt das Magazin. Es ist eine
ziemlich große Bude mit zwei Stockwerken und einem Teerpappendach.
Neben dem Eingang hängt ein Verbotsschild, darunter ist eine
Klingel. Der Zöllner drückt den Klingelknopf. Drinnen rasselt und
tobt ein elektrischer Klöppel, daß man am liebsten abhauen möchte.
Wie Alarm hört sich das an, gleich wird die Hafenpolizei erscheinen
und ohne Anruf schießen, und so weiter.
Endlich kommt der Verwalter. Es
ist ein befehlsgewohnter Alter in fleckigem Tuchmantel, mit
ausgetretenen Schuhen an den Füßen und stark behaarten
Händen.
Komm rein, sagt er zum Zöllner
und zieht ihn in die Bude und schließt hinter ihm die Tür ab. Sie
steigen eine luftige Treppe hinauf. Sie gehen in ein behelfsmäßiges
Kontor mit Oberlicht. Der Verwalter packt einen gelben Ordner mit
Listen weg. Er setzt sich und nimmt einen Schluck aus einer
Blechtasse. Womit kann ich dem Zoll dienen? fragt er. Eine
Hängematte, sagt der Zöllner, ich bin auf der Suche nach einer
billigen Hängematte. Kann gebraucht sein. Tut mir leid, sagt der
Verwalter, die letzten Hängematten hab ich ans Kinderheim verkauft.
Ich denke, bei euch kann man alles kriegen, sagt der Zöllner, vom
Mast bis zur Schraube. In vierzehn Tagen krieg ich wieder
Hängematten, sagt der Verwalter, wenn's weiter nichts ist. Der
junge Zöllner nickt, geht zur Tür, dreht sich nochmal um und fragt
ruhig: Und ein Glas? Ein gebrauchtes Fernglas? Du hast doch eins,
sagt der Verwalter. Ich suche es nicht für mich, sagt der
Zöllner.
Der Verwalter dreht sich weg,
geht zu einem Regal und hebt einen Karton heraus. Er stellt den
Karton auf den Tisch. Oben drauf liegen Lappen und ölverschmierte
Arbeitshandschuhe. Suchend kramt er alles zur Seite, hebt eine
kleine Steuerbordpositionslaterne heraus, zuletzt bringt er ein
zusammengeschlagenes Handtuch zum Vorschein. Er schlägt es
auseinander und hält dem jungen Zöllner ein Glas hin und sagt:
Hundertfünfzig, und du hast es. Es ist ein sehr gutes Glas. Ich
hab's gerade reinbekommen. Der Zöllner nimmt das Glas. Er bewegt es
im Gelenk. Er sieht auf die Mittelschraube und erkennt, daß die
mattgraue Schutzfarbe da zur Hälfte weggekratzt ist. Seine Hand
beginnt zu zittern. Es ist sein Fernglas. Wenn du es mal prüfen
willst, sagt der Verwalter. Wer beliefert euch mit so guter Ware,
fragt der Zöllner. Geschäftsgeheimnis, sagt der Verwalter, und
dann: Weil du es bist, hundertdreißig. Ich weiß nicht, sagt der
Zöllner, ich muß es mir nochmal überlegen. Sowas geht schnell weg,
sagt der Verwalter, und der Zöllner gibt das Glas zurück und sagt:
Ich komm wieder, ich muß nur mal ausrechnen, wo ich den Zaster
einspare. Aber von mir aus: es ist so gut wie gekauft. Der
Verwalter wickelt das Glas in das Handtuch, legt es in den Karton
und stellt den Karton ins Regal. Zurücklegen kann ich es nicht,
sagt er. Ich beeil mich, sagt der junge Zöllner. Er gibt durch ein
Handzeichen zu verstehen, daß er den Weg hinaus allein findet. Er
steigt die Treppe hinab und schließt die Tür auf. Draußen packt er
sein Fahrrad mit einer Hand in der Mitte der Lenkstange. Der stumme
Arbeiter glotzt ihm lange nach, wie er davongeht zum Hafen und in
Richtung Strandpromenade.
Das Fjord-Café ist von
Halbstarken besetzt. An den Tischen im kleinen überwachsenen
Vorgarten ist kein Platz mehr frei. In Badehosen und Bikinis hocken
die Halbstarken da herum und können sich glatt den ganzen
Nachmittag an einer Brause festhalten. Aus den Lautsprechern in den
Linden singt Lemmy Baboo. Die Halbstarken geraten regelrecht in
Trance, wenn Lemmy singt. Jetzt kann man am besten ihre
Haltungsschäden studieren. Einige Burschen tragen
Schnürsenkelschlipse um den nackten Hals. Die Mädchen haben klobige
falsche Ringe an den Fingern. Der junge Zöllner geht vorbei. Er
hört, wie jemand sagt: Da geht 'ne grüne Gurke. Er könnte
stehenbleiben, in den Vorgarten gehen, sich den Satz wiederholen
lassen und, wenn er wollte, einem Burschen mit Hängeschultern die
Fresse polieren. Er latscht vorüber. Er blickt auf den Fjord
hinaus, in dessen Mitte hier die Grenze verläuft. Ein Zollkutter
von drüben patroulliert mit kleiner Fahrt ins offene Wasser hinaus.
Es ist hier nicht sehr viel los.
Plötzlich bleibt er stehn. Aus
dem Fischgeschäft kommt eine
junge, schwarzhaarige Frau. Sie schleppt eine
volle Einkaufstasche. Sie trägt ein dünnes rotes Kleid und Sandalen
an den nackten Füßen. Offenbar ist sie noch nicht fertig mit ihren
Einkäufen, sie ist nie fertig mit ihren Einkäufen. Dicht vor den
Schaufenstern geht sie die Promenade entlang. Im Vorübergehen prüft
sie die Auslagen, begrabbelt da einen Blumenkohl, untersucht
Pfirsiche auf dunkle Stellen. Der junge Zöllner folgt ihr
vorsichtig. Er weiß, daß sie jetzt Puddingpulver, jetzt Marmelade,
jetzt Brot, jetzt Käse kauft. An einem pilzförmigen Stand trinkt
sie eine Tasse Kaffee. Mit ihrem Kopfschütteln hat sie es
abgelehnt, Kuchen zu essen. Sie zahlt hastig. Dann geht sie zum
Schaufenster eines Optikers. Sie setzt die Einkaufstasche ab. Sie
sieht sich die ausgestellten Ferngläser an.
Der Zöllner lehnt sein Fahrrad an
einen Baum, geht von hinten an sie heran, sie sieht ihn im
Spiegelbild der Scheibe und dreht sich schnell um. Sie lächelt, als
ob er sie ertappt hätte, und sagt nichts weiter als: Ich bin gerade
beim Einkaufen. Er zieht sie um das Eckfenster. Er beobachtet die
Strandpromenade, dann sagt er: Wir müssen aufpassen, im Dienst
haben die das nicht gern. Ich habe Bungert getroffen, sagt sie, und
er: Ich weiß, wo mein Glas ist. Ich hab es gerade in der Hand
gehabt. Hast du es wieder, fragt sie erstaunt. Nein, sagt er, aber
ich weiß, wo es ist. Man hat es mir angeboten, für hundertdreißig
Mark. Dein Glas? Mein Glas, sagt er und steckt sich eine Zigarette
an. Drüben in der Werft, sagt er, der Verwalter in der Werft hat es
mir angeboten. Und von wem hat er's, fragt sie. Wenn ich das wüßte,
sagt er, wenn ich das wüßte, wären wir weiter. Aber es muß einer
von uns gewesen sein. Das kannst du doch melden, sagt sie, du
kannst es Manteuffel persönlich melden. Er schüttelt den Kopf. Er
sagt: Es ist nichts bewiesen damit. Willst du es dann vielleicht
zurückkaufen, fragt sie, dein eigenes Glas zurückkaufen? Ich muß es
tun, sagt er, ich hab' so eine Ahnung, als ob ich es tun muß. Es
ist furchtbar, sagt sie, und er, schon unterwegs zu seinem Fahrrad:
Es kann heute später werden, warte nicht auf mich. Er winkt der
Frau zu, und die Frau winkt zurück und geht langsam hinter ihm
her.
Der junge Zöllner fährt wieder
zurück durch den Hafen zur Werft. Wer ihn von weitem fahren sieht,
könnte denken, der hat seinen Dienst hinter sich oder muß
Verstärkung holen oder so etwas.
Auf dem unübersichtlichen Gelände
der Werft, zwischen rostigen Kesseln und zerschlagenen Aufbauten
steigt er ab, duckt sich und schüttet den Sand aus seinem Etui. Er
reinigt das Etui mit dem Taschentuch; dann fährt er zum Magazin und
drückt den Klingelknopf, der in beiden Stockwerken Alarm auslost.
Er sieht sich um. Der stumme Arbeiter ist verschwunden, vielleicht
haben sie ihn als Gallionsfigur an einen Bug geleimt. Fern am
Wasser fährt ein Kran entlang. Der Kranführer brüllt und regt sich
auf, um zwei Seeleute von den Schienen zu jagen. Der Himmel bewölkt
sich. Bald wird die Sonne fort sein. Der Zöllner klingelt noch
einmal, und jetzt hört er den Schritt des Verwalters auf der
Treppe, jetzt auf dem Gang. Der Verwalter öffnet die Tür. Er bleibt
im Eingang stehen. Ich möchte das Glas, sagt der Zöllner, ich bin
zurückgekommen, weil ich es kaufen möchte. Der Verwalter schnalzt
bedauernd mit der Zunge. Es ist weg, sagt er, ich hab's eben
verkauft. Das kann nicht sein, sagt der Zöllner, und der Verwalter
darauf: Wenn ich's dir sage: vor zehn Minuten ging das Ding weg.
Einer von euch hat's gekauft, wenn du's genau wissen willst. Von
uns? fragt der Zöllner, wie sah er aus? Ich merk mir keine
Gesichter, sagt der Verwalter, er war jung, das ist alles, was ich
dir sagen kann. Der Verwalter zuckt die Achseln. Hängematten in
vierzehn Tagen, sagt er. Ja, sagt der Zöllner, ist gut.
Die Tür schließt sich vor ihm,
und er murmelt etwas gegen die Tür und bleibt länger stehen als
üblich. Er steckt sich eine Zigarette an. Er öffnet das leere Etui
vor seiner Brust und schließt es wieder. Die »Albatros« läuft mit
nüchternen Betriebsausflüglern zu ihrer letzten Tagestour aus. An
Bord stehen ein paar Kerle mit Ferngläsern und glotzen auf zwanzig
Meter die Zurückbleibenden an. Drüben vor den Hotels halten einige
Busse. Die Leute, die aussteigen, schleppen sich gleich zu den
Kneipen und Freßlokalen, in denen man das ganze Zeug aus dem Fjord
vorgesetzt kriegt: Sprotten, Muscheln, Dorsche und Aale. Wenn man
sieht, wie die Leute da von den Bussen reinströmen, weiß man, wovon
die Kneipen leben, die dicht an dicht stehen mit ihren
hochtrabenden Namen. Fjordblick heißen sie oder Fjordkeller und
eine nennt sich sogar Fjordtröpfchen. Viele von denen, die mit den
Bussen herkommen, kriegen den Fjord selbst überhaupt nicht zu sehn.
Zuhause wissen sie nur noch, wieviel sie gesoffen haben.
Der junge Zöllner streift am
Spalier der Kneipen entlang. Er fährt zur Chaussee, die den Wald
durchschneidet. Er hält an der gleichen Stelle, an der er immer
absitzt. Staubige Autos rollen in Kolonnen vorbei. In vielen sitzen
Burschen mit nackten Oberkörpern. Verschwitzte Frauen hocken
spreizbeinig auf den Beifahrersitzen und stieren auf die flimmernde
Chaussee. Einige der mistigen Autos tragen an der Kühlerhaube
Rentiergeweihe, bei andern sind die Scheinwerfer mit Birkenzweigen
verdeckt. Auf den meisten Rücksitzen liegen erhitzte Gören, die
sich im Schlaf besabbern. Es ist nicht leicht, über die Chaussee zu
kommen, keiner hält an.
Drüben im Wald, hinter der
Schonung, wird es stiller. Die Paviane mit ihren Motorsägen haben
Feierabend gemacht oder Kaffeepause, vielleicht sind sie auch auf
den Zweigen weggeturnt. Auf einer Lichtung sitzen ein Langer und
eine träge Breite im Badeanzug. Der Lange saugt sich am Gebiß des
Mädchens fest, das den Kopf nach hinten geworfen hat wie unter
einem Würgegriff; gleich wird der Nackenwirbel brechen. Der Zöllner
sieht weg, blickt auf den Boden, als ob er den genauen Verlauf der
Grenze bestimmen müßte. Auf der andern Seite ist nichts los. Nur
einmal winkt ihm ein Kollege von drüben zu, mustert ihn durchs
Glas, winkt noch einmal und schiebt ab. Heute kontrolliert ihn
niemand. Die Transistorgeräte sind längst drüben - wenn nicht,
werden sie nächste Woche rübergebracht.
Er geht weiter auf dem Pfad neben
der Grenze bis zum kleinen Waldsee. Er wirft eine Kippe in den
stinkenden See. Auf der andern Seite des Sees steht Pischmikat und
grinst. Sie gehen aufeinander zu. Sie geben sich die Hand.
Pischmikats Frau ist seit zwei Jahren in der Klapsmühle, weil sie
aus jedem unbewachten Kinderwagen Säuglinge klaute. Der hat es
schon gehabt, daß er nach dem Dienst vier unbekannte Säuglinge im
Schlafzimmer fand. Er besucht seine Frau und bringt ihr Obstkuchen
und Saft, weil sie immer Durst hat.
Hast du Reinhart gesehen, fragt
er. Reinhart ist vorbeigesaust hier, als ob sie wären hinter ihm
her. Nein, sagt der junge Zöllner, ich hab ihn nicht gesehn. Hat
nur gelacht und ist gerannt, und weg war er, sagt Pischmikat. Er
hat doch die Bucht heute, sagt der junge Zöllner, und Pischmikat
darauf: Mir hat er keine Auskunft gegeben, nur vorbeigerannt ist
er. Nahm er dich nicht mit? Er ist jung wie du, ist Anfänger wie
du: da möchte man vieles allein machen. Sie setzen sich ans Ufer
des kleinen, stinkenden Sees. Das Wasser ist dunkel und brühwarm,
Sie tauschen Zigaretten aus und sitzen und beobachten schweigend
die Grenze. Plötzlich sagt Pischmikat: Was will der Alex nur von
dir? Warum will er dich fertigmachen? Ich weiß es nicht, sagt der
junge Zöllner, vielleicht weil ich den Diebstahl der Pistole gleich
gemeldet hab, ohne mit ihm darüber zu reden. Er hat was gegen dich,
sagt Pischmikat. Ja, sagt der junge Zöllner, ja, ich weiß. Solltest
nach Feierabend ein Bier mit ihm trinken, sagt Pischmikat. Kann
sein, sagt der junge Zöllner, ich werd ihn mal einladen. Sie sitzen
eine Weile schweigend nebeneinander, dann stehen sie schweigend,
ohne Verabredung, auf, nicken sich zu und gehen in verschiedene
Richtungen davon.
Der junge Zöllner geht weiter an
der Grenze entlang bis zum verlassenen Gehöft. Hier endet sein
Bezirk. Das Gehöft ist fensterlos, in den Mauern geplatzt, die
nackten Räume werden als Toilette benutzt. Bei Regen kann man sich
hier unterstellen. Er umrundet das Gehöft, steht und lauscht in den
verwilderten Garten, alles ist still. Er sieht auf die Armbanduhr.
Ruhig beobachtet er ein rechteckiges Feld und den Rand einer
Schonung. Es wird dämmrig. Jenseits der Grenze kläfft ein Köter,
ein anderer antwortet ihm aus großer Entfernung. Der junge Zöllner
kehrt zu seinem Fahrrad zurück und schiebt es zu einem breiten,
sandigen Waldweg, der von der Grenze wegführt. Der Weg ist
zerfahren von den Rädern der HolzLastwagen. An den Seiten liegen
gefällt Stämme, bereit zum Abtransport. Das Geländer einer Brücke,
die über einen mageren Bach führt, ist eingedrückt. Kühl ist der
Sand und feucht auf dem Weg unter den Bäumen. An Fahren ist nicht
zu denken. Bis zur Kreuzung muß er das Fahrrad schieben, bis zur
alten gepflasterten Chaussee. Jetzt geht's bergab, an verdreckten
Fabrikhöfen vorbei. An allen Mauern hängen Fruchtsaft-Plakate. Die
Fjord-Zeitung macht Reklame für sich. Man kriegt schon genug von
dieser Gegend auf der kurzen Fahrt von der Kreuzung bis zur
Unterführung. Arbeiterinnen pfeifen hinter ihm her, sie tragen sehr
enge Röcke, man kann darunter die dreieckigen Slips erkennen, deren
Gummizug in den Oberschenkel schneidet.
Er fährt durch die Unterführung,
an der Endstation der Straßenbahn vorbei und, ohne den Freihafen zu
berühren, die Buchenallee hinauf. Im Zollgebäude oben auf dem Berg
brennen die ersten Lichter. Auch in einigen Dienstbaracken sind
Lichter aufgeflammt. Der junge Zöllner steigt ab, blickt hinab in
die Kiesgrube. Auf dem Grund stehen zwei Lastwagen. Sie stehen sich
mit laufenden Motoren und brennenden Scheinwerfern gegenüber, als
würden sie gleich aneinandergeraten. Vor einer Bude stehen ein paar
Kerle und rauchen. Aus dem Zollgebäude ist Radiomusik zu hören,
nein, nicht aus dem Zollgebäude, sondern aus dem Buchenwald.
Tagsüber haben die Sommergäste den Strand versaut, jetzt müssen sie
im Wald Krach machen. Gottseidank wird es bald Herbst.
Der Innendienst hat schon
Feierabend gemacht. Über den sandigen Platz latschen zwei Frauen
vom ReinemachKommando; sie machen einen Heidenlärm und fuchteln mit
den Armen. Vor dem Abschied fällt ihnen am meisten ein: eine halbe
Stunde brauchen sie, um endlich loszukommen voneinander. Am Rande
des Platzes flammen die großen Bogenlampen auf. Der Zöllner sitzt
auf. Er fährt das letzte Stück bis zur Baracke und lehnt sein
Fahrrad gegen die Wand. Er geht den trüben Korridor entlang, in
einem Raum wird telefoniert. Er öffnet die Tür zum Büro. Alex sitzt
gebeugt und leise schnaufend über einem Stapel blauer Mappen, die
er mit Skriptol beschriftet. Auf seiner Aktenmappe liegt fein
zusammengefaltet Butterbrotpapier - vermutlich ist er die ganze
Dienstzeit mit dem gleichen Bogen ausgekommen. Der junge Zöllner
angelt sich das Dienstbuch, grüßt Alex, läßt sich an einer Ecke des
Schreibtisches nieder. Alex sieht ihn gleichgültig an, schnappt
sich die blauen Mappen und steht auf. Ich geh mal zum Hauptgebäude
rüber, sagt er. Ist gut, sagt der junge Zöllner. Alex schlurft mit
seinen beschrifteten Mappen raus. Der Zöllner macht seine
Eintragung. Er schließt das Dienstbuch und legt es in eine
Schublade. Dann tritt er an das Schlüsselbrett, hebt den Schlüssel
zu seinem Spind ab. Er öffnet sein Spind. Langsam hebt er den
Riemen über seinen Kopf und nimmt das leere Etui in die Hand. Er
schiebt sein Etui tief in das Spind hinein und blickt sich schnell
um: draußen schlurft Alex unter dem Licht der Bogenlampen zum
Hauptgebäude hinauf. Das Schlüsselbrett ist nur zwei Schritte
entfernt. Jeder Haken hat seine Nummer. Er hebt den Schlüssel
Nummer 5 ab und öffnet Reinharts Spind. Vorn liegt ein Stapel von
blödsinnigen Merkblättern, daneben das Etui mit dem Fernglas. Auf
dem Gang draußen ist es still, im Nebenzimmer telefoniert Michelsen
immer noch. Der junge Zöllner öffnet Reinharts Etui, holt das Glas
heraus, sieht auf die Mittelschraube und erkennt, daß die mattgraue
Schutzfarbe zur Hälfte weggekratzt ist. Es ist sein Glas. Er wirft
das leere Etui in Reinharts Spind, schließt ab und hängt den
Schlüssel ans Brett. Dann steckt er sein Glas in sein Etui und
schiebt das Etui tief in den Spind hinein und schließt ab. Er zieht
die metallene Klammer von seiner Hose und drückt die Klammer in der
Hand zusammen. Auf einer Karte gegenüber der Tür verfolgt er noch
einmal die Wege, die er heute gemacht hat.
Michelsen von nebenan kommt
herein und puhlt sich am Ohrläppchen; er fragt: Ist Alex nicht
hier? Im Hauptgebäude, sagt der junge Zöllner und begleitet
Michelsen hinaus. Sie gehen schweigend den Gang entlang, draußen
geben sie sich die Hand. Sie trennen sich. Unten am Fjord sind die
Kneipen erleuchtet. Alle sind bevölkert von Sommergästen, die sich
zur Nacht vollsaufen. Die Kneipenwirte brauchen sich jedenfalls
nicht selbst anzupumpen. Die ganze Strandpromenade wimmelt von
vergnügten Sommergästen, die unter Johlen und Pfeifen zu einem
Lokal hinschieben, dort, wo im Freien getanzt wird. Der junge
Zöllner fährt nach Hause, führt das Rad in den zugigen Flur und
blockiert es am Eingang zum Keller. Er hat die Erlaubnis des
Hauswirts. Er klingelt ein einziges Mal bei Tabert, bevor er die
Tür selbst aufschließt und sie hinter sich zufallen läßt. Vor der
Garderobe zieht er seine Jacke aus und hängt sie über einen
Drahtbügel. Dann geht er ins Wohnzimmer. Am kleinen Tisch vor dem
Radio sitzen Reinhart und seine Frau; beide trinken Bier. Endlich,
sagt die Frau, wir warten schon eine halbe Stunde auf dich. Sie
steht auf, holt ein Glas und eine Flasche Bier und schenkt ihm ein.
Er setzt sich ohne ein Wort. Reinhart hat dir etwas zu erzählen,
sagt die Frau, etwas, was dich sehr interessiert. Der junge Zöllner
antwortet nicht. Auch Reinhart wurde etwas gestohlen, sagt die
Frau, aber er hat es wieder zurück. Ich mußte einfach zu dir
kommen, sagt Reinhart, ich hoffe, du hast nichts dagegen. Reinhart
hat einen Verdacht, sagt die Frau. Der junge Zöllner nimmt eine
halbe Zigarette vom Radio und steckt sie sich an. Er öffnet sein
Hemd über der Brust. Wir finden ihn, sagt Reinhart, wir kriegen ihn
bestimmt. Der kann sich auf was gefaßt machen. Reinhart hat das
Schloß an seinem Spind präpariert, sagt die Frau. Der junge Zöllner
steht auf, geht zum offenen Fenster und sieht auf die Kastanien
hinab. Die Farbe ist blau und rot, sagt die Frau, die bleibt drei
Tage an den Fingern, man kann sie nicht abwaschen. Wer es auch sein
wird, sagt Reinhart, ich frag erst gar nicht, ich erledige es
selbst. Wir werden alles rauskriegen, sagt die Frau. Der junge
Zöllner hebt seine Hand vorsichtig über dem Fensterbrett. Erstaunt
sieht er auf seine Fingerkuppen. Jetzt werden wir alles erfahren,
sagt die Frau, und der junge Zöllner, ohne sich umzudrehn:
Hoffentlich.
1966