Die Augenbinde
Der Korrektor unterbrach das Spiel. Er schob
die Karten zusammen, warf sie auf den Fenstertisch und wischte sich
langsam über die Augen, hob dann sein Gesicht und blickte durch das
Abteilfenster in die Dunkelheit draußen. Das war erst Wandsbek,
sagte einer der beiden anderen, worauf der Korrektor die Karten
wieder aufnahm, sie mit dem Daumen zum Fächer auseinanderdrückte
und schweigend ausspielte. Nach zwei Stichen, die er abgeben mußte,
schob er abermals die Karten zusammen, ließ sie leicht klatschend
gegen das Fenster fallen und sagte: Es steht in keinem Buch, ich
hab überall nachgeschlagen. Du bist am Ausspielen, sagte einer der
beiden anderen, ein alter Mann mit Stahlbrille. Es war einfach
nicht zu finden, sagte der Korrektor. Fang nicht wieder an, sagte
der Mann mit der Stahlbrille, ich hab's grad vergessen. Also
spielen wir oder spielen wir nicht, sagte der Rothaarige.
Sie spielten weiter. Sie spielten
schweigend wie an jedem Abend, wenn sie im letzten Vorortzug saßen,
der Hamburg verließ, jeder erfüllt von seiner Müdigkeit und dem
Wunsch, auf der Heimfahrt nicht sich selbst überlassen zu sein.
Zwanzig oder sogar dreißig Jahre hatten sie sich so nach Hause
gespielt, nicht gleichgültig, aber auch nicht erregt, drei Männer
aus der geduldigen Gemeinschaft der Pendler, die sich beinahe
zwangsläufig gefunden hatten und die sich nun in einer Art
instinktivem Einverständnis immer wieder fanden, immer im
vorletzten Abteil, das sie mit knappem Gruß betraten und auch
wieder verließen.
Sie spielten lautlos, keinem
schien daran gelegen, auch nur ein einziges Wort über Gewinn oder
Verlust zu verlieren, und dann war es wieder der Korrektor, der das
Spiel unterbrach. Man muß es doch herausbekommen, sagte er, man muß
doch wohl erfahren können, wie sich Tekhila schreibt. Ich gebe,
sagte der Rothaarige.
Warum mußt du das wissen, sagte
der Mann mit der Stahlbrille. Manches möchte man herausbekommen,
sagte der Korrektor. Wozu? Man sollte nicht alles lassen, wie es
ist. Heb ab, sagte der Rothaarige und verteilte. Morgen erscheint
die Sache, sagte der Korrektor. Tekhila wird viermal genannt in der
Geschichte, und jedesmal wird es anders geschrieben. Ich höre,
sagte der Rothaarige.
Ist das ein Dorf, fragte der Mann
mit der Stahlbrille und steckte seine Karten zusammen. Tekhila
heißt ein Dorf in einer Geschichte, sagte der Korrektor. Wer hat
mehr als zwanzig? fragte der Rothaarige.
Sie sahen in ihre Karten, keiner
konnte mehr als zwanzig entdecken, und dem Rothaarigen gehörte das
Spiel. Der Regen sprühte gegen das Abteilfenster. Der Zug fuhr
langsamer jetzt, bremste neben einem leeren, schlecht beleuchteten
Bahnsteig; sie hörten Türen zufallen und dann hastige Schritte auf
Steinfliesen. Als der Zug wieder anfuhr, war der Korrektor an der
Reihe, zu geben, und der Mann mit der Stahlbrille fragte: Warum
ausgerechnet Tekhila?
Ich weiß nicht, sagte der
Korrektor und hob das graue, unrasierte Gesicht. Kennst du Tekhila?
Nein.
Zieht's dich dorthin? Nein. Was
also?
Sie sind blind, sagte der
Korrektor, in Tekhila sind alle blind; sie werden blind geboren und
wachsen heran und heiraten und sterben blind. Es ist eine alte
arabische Augenkrankheit.
Spielt die Geschichte in Marokko,
fragte der Mann mit der Stahlbrille. Nein, sagte der Korrektor, ich
weiß nicht. Er ließ seine Karten achtlos auf dem Fenstertisch
liegen und wischte sich über die Augen, während die anderen ihr
Blatt betrachteten und es gleichzeitig zusammenschoben, resigniert,
abwinkend.
Der dicke Hund ist bei dir, sagte
der Rothaarige. Sie heißt »Die Augenbinde«, sagte der Korrektor.
Wer?
Die Geschichte, die Geschichte da
in Tekhila. Es ist eine alte lederne Augenbinde, die der
Bürgermeister aufbewahrt.
Für wen, fragte der Mann mit der
Stahlbrille und legte seine Karten ebenfalls auf den Fenstertisch.
Ich weiß nicht, sagte der Korrektor, vielleicht für jeden in
Tekhila. Es ist ein kleines Dorf auf einer Ebene, wenig Schatten,
ein Fluß mit lehmtrübem Wasser geht da vorbei, und die Leute, die
blinden Einwohner von Tekhila, arbeiten auf ihren
Feldern.
Beginnt so die Geschichte, fragte
der Mann mit der Stahlbrille.
Nein, sagte der Korrektor, die
Geschichte beginnt anders. Sie beginnt im Haus des Bürgermeisters.
Der Bürgermeister nimmt eine lederne Augenbinde vom Haken. Es ist
dunkles, fleckiges Leder und staubig, und der Bürgermeister wischt
die Binde an seiner Hose sauber. Er poliert sie mit seinen
Fingerspitzen, und dann verläßt er das Haus. Vor seinem Haus sitzt
ein Korbflechter bei der Arbeit. Der Bürgermeister halt ihm die
Augenbinde hin, läßt ihn das kühle Leder betasten; der Korbflechter
springt erschrocken auf und folgt dem Bürgermeister, sie gehen
gemeinsam über den Platz und die krustige Straße hinab zu den
Feldern, und überall, wo sie einem Mann begegnen, bleiben sie
stehen, der Bürgermeister hält ihm stumm die lederne Augenbinde
hin, läßt ihn erschrecken. Und jeder folgt ihm, sagte der
Rothaarige. Ja, jeder, der die Augenbinde betastet, erschrickt und
folgt dem Bürgermeister, sagte der Korrektor. Sie unterbrechen ihre
Arbeit oder ihr Nichtstun. Sie fragen nicht. Sie folgen ihm
einfach, und der Bürgermeister selbst sagt kein einziges Wort,
während er die Männer von Tekhila sammelt oder auf sich
verpflichtet, indem er ihnen die Augenbinde hinhält, und zuletzt
hat er alle Männer des Dorfes hinter sich.
Und so beginnt die Geschichte,
fragte der Mann mit der Stahlbrille. So ähnlich, sagte der
Korrektor, morgen steht sie in unserem Blatt. Morgen kannst du sie
nachlesen. Tekhila wird viermal genannt und jedesmal anders
geschrieben.
Und der Kerl mit der Augenbinde,
fragte der Rothaarige. Wer?
Der Bürgermeister und alle, die
er hinter sich hat - wo ziehen die hin ?
Zur Schule, sagte der Korrektor.
Es ist Mittag, ich glaube Mittag, und sie ziehen schweigend zur
Schule und umstellen das Gebäude. Sie fassen sich bei den Händen
und bilden einen Ring. Sie stehen lauschend da, sie erproben hier
und da die Festigkeit des Ringes. Ihre Bereitschaft, ihre stumme
Verständigung, die Schnelligkeit, mit der sie das Schulgebäude
umstellen - alles scheint darauf hinzudeuten, daß dies nicht zum
ersten Mal geschieht. Ruhig stehen sie in der Sonne, und dann löst
sich der Bürgermeister aus dem Ring und geht auf das Gebäude zu. Er
klopft. Der blinde Lehrer von Tekhila öffnet, und der Bürgermeister
läßt ihn die lederne Augenbinde betasten. Der Lehrer bittet ihn ins
Haus. Er weiß, daß das Haus umstellt ist. Er fragt: ›Wer?‹, und der
Bürgermeister sagt: ›Dein Sohn‹. Der Lehrer sagt: ›Das glaubt ihr
doch selbst nicht‹, und der Bürgermeister darauf: ›Wir haben
Beweise.‹ Sie reden leise auf dem Flur, einer versucht den anderen
zu überzeugen oder zu überlisten. Der Bürgermeister verlangt den
Sohn des Lehrers zu sprechen. Der Lehrer bietet unaufhörlich
Garantien für seinen Sohn an.
Was hat er angestellt, der Sohn,
fragte der Mann mit der Stahlbrille.
Mir kannst du dieses Nest
schenken, sagte der Rothaarige.
Während die beiden reden, sagte
der Korrektor, erscheint der Sohn plötzlich, nein, er ist schon da,
er steht oben und hört den Männern zu, und auf einmal sagt er zu
seinem Vater: ›Es stimmt. Du weißt es nicht, aber es ist geschehen.
Seit dem Unglück damals, als unser Boot kenterte und wir gegen die
Felsen trieben - seit diesem Tag kann ich sehen.‹
Steht das so in der Geschichte,
fragte der Mann mit der Stahlbrille.
Nein, sagte der Korrektor, aber
so ähnlich oder vielleicht doch so. Beide Männer befehlen dem Sohn,
herabzukommen; er weigert sich, er bleibt oben auf der Treppe
stehen, und da er zu wissen scheint, was ihn erwartet, sagt er zum
Bürgermeister: ›Ja, ich kann seit acht Wochen sehen, damit ihr das
nur wißt, und seit acht Wochen kenne ich Tekhila.‹ Er fordert sie
auf, zu ihm heraufzukommen. Er lädt sie höhnisch ein, ihn zu
fangen. Der Lehrer bespricht sich leise mit dem Bürgermeister, und
dann steigen beide zum Jungen hinauf, der mühelos vor ihnen flieht
und der, während er flieht, ihnen ein Angebot macht. Was für ein
Angebot, fragte der Rothaarige.
Morgen könnt ihr's nachlesen,
sagte der Korrektor. Der Junge will ihnen die Möglichkeiten von
Tekhila zeigen, er will ihnen helfen, noch mehr herauszuholen für
sich. Vor ihnen zurückweichend, erzählt er, was er in acht Wochen
entdeckt hat.
Und das interessiert sie nicht,
sagte der Rothaarige. Sie verstehen ihn nicht, sagte der Korrektor.
Das ist einzusehen, sagte der Rothaarige und ließ seine Karten
schnurrend über den Daumen laufen. Jedenfalls treiben sie den
Jungen nach oben, sagte der Korrektor, er flieht gemächlich vor
ihnen her, und sie folgen ihm schweigend und dicht nebeneinander;
sie treiben oder drücken ihn vor sich her, der Junge öffnet das
Bodenfenster - nein, das ist unwahrscheinlich: er öffnet ein
Fenster, klettert hinaus, hängt mit gestrecktem Körper da und läßt
sich dann fallen. Der Fall, der Aufschlag wird von den anderen
gehört, sie scheinen darauf gewartet zu haben. Sie nehmen sich sehr
fest bei den Händen. Sie rücken zusammen. Wie sie da stehen! Mit
lauschenden Gesichtern, gekrümmt, einen Fuß vorgestemmt, als müßten
sie einen Ansturm auffangen. So stehen sie da, während der Junge
sich mit schmerzendem Knöchel erhebt. Er entdeckt den Ring, der ihn
und das Haus umgibt. Er blickt den Kreis der lauschenden Gesichter
entlang, sucht sich zu erinnern: wie heißt der, wer ist dieser, wo
ist die schwächste Stelle. Dann duckt er sich, läuft an, sie hören
ihn kommen und verstärken unwillkürlich den Griff. Der Junge wirft
sich gegen den Ring. Der Ring gibt nach und fängt ihn auf und
umschließt ihn: er steckt drin wie ein Fisch in der Reuse. Sie
nehmen ihn in ihre Mitte, halten ihn fest, bis der Bürgermeister
dazukommt.
Mit der ledernen Augenbinde,
sagte der Mann mit der Stahlbrille.
Mit der Augenbinde, sagte der
Korrektor. Aber sie legen ihm die Augenbinde noch nicht an; sie
führen oder schleppen ihn durchs Dorf, durch Tekhila. Sie zögern
nicht. Sie wissen, was geschieht. Alles kommt dir vor wie eine
Wiederholung. Jedenfalls bringen sie ihn raus zu dem alten
Schöpfwerk draußen vor den Feldern.
Da beraten sie, sagte der
Rothaarige.
Nein, sagte der Korrektor, sie
beraten nicht. In der Geschichte beraten sie überhaupt nicht. Der
Bürgermeister ruft nur einen Mann auf. Es ist ein Mann, von dem du
sofort weißt, der hat einschlägige Erfahrungen. Dieser Mann hat
eine gedrehte Schnur in der Tasche. Er bindet den Jungen am Balken
des Schöpfrades fest; dann legt er ihm die lederne Augenbinde an,
und während er das tut, merkst du, daß sie das gleiche mit ihm
selbst gemacht haben, vor langer Zeit.
Steht der Junge allein am Balken,
fragte der Mann mit der Stahlbrille.
Ein Maultier, sagte der
Korrektor, am anderen Ende des Balkens ist ein Maultier
festgebunden. Die Männer von Tekhila warten, bis alles getan ist.
Das Maultier zieht an, der Junge geht mit, Runde für Runde. Wie
lange, fragte der Rothaarige, wie lange wird er die Augenbinde
tragen? Solange es nötig ist, sagte der Korrektor.
Vielleicht müssen sie es so
machen in Tekhila, sagte der Mann mit der Stahlbrille.
Ja, sagte der Korrektor,
vielleicht müssen sie es. Ich werd es
nachlesen,
Viermal wird Tekhila genannt, und
jedesmal schreibt es sich anders.
Das sieht dem Nest
ähnlich.
Ja, das sieht ihm ähnlich; ich
hab überall nachgeschlagen, ich konnte nichts finden.
Überhaupt nichts?, fragte der
Mann mit der Stahlbrille. Doch, sagte der Korrektor, ein paar
Namen, die sich so ähnlich anhören wie Tekhila.
Der Rothaarige steckte die Karten
ein, blickte durchs Abteilfenster und nahm seine Aktentasche aus
dem Gepäcknetz. Es lohnt sich wohl nicht mehr zu geben, sagte er.
Nein, sagte der Korrektor, es lohnt nicht mehr.
1966