Fallgesetze
Der Mann:
Vor Freude zog ich damals einen Wimpel am
Mast der »Ragna« auf, ein Stück von einem alten, rotweiß
gestreiften Kopfkissen, und das Ding stand steif und knatternd ab,
als wir zum ersten Mal unter dem braunen Hilfssegel zur Arbeit
ausliefen. Lange genug hatten sie uns ja warten lassen, lange genug
wußte niemand, ob all ihre Gutachten ausreichen würden, um uns den
neuen Fährhafen zuzusprechen, unserer baumlosen, flachen, wenn auch
nie gefährdeten Küste; aber dann entschieden sie sich doch für uns
und legten überdies einen Plan auf den Tisch, der unsere glückliche
Erregung nur noch steigerte: vierhundert Meter leicht gewinkelte
Mole und Kaimauern mit Gleisanschlüssen und drei Rampen für
Lastautos und Personenwagen, alles geduldig und energisch
hinausgebaut in die See, weit über den sandbraunen Streifen hinaus,
auch noch hinaus über die flaschengrüne Zone, bis dahin etwa, wo
der Grund auf zwölf Meter abfällt und die Strömungen sich
begegnen.
Steine, Steine: niemand konnte
und wollte auch nur überschlagen, wieviel Steine sie auf einmal
brauchten für ihren endgültig beschlossenen Plan, Steine für die
Fundamente, die Sockel, für die vierhundert Meter lange Mole. Es
war nicht an ihnen, zu zweifeln, ob die See überhaupt so viele
Steine herausrücken würde, um ihrem Vorhaben die nötige Sicherheit
und Schwere zu geben; sie schrieben nur ihren Bedarf aus und
setzten die Preise fest, und den Rest überließen sie uns, den
Steinfischern. Jedenfalls, ich hatte den Ladebaum nicht umsonst
verstärken und das Hebegeschirr ausbessern lassen; außerdem hatte
ich »Ragnas« Luken erweitert und ihr selbst, die mit ihren siebzig
Jahren nicht weniger verläßlich war als jedes andere beteiligte
Schiff, einen sorgfältigen Teeranstrich verpaßt, zusammen mit dem
Jungen, der - so schien es mir gerade zur rechten Zeit nach Hause
gekommen war. Sven kam immer dann nach Hause, wenn er wieder einmal
seine Untauglichkeit für einen gerade begonnenen Beruf entdeckt
hatte, aber diesmal glaubte ich ihn nicht nur halten, sondern auch
davon überzeugen zu können, daß man mit Ausdauer und Glück leben
kann von dem, was man vom Grund der See heraufholt; jetzt, mit
diesem Riesenprojekt am Horizont, bot sich ihm doch eine
Gelegenheit zu erkennen, was die Steinfischerei immer noch wert
war.
Der Junge:
Sein erstes Angebot lautete gleich auf
halbe-halbe, obwohl ich mit weniger zufrieden gewesen wäre;
schließlich brachte er außer der »Ragna« auch alle nötigen
Kenntnisse und Erfahrungen ein, und er wußte besser als jeder
andere, wo die tonnenschweren Brocken lagen, ohne Peilung, einfach
so, als ob er sich in einem Garten und nicht auf See bewegte: Hier,
hier schmeiß mal den Anker weg. Daß er mir soviel anbot, lag gewiß
nicht allein an seiner pedantischen Gerechtigkeit oder gar daran,
daß er auch einen rechtmäßigen Vorteil nie ausnutzen konnte, ohne
ein schlechtes Gewissen vor sich herzutragen; vielmehr hatte ich
das Gefühl, daß er mich mit dem unerwartet hohen Angebot ködern
wollte, zu bleiben und in seine Schuhe hineinzuwachsen. Vielleicht
aber wollte er, daß ich blieb, weil ja nun Elisa da war, sie mit
ihrer Gürtelsammlung und dem ewigen Druck auf den Schläfen, diese
Frau, die auf seine Annonce hin angereist kam mit ihrem gesamten
Besitz, der aus zwei Koffern und mehreren Schachteln bestand. So
unvermutet sie seine Witwerschaft beendete, so wenig änderte sie
seine Gewohnheiten und Eigenarten, vielleicht unterließ sie auch
jeden Versuch dazu, nachdem sie gemerkt hatte, wem sie da auf eine
durchaus nicht vielversprechende Annonce ins Haus geschneit war -
in unser gekalktes Haus mit den viel zu kleinen und zu zahlreichen
Kammern. Man muß erlebt haben, wie mein Alter ihre behutsame
Herablassung ertrug und den Spott und diese seufzende
Geringschätzung, mit der sie fast alles bei uns bedachte: den zu
alten Herd, die beiden launischen Kachelöfen, die zu steile Stiege,
die Betten, die Möbel, das Geschirr, die Eßbestecke, besonders die
Eßbestecke, die sie noch jedesmal erschrocken musterte, bevor sie
sie benutzte. Als sie erfuhr, daß unserer Küste ein Hafen für die
großen Eisenbahnfähren zugesprochen wurde, bat sie mich,
nachzufragen, ob nicht auch ein Restaurant und ein Hotel geplant
seien; sie ließ nicht durchblicken, warum sie das wissen wollte;
vielleicht interessierte sie sich nur deshalb dafür, weil sie
selbst einmal verantwortlich in dieser Branche gearbeitet hatte und
nicht aufhören konnte, uns von dieser Zeit zu erzählen - in einer
Art, daß wir schließlich glauben mußten, dies sei ihre große Zeit
gewesen. Er zumindest, mein Alter, erwog ausdauernd das Erzählte
und legte es so aus, daß Elisas Aufenthalt auf unserer Halbinsel
einen Abstieg für sie bedeutete und ihre Anwesenheit in unserem
Haus ein Opfer. Sie schliefen in getrennten Kammern, und sein
wichtigster Anspruch an sie bestand darin, immer und überall heißen
Kaffee bereitzuhalten für ihn, den unersättlichen Kaffeetrinker.
Als im Mai die endgültige Entscheidung fiel und wir die »Ragna«
teerten und für den großen Einsatz ausrüsteten, ließ er sie dreimal
am Tag mit Kaffee zum Liegeplatz kommen und sah ihr schon immer
ungeduldig entgegen, wie sie wiegend die flach gebuckelte Düne
herabkam, jedesmal mit einem anderen Gürtel um und in Schuhen, die
niemand außer ihr auf der Halbinsel trug oder hätte tragen wollen:
hochhackige Schuhe in künstlichen Farben. Da sie die Sonne nicht
ertragen konnte, tranken wir den Kaffee im Schatten der Bordwand
und ließen es uns gefallen, wenn sie brennende Teerspritzer von
unseren nackten Schultern rieb; widerwillig übrigens und mit
gehörigem Abstand.
Die Frau:
Das alles blieb in seiner Annonce unerwähnt:
die Abgelegenheit hier; der ständige Wind, der auf die Schläfen
drückt; der Flugsand, der auch bei geschlossenen Fenstern ins Haus
dringt; das Fehlen eines Badezimmers; und nicht zuletzt er selbst,
Johannes Willesen: seine Pedanterie, seine herrische
Schweigsamkeit, die verdammte Genügsamkeit, die er schon fand, wenn
er steif auf dem unbequemen Stuhl am Fenster hockte. Da er es sich
nicht aus der Hand nehmen ließ, das Haus zu führen - nicht einmal
nach unserer sogenannten Hochzeit war er bereit, mir mehr von den
monotonen Pflichten hier zu überlassen -, hatte ich manchmal das
Gefühl, daß er mich nur deshalb auf die Halbinsel geholt hatte,
weil meine Gegenwart sein Haus komplettieren sollte wie ein
unentbehrliches Möbel. Ein Gefühl zu zeigen, erschien ihm offenbar
als Zeitvergeudung, und ich hätte ihn mitunter schütteln können vor
Verlangen, ein Wort der Zustimmung zu erfahren oder auch nur eine
Geste der Unzufriedenheit. Mein Verhältnis zu ihm war nur ein
bißchen vertrauensvoller als das zum großen Eßtisch. Mein Gott, und
seine Geschenke: zwar schleppte er immer etwas an, wenn er für
einen Tag in die Kreisstadt mußte, aber die Dinge, die er mir stumm
überreichte, konnte ich allesamt nur in eine Schachtel legen:
mehrere wollene Kopftücher, einen überlangen Schal, der jeden
Mantel entwertet, eine klotzige Bernsteinkette, die sofort
Nackenschmerzen hervorrief, oder - obwohl ich ihm meine Sammlung
von Gürteln gezeigt hatte - diesen bestickten Leibgurt aus Leinen,
der allenfalls zum Trachtenkostüm einer Siebzigjährigen gepaßt
hätte. Daß er eines Gefühls fähig war, bewies er dann aber doch,
als die Entscheidung über den Fährhafen fiel: er, der keinen Wert
auf Besuch legte, lud sich zwei Männer ins Haus, die mich lediglich
mit gehemmter Freundlichkeit begrüßten und dann in seiner Kammer
verschwanden, wo sich bald ein Lärm erhob wie in einem
vollbesetzten Lokal. Ich durfte ihnen von Zeit zu Zeit heißes
Wasser bringen für ihren Grog - Pausen, in denen der Lärm sich wie
auf Stichwort legte und in denen sie selbst mich belustigt und
zudringlich anstarrten; da fühlte man sich von ihren Augen
ausgezogen. Sven nahm nicht daran teil; er war wie immer bei seiner
Lieblingsbeschäftigung: auf dem Bett liegen, nur im Turnhemd und in
seinen karierten Hosen, und rauchen. Manchmal sagten sie mir, daß
ich zuviel rauchte, aber nachdem der Junge nach Hause gekommen war
- zur Zeit, doch ohne daß man ihn gerufen hätte -, brachte er uns
bei, daß man bei einem wirklich leidenschaftlichen Raucher kaum mit
dem Lüften nachkommt. Obwohl wir anfangs kaum miteinander sprachen,
empfand ich seine Anwesenheit als Erleichterung. Ich weiß noch, wie
er hinter der zerzausten Hecke auftauchte, im schwarzen Hemd mit
den hellen, karierten Hosen; er hatte einen dünnen, vernickelten
Eisenstab bei sich, den er propellerhaft über die Finger laufen
ließ. Wir lachten, bevor wir ein erstes Wort sprachen, und dann
sagte ich: Sven, nicht wahr? - und er darauf, nach einer Weile:
Dann steh ich wohl vor Elisa? Du kannst von heute ab ruhig Du zu
mir sagen, sagte ich, und er wieder: Genau das hatte ich auch vor.
Erst danach gaben wir uns zum ersten Mal die Hand.
Der Mann:
Schon im Ruderhaus, wenn er den Kurs hielt,
den ich ihm angab, trug der Junge Handschuhe, lederbesetzte
Arbeitshandschuhe, die er sich von seinem Vorschuß gekauft hatte,
und die behielt er an, solange er an der Winsch stand und die
triefenden, algenbesetzten Brocken übers Luk dirigierte. Kaum aber
hatten wir am Abend an unserem weit hinausgezogenen Steg
festgemacht, da streifte er sie ungeduldig ab, klemmte sie hinters
Steuerrad, und mit dieser Geste schien er nicht nur die Arbeit
hinter sich zu lassen, sondern auch auszudrücken, welch ein
Verhältnis er zu ihr hatte. Dabei konnte ich mich auf ihn
verlassen: wie er den alten Stockanker wegwarf; wie er mir die
Sicherheitsleine umband, bevor ich runterging und auf dem nackten
Grund die Klaue über die Steine brachte; wie umsichtig er die
eingesackten Steine aus ihrem Bett brach und langsam und
gleichmäßig aufhievte; wie berechnet er sie einschwenken ließ und
dann mit Zug und Stoß über das Luk fierte, wo er sie nicht einfach
ausklinkte, sondern nach bedachtsamer Ökonomie türmte und stapelte
- all das machte den Jungen zu einem Partner, dessen Wahl ich,
soweit es um seine Arbeit ging, nicht zu bereuen brauchte. In der
ersten Zeit verhielt er sich auch gegenüber dieser Frau so, daß ich
annehmen mußte, er teile zumindest meine Enttäuschung und meine
Bekümmerung, und zwar vor allem dann, wenn sie sich mit ihrer
Herablassung äußerte über die Dinge in diesem Haus. Als sie wieder
einmal verstört auf das - zugegeben, etwas schwere - Besteck hinabsah und sich nicht entschließen
konnte zu essen, sagte Sven ruhig: Heute hast du Mutters altes
Schlachtmesser erwischt; und als sie sich wieder einmal - mit den
Fingerspitzen die Schläfen beklopfend - darüber beschwerte, daß die
engen, lichtarmen Kammern geradezu schmerzhaft auf ihr lasteten,
hob Sven wortlos einige Türen aus, stieß die Fenster auf und hakte
sie fest gegen den Widerstand des Windes. An einem Wochenende kam
der Junge dazu, wie sie die ovalen Kirschholzrahmen von der Wand
hob und versuchte, ziemlich verblaßte Familienfotografien gegen
Stiche auszutauschen, die sie aus einem Kalender löste und
zurechtschnitt - Szenen von Fuchsjagden in England. Sven hob die
Fotografien auf, brachte sie in die Rahmen zurück und sagte nur:
Die bleiben, ist das klar? Dann verschwand er ohne Gruß, doch am
Montag früh war er noch vor mir am Anlegesteg.
Der Junge:
Nur er, nur mein Alter allein wußte, wo sie
vor drei- oder sogar
vierhundert Jahren ein künstliches Riff
angelegt hatten, um fremde Schiffe stranden zu lassen. Vertraut mit
den Strömungen hinter der Halbinsel, hatten sie in geduldiger
Hoffnung auf Beute ihre Falle errichtet, hatten mit ihrem Überfluß
an Zeit jahrelang Steine auf dem Grund der See geschichtet, bis
knapp an die Oberflache, aber immer noch so, daß die Farbe des
Wassers sich nicht allzu verräterisch veränderte. Dort also, wo sie
einst Schiffe stranden ließen, lag alles, was wir suchten, eine
unterseeische Bank von Steinen, die wir nur abzutragen und
hinüberzusegeln brauchten zu den schwimmenden Werkstätten, wo
Rammen und Bagger und Pontons friedlich vertäut lagen und zunächst
nur für den Plan zeugten, den man für diesen Teil der Küste
entworfen hatte. Niemand wunderte sich über die Zügigkeit, mit der
wir Fracht um Fracht heranschleppten, man schrieb sie uns
gleichgültig gut und beachtete uns nicht weiter, selbst wenn wir
dreimal am Tag dort aufkreuzten. Er war fast immer unten, mit dem
gebrauchten Tauchgerät, zog die Klaue über die großen Brocken, gab
das Signal, und während ich den Stein anhievte, bemaß er schon den
nächsten. Mich ließ er nur zweimal runter, und zwar weniger, um ihn
abzulösen, sondern weil er mir eine Gelegenheit geben wollte, das
Abmessen und Einpicken zu probieren, wie man den Greifer festsetzt,
so daß der Stein ohne Risiko gelüftet wird und sich in der Klaue
nicht bewegt, oder, was noch schlimmer wäre, zu drehen anfängt und
zurückstürzt. Schön waren die Tage im Juni, wenn die See glatt war
und nur unmerklich dünte und wir abends nach Hause liefen unter den
hallenden Schlägen des alten Motors, der uns nie im Stich ließ.
Manchmal stand Elisa auf dem Anlegesteg, um uns abzuholen; sie
winkte angestrengt und ausdauernd, und einmal sagte mein Alter:
Nicht mal das will ihr gelingen: das Winken! Wenn sie sich dann bei
ihm einhakte und beide vor mir hergingen - er übertrieben aufrecht,
sie mit wiegendem Schritt, der aus der Hüfte fiel - da mußte man
sie einfach für zwei Boote halten, die sich bei ungleichem Seegang
fortbewegten. Wer von unseren Leuten sie so zusammen gehen sah,
blieb, sobald er sie passiert hatte, stehen, blickte ihnen nach und
wußte nicht, ob er sich über meinen Alten wundern oder über Elisa
den Kopf schütteln sollte. Dabei konnte man sich durchaus an sie
gewöhnen, selbst an ihre Gürtel und an das Gestöhne über den Druck
auf ihren Schlafen; mir zumindest ging es so, während mein Alter
gar nicht oder nur sehr selten und obendrein verschlüsselt zu
verstehen gab, daß er sich mit ihr abgefunden hatte. Wie der sich
erregen konnte, wenn einer von unseren Leuten mal eine Anspielung
machte oder wenn er im Hafenbüro ein nicht einmal ironisches
Kompliment zu hören bekam! Woran ich mich nicht gewöhnen konnte,
das waren ihre unaufhörlichen Schritte auf unserem Steinfußboden,
dies Tacken, Klicken und Hämmern, dem man einfach nachlauschen
mußte, wenn man für sich auf dem Bett lag und rauchte. Und noch
weniger konnte ich mich daran gewöhnen, daß sie uns bei jeder
Gelegenheit zu verstehen gab, wie mies und gering und kleinkariert
alles bei uns war. Als ich einmal ohne anzuklopfen in ihr Zimmer
trat, in dem sie sich gerade umzog, produzierte sie einen
Überraschungsschrei, der auf weißwas hätte schließen lassen können,
und für weiter nichts als dies nannte sie mich einen »blinden,
ungehobelten Bock«. Es gelang mir, sie mit einem Päckchen
Zigaretten zu versöhnen.
Die Frau:
Er sah selbst ein, daß dieser Weg für mich
zuviel war: der heiße Trampelpfad zwischen den Dünen; an der
dörrenden, vom Mehltau heimgesuchten Weißdornhecke entlang; die
gewundene, schattenlose Straße hinab bis zum Hafenbaubüro. So
erließ er es mir, ihn zu begleiten, doch es war nicht allein
Besorgnis, die ihn darauf bestehen ließ, daß ich mich hinlegte; er
gab gleichzeitig eine Spielart seiner Korrektheit preis: wenn ich
schon nicht imstande war, ihn zu begleiten, durfte es keine
Zwischenlösung geben, ich wurde verurteilt, mich hinzulegen. Und
hinlegen hieß bei ihm ins Bett, unter dies lastende, angstmachende
Zudeck, unter dem sich der Puls wie von selbst beschleunigt. Da ich
nicht mitkonnte, blieb mir nur dies übrig, und ich lag und hörte
die Hitze in den Balkendecken knacken und schlief wohl auch ein
wenig, da der Schatten des Fensterkreuzes auf einmal über der
Waschkommode lag. Wie ruhig Sven sich im Haus verhielt, nie hörte
man ein Geräusch von ihm; wenn man wissen wollte, ob er da sei,
mußte man ihn schon rufen. Er war bereitwillig, alles zu tun, worum
man ihn bat, aber er wollte jedesmal gebeten werden, er kam einfach
nicht von selbst darauf, auch mir ein Glas Saft zu bringen, wenn er
sich selbst eins holte. Nachdem ich geschlafen hatte - die Spannung
über den Schläfen war erträglicher - bat ich ihn, mir ein Glas Saft
zu bringen, und er tat es und stellte das Glas Saft auf den Schemel
an meinem Kopfende. Er war schon unterwegs zur Tür, da sagte ich
wohl etwas über das Zudeck, nicht über den verwaschenen Bezug
sondern, was ja zutraf, über das erdrückende Gewicht, das einem den
Atem benahm, und vermutlich wunderte ich mich darüber, wie man in
diesem Haus klaglos eine solche Zudecke hatte ertragen können. Da
blieb er stehn und drehte sich um. Da spannte und verengte sich
etwas bei ihm, und ich sah, wie auf seinem Gesicht ein Ausdruck
äußerster Gereiztheit entstand. Wenn's dir nicht gut genug ist,
sagte er, dann laß doch Küken schlachten, die Küken von
Eidergänsen, und rupf sie, und stopf dir selbst ein Bett. Und wenn
du das getan hast, dann laß doch endlich gleich dein
herrschaftliches Geschirr nachkommen, und die Bestecke und die
Schränke und dein ochsenblutfarbenes Badezimmer, und wenn du dann
deine gewohnten Sachen hier versammelt hast wirst du hoffentlich
aufhören zu meckern. Ich war so überrascht über seinen Ausbruch,
daß ich ihn nur ganz allgemein davor warnte, in diesem Ton mit mir
zu sprechen. Und da kam er zurück, lächelte gemein und so auf
undurchdringliche Weise versöhnlich und sagte: Nun hör mir mal zu,
Elisa, und dann breitete er ein Wissen über mich aus, das er nicht
nur heimlich gesammelt, sondern auch lange genug mit sich
herumgetragen hatte. Ich kenne das Lokal, in dem du aufgetreten
bist, sagte er - »Zum Doppelpunkt«, hieß es nicht so? -, und ich
kenne einige deiner Freunde und all die Sachen, für die du gut
warst, und wenn ich mir das alles genau ansehe, muß ich mich doch
wohl fragen, welch einen Grund du hast, hier so erhaben zu tun und
die Königin zu spielen. Dann setzte er sich auf die Bettkante und
lächelte spöttisch und sah mich nur an. Dann, auf einmal, fragte
er, wo das altmodische Zudeck zu schwer sei, über den Beinen, über
dem Bauch oder über der Brust. Dann nahm er meine Hand und stand
auf, und ich glaubte, er wollte zur Tür gehen, aber plötzlich
beugte er sich über mich, und ich warf den Kopf zur Seite - das
half nicht - und stemmte mich abwehrend gegen ihn - das änderte
nichts; und zuletzt suchte ich seinen Blick und erkannte in ihm
nichts als eine grenzenlose Entschiedenheit.
Der Mann:
Und auch das kam mir wie ein zusätzliches
Zeichen seines gestiegenen Eifers vor: daß er auf einmal, wie ich,
ohne Handschuhe arbeitete. Nicht nur, daß er die »Ragna«
gewissenhafter als sonst aufklarte, daß er - was unsere Abmachung
keineswegs vorsah - noch nach Feierabend das Hebegeschirr
reparierte: sein ganzes Verhältnis zur Arbeit steigerte sich, wurde
näher, bestimmter und wohl auch begeisterter. Und er redete nun
auch über die Arbeit, überschlug etwa, was die unterseeische
Steinbank noch hergab, und machte Entwürfe für den übernächsten
Winter, in dem die neue Mole, von den Stürmen bearbeitet, sacken
und sich setzen sollte mit ihrer vierzehn Meter breiten Sohle, die
sich nach oben bis auf drei Meter verjüngte. Doch je gesprächiger
er mir gegenüber wurde, desto beharrlicher schwieg er in Gegenwart
dieser Frau, ich beobachtete oft genug, wie er, wenn wir beim Essen
saßen, ihrem Blick auswich und seine Befangenheit loszuwerden
versuchte durch vorgespieltes Behagen an der Mahlzeit. Dennoch war
er immer bereit und als Träger zur Verfügung, wenn sie zu den
Kaufleuten mußte, die ihre Wagen nicht bis zu uns herausschickten.
Wenn ich am Fenster saß und las - in jenen Wochen hatte ich mir
vorgenommen, alle hundertachtzig Bücher wiederzulesen, die mein
Vater sich zusammengeholt und hinterlassen hatte -, sah ich sie oft
davongehen und beladen zurückkehren; meist nahmen sie den
Strandweg, der doch einen Umweg bedeutete. Sie schien nun die Sonne
leichter ertragen zu können, und, wie sie sagte, ließ auch der
Druck auf ihren Schläfen etwas nach. Was mich bedrückte, machte ihr
keine Sorgen: daß sie schmaler wurde und unstet und auf eine
unerwartete Weise bescheiden.
Der Junge:
Es zeigte sich, daß sie eine sehr gute
Schwimmerin war. An der kleinen Bucht, weit genug vom Haus
entfernt, immer nur auf dem Rück-, nie auf dem Hinweg, zogen wir
uns aus und stiegen über die runden, glatten Steine bis zu dem
Sandstreifen hinaus, dort schwammen wir, sie mit hochgebundenem
Haar, ohne Angst vor Quallen. Später, nachdem ihre Haut sich an die
Sonne gewöhnt hatte, ließen wir uns vom Wind trocknen, bevor wir
die Tüten und gefüllten Netze und Kartons aufnahmen und nach Hause
gingen. Manchmal unterbrachen wir unseren Weg unter den
verkrüpptelten Strandkiefern oder in dem Autowrack oder, was aber
seltener geschah, am zerrissenen Rand einer Kiesgrube; immer war
sie es, die das Zeichen gab. Wenn wir dann heimkamen, strengte er
sich jedesmal an, den Eindruck zu vermeiden, als habe er auf uns
gewartet. Niemals legte er es darauf an, uns nach unserer Rückkehr
mit Blicken abzufragen oder sich nach etwas zu erkundigen, selbst
wenn wir für den Weg die doppelte Zeit brauchten, die er selbst
gebraucht hätte. Auch nachdem er uns an der kleinen Bucht zufällig
beim Baden überrascht hatte - und so wie ich ihn kenne, war es ein
Zufall - fiel kein weiteres Wort; er kam von den Werkstätten
zurück, wo er einen Gummischlauch für »Ragnas« Kühlwasser
geschnorrt hatte, und als er unser abgelegtes Zeug entdeckte und
die im Schatten lagernden Waren, lud er sich stillschweigend auf,
soviel er tragen konnte; er ging uns voraus und saß bei den
Büchern, als wir ankamen. Daß er dennoch etwas spürte und auf seine
Art versuchte, Klarheit zu gewinnen, bewies er mir an dem Tag, als
der alte Rasmussen, der allein und auf eigene Rechnung nach Steinen
fischte, mit seinem Seelenverkäufer »Wilhelmina« zum fünften Mal in
Seenot geriet - wonach er wiederum Grund hatte, eines seiner
sonderbaren Jubiläen zu feiern. (Er selbst hatte mir erzählt, daß
er alle Jahrestage seiner sechs Verwundungen feierte.) Obwohl der
Wind nur in Stärke vier die See bearbeitete, setzte Rasmussen das
Notsignal; seine Steinladung war verrutscht, und er hatte bei
offener Luke an die zehn Tonnen Wasser übernommen. Der Motor der
»Wilhelmina« war stehengeblieben, die Lenzpumpe ausgefallen. Wir
gaben ihm eine Schlepptrosse rüber und zwangen ihn, den Anker zu
slippen - weswegen er später nur maulte und sich bei meinem Alten
nicht einmal mit einem Handschlag bedankte. Obwohl seine hölzerne
»Wilhelmina« vollgeschlagen und ich davon überzeugt war, daß sie
uns wegsacken würde, manövrierte mein Alter so geschickt vor dem
Wind, daß wir Peelmünde erreichten, wo die Fischer uns beim
Festmachen mit mehr Anerkennung als Spott bedachten. Nachdem wir
festgemacht hatten, rief er mich zu sich und beauftragte mich, mit
einer Taxe nach Hause zu fahren, nur um Elisa zu sagen, was
geschehen war und wohin es die »Ragna« verschlagen hatte. Er wollte
die Nacht allein an Bord schlafen und am nächsten Tag zurückkehren.
Ich meine, in ungetrübten Zeiten hätte er es sich nicht nehmen
lassen, diese Nachricht selbst zu überbringen.
Die Frau:
Allmählich begriff ich, daß seine Annonce für
mich zur Falle wurde: beide begrenzten sie. An einem Ende stand er,
Johannes Willesen, stand da mit seiner eigensinnigen Korrektheit,
mit seiner Pedanterie und der unablässigen Bereitschaft, für alles
Verantwortung zu tragen, was er sein eigen nannte, also auch für
mich, für die er sich zuständig fühlte von dem Augenblick an, in
dem ich die Halbinsel betrat; und am andern Ende stand Sven:
unsicher, leidend unter dem Austausch hastiger Umarmungen und mit
Furcht erkaufter Berührungen, auch unter seiner Unentschlossenheit
leidend, da er - und ich selbst konnte ihm ja nicht raten - einfach
nicht wußte, was er tun sollte, um die Zeit der Verstellung zu
beenden. Einmal allerdings zeigte ich ihm einen Ausweg, das heißt,
ich deutete ihm an, was getan werden könnte, ausgerechnet an meinem
Geburtstag. Dieser Geburtstag! Sie hatten nur eine Fahrt gemacht
mit der »Ragna« und kamen hintereinander vom Anlegesteg herauf und
wuschen sich und zogen sich um; dann brachte mir jeder sein
Geschenk: er ein Tischfeuerzeug, das mit Bernstein besetzt war -
mehrmals wies er auf die eingeschlossenen Insekten hin -, und der
Junge ein Paar Ohrklips, die mir zwar gefielen, die ich aber
dennoch nicht anlegen würde. Wir tranken Kaffee, und ich bemühte
mich, beiden Geschenken die gleiche Aufmerksamkeit zu widmen und
über die quälende Kaffeestunde zu kommen, als der Besuch erschien,
als wahrhaftig Frank Pomella auftauchte hier in der Einsamkeit. Bis
heute weiß ich nicht, wie er meine Spur aufgenommen und verfolgt
hatte, jedenfalls, es war seine verlegene Stimme, ich hörte ihn
nach mir fragen und hörte Johannes, der ihn trocken bat, einen
Grund für diesen Besuch zu nennen, und dann bat er ihn ins Haus und
beide verschwanden in einer Kammer. Sven nahm meine Hand, er
versuchte, mich an sich zu ziehen, kurz und heftig wie immer, wenn
wir einen Augenblick allein waren; er verstand sofort, wie sehr
dieser Besuch mich betraf. Er spürte, daß etwas geschehen war, was
alles in diesem Haus verändern könnte, und während er mich
erschrocken und fragend anstarrte, hatte ich das Gefühl, vor einem
kleinen Gewässer zu stehen, das abgelassen wurde: ein dunkler Grund
kam zum Vorschein, schlammige Buckel und Kraut und die verrotteten
Reste eines gesunkenen Boots vielleicht. Ich gehe mal nachsehn,
sagte Sven, ich geh einfach hinüber, und frag den Alten, ob ich ihm
seinen Kaffee bringen soll, dann wissen wir, worüber die reden.
Nein, Sven, sagte ich, du brauchst nicht hinüberzugehn; wenn Frank
Pomella irgendwo auftaucht, dann wird über eine einzige Sache
gesprochen: über Geld. Nur frag mich nichts, frag mich jetzt bitte
nichts. Wie sollte ich ihm antworten auf seine hastigen, besorgten
Erkundigungen; ich saß nur da, lauschte weniger zur Kammer hinüber,
in der sie saßen und verhandelten, als vielmehr auf meine eigene
Unruhe, und blickte auf die Tür.
Endlich hörten wir den Abschied
auf dem Flur, und dann kam Johannes zu uns, sein erster Blick galt
dem Kaffee, vermutlich hätte er kein näheres Wort über den Besuch
verloren, wenn ich ihn nicht gefragt hätte: Einig? Seid ihr euch
einig geworden? Er winkte ab, er sagte: dieser Mann hat mir einen
Schuldschein vorgelegt mit deiner Unterschrift; ich bin dafür
aufgekommen. Das sagte er gleichmütig, mit einer - wenn auch nur
angedeuteten - wegwerfenden Handbewegung, so als ob er sich von
allem, was er erfahren hatte, bereits wieder getrennt hätte. Am
Abend ging er Sprudel holen und doppelten Weizenkorn, und ich
bestand darauf, ihn auf der Bank vor dem Haus zu erwarten. Da sagte
ich zu Sven, daß man alles gut wählen müsse; ich sagte: Auch der
Augenblick, in dem man seine Zelte irgendwo abbricht, muß gut
gewählt sein. Er nahm die Andeutung nicht auf.
Der Mann:
Konnte ich denn etwas anderes annehmen als
seinen Vorsatz? Mußte ich nicht glauben, daß auch dieses Äußerste
zu seinem Plan gehörte, einfach, weil er genug gespürt und
mitbekommen hatte, und doch wohl nicht im Zweifel darüber sein
konnte, daß ich mehr wußte, als ich bereit war zuzugeben?
Schließlich gehörte nicht viel dazu: ein kleiner Druck, um die
Sperre zu lösen, und ein kleiner Zug, der die Klauen des Greifers
Öffnete. Nein, ich hatte nicht angefangen, mit dieser Möglichkeit
zu rechnen, das muß ich zugeben, auch an dem Tag nicht - bläulicher
Dunst trieb über dem Wasser -, als es geschah. Er half mir, wie
jedesmal, beim Anlegen der Taucherausrüstung, und ich ging, wie
jedesmal, runter zu der unterseeischen Steinbank und bückte hinauf
und sah, wie die Klaue den welligen Spiegel der Oberfläche zerbrach
bei ihrem schäumenden Eintauchen. Sie sank mir nach, ich packte
sie, schlug sie, wagerecht schwebend, über einen Stein, an dessen
Algenbärten die Strömung zerrte, gab das Zeichen mit der Leine, der
Stein ruckte, lüftete sich, schwebte an meinem Gesicht vorbei nach
oben: ein grummelnder Laut, ein kurzer Gewitterlaut, und er lag im
Bauch der »Ragna«. Stein um Stein pickte ich ein, schickte ihn auf
kleine Himmelfahrt, nicht systematisch, da uns der Reichtum der
unterseeischen Bank kein systematisches Abräumen auferlegte. Wir
räumten und räumten, bald müßte der Junge das Zeichen gehen, da
entdeckte ich das glimmende Ungetüm, einen Brocken von mehreren
Tonnen Gewicht, scharfkantig, bearbeitet offenbar zu dem Zweck, den
Kiel eines hölzernen Schiffes aufzuschlitzen. Kaum konnte ich die
Klauen des Greifers über ihn bringen, sie faßten nicht genug, sie
beklemmten nur den Stein, doch das genügte offenbar, er ruckte und
richtete sich auf und schwebte langsam empor, während die Winsch
oben trocken fauchte und hechelte. Ich sah ihm nach, wie er durch
die Oberfläche brach, stellte mir das Erstaunen des Jungen vor;
dann kochte das Wasser über mir, schäumte von all dem, was von dem
Brocken zurücktroff, und blasige Ringe entstanden. Jetzt wird er
einschwenken, dachte ich, da wurde es dunkel über mir, das Wasser
schwappte gewaltsam auf, und ich spürte nichts als einen heftigen
kalten Druck, und dann riß es mich zurück, so schmerzhaft und über
den Kopf, daß ich die Bewegung nicht ausgleichen konnte. Mich hatte
der vorauslaufende Druck des Steins wie selbstverständlich
weggeschleudert, aber die leichte Signalleine, die ich um die Hüfte
trug, hatte er mit seinen scharfen Kanten mitgenommen und dort
festgeklemmt, wo er aufgeschlagen war, so daß alle Signale, die ich
hätte geben wollen, am Stein endeten. Doch da dies schon geschehen
war, brauchte und wollte ich kein Signal geben. Er hatte sich viel
angeeignet in all den Wochen an Bord, aber dies schien er immer
noch nicht zu wissen: daß ein stürzender Stein keine Gefahr
darstellt für den Mann am Grund, da der vorauslaufende Druck jeden
Körper zur Seite schleudert. Aber nach allem, was geschehen war,
ließ ich ihn in dem Glauben, daß er es geschafft hätte; ich schnitt
mich von der Signalleine los und glitt, ohne zu zögern, an der
Steinbank entlang in Richtung zum Ufer. Einmal schien es mir, als
ob an der Unglücksstelle ein Gegenstand blasentreibend eintauchte,
es kann auch ein Körper gewesen sein, seiner vielleicht, und
vermutlich bei dem Versuch, sich vom Resultat zu
überzeugen.
Der Junge:
Nein, es war nicht meine Absicht, obwohl
einige - und auch Elisa - es annahmen: schon als der mächtige Stein
ausbrach und triefend einschwenkte, sah ich, wie unsicher er in den
Klauen hing, und dazu begann er langsam zu kreisen, worauf ich die
Winsch sogleich drosselte. Dann fiel er zurück, schlug mit seinem
ganzen Gewicht ein, schickte Blasen und Schlamm zur Oberfläche. Ich
sprang von der Winsch zur Signalleine, zog, gab das Zeichen einmal
und noch einmal, spürte, aber wollte nicht spüren, daß auf meinen
fragenden Zug ein entschiedener Widerstand antwortete, das Gewicht
des Steins, der die Signalleine beklemmte. In meinen Kleidern
tauchte ich, zog mich an der Signalleine hinab, ertastete den
Stein; sonst war nichts auszumachen. Ich holte den Anker ein und
warf den Hilfsmotor an, ich lief allein zurück und meldete das
Unglück im Hafenbaubüro, wo sie gleich eine Barkasse mit einem
Berufstaucher auf den Weg brachten. Da ich die Signalleine nicht
gekappt, sondern an einer kleinen Plastikboje befestigt hatte,
fanden wir die Unglücksstätte sogleich wieder; der Berufstaucher
wurde runtergeschickt, suchte den Grund systematisch ab, kam schon
bald wieder herauf und sagte mit ruhiger Stimme, daß mein Alter
nicht in der Nähe des Steins lag, daß es ihn aber dennoch erwischt
haben müßte und er »irgendwie abgetrieben sei«. Hier liegt ja ne
ganze Mole unter dem Wasser, sagte er außerdem. Nachdem wir die See
in der Nähe abgesucht hatten, liefen wir zurück, und ich ging zu
Fuß nach Hause in fremdem Arbeitszeug, das sie mir im Hafenbaubüro
geliehen hatten, meine nassen Sachen trug ich in der Hand. Dieses
Erschrecken hatte ich nicht vorausgesehen: als sie mir
gegenübersaß, als ich ihr erzählte, was geschehen war, preßte sie
ihre Finger auf die Schläfen, zitterte, biß sich auf die
Unterlippe, ihr Kopf pendelte abwehrend hin und her. Sie ertrug
nicht die leichteste Berührung. Wie sich ihre Pupillen weiteten!
Sie konnte nur einen Satz wiederholen: Du hast es getan, du hast es
also getan. Meine Antworten schienen sie nicht zu erreichen in der
Tiefe ihrer Verstörtheit. Sie blieb einfach sitzen und überhörte
und übersah alles, rührte nichts an von dem, was ich ihr anbot, und
spät mußte ich sie in ihre Kammer führen. Am nächsten Morgen fand
ich sie, wie sie in ihren Kleidern auf dem Bett lag und regungslos
auf die gerissenen Balken der Deckte starrte. Mir blieb nichts
anderes übrig, als sie zu allem zu zwingen, was durch das Unglück
notwendig geworden war, gemeinsam ließen wir ihn als vermißt melden
- vermißt auf See -, gemeinsam zogen wir zu den verschiedenen
Behörden, und auch seinen Nachlaß sahen wir gemeinsam durch in den
folgenden Tagen und staunten darüber was er in seiner unerhörten
Genügsamkeit zusammengebracht und uns hinterlassen hatte.
Ursprünglich hatte er verfügt: zwei Drittel für sie, ein Drittel
für mich; das hatte er später berichtigt und - ich weiß nicht,
warum - uns mit halbe-halbe bedacht. Das aber konnte nicht der
Grund ihrer Erschütterung sein, da sie diese und manche andere
Eröffnung nur unbeteiligt zur Kenntnis nahm und nicht aufhörte,
unter jeder Berührung zusammenzuzucken oder zu wimmern ohne äußeren
Anlaß. Als ich ihr an einem Abend beibrachte, daß ich die »Ragna«
nach Hause holen, mir einen Macker nehmen und die Steinfischerei
fortsetzen wollte - jeden Tag lag jetzt die »Wilhelmina« des alten
Rasmussen an unserer unterseeischen Steinbank -, schloß sie sich in
ihre Kammer ein, doch dann, als wir von der Arbeit zurückkamen und
am Anlegesteg festmachten, stand sie auf einmal am Strand, um mich
abzuholen.
Die Frau:
Auch für ihn, auch für Sven, war es nicht
das, was er sich gewünscht hatte: mit mir allein zu sein in diesem
Haus. Seine Unruhe und Gereiztheit wurden nicht geringer mit der
Entfernung vom Unglück. Es gelang ihm niemals mehr, zu genügsamer
Untätigkeit zurückzufinden, auf dem Bett zu liegen und zu rauchen.
Manchmal an Sonntagen fuhr er allein mit der »Ragna« hinaus ankerte
dort, wo es geschehen war, setzte das Beiboot aus und ruderte zur
Küste und suchte die leere Küste ab - gerade so, als könnte oder
wollte er sich nicht zufrieden geben. Wenn er mir leid tat
mitunter, versuchte ich ihn zu trösten, doch diese Versuche
mißlangen und endeten mit seiner gesteigerten Reizbarkeit. Und wie
sollte ich ihn auch trösten, da ich von seinem Vorsatz überzeugt
war! Andererseits stellte er einmal mit Genugtuung fest, daß die
Eintragung »vermißt auf See« einige Jahre so bestehen müßte, ehe
man an eine Todeserklärung denken könnte; damit wollte er wohl eine
Hoffnung durchschimmern lassen. Ich möchte nicht sagen, was
geschehen wäre, wenn an einem dieser Tage Frank Pomella angeklopft
und versucht hätte, mich zur Rückkehr zu überreden - in diesen
Tagen, die ich vor allem damit zubrachte, die kümmerlichen Beete
mit einer Kante aus schwarzgrauen Feuersteinen einzufassen. Sven
fragte nicht mehr nach seinem Besuch, er verzichtete auf manches,
ohne daß es zwischen uns ausgemacht worden wäre, und ich täuschte
mich gewiß, wenn ich gelegentlich dachte, daß er vor meiner Tür
zögerte. Ich konnte seine Berührungen nicht vergessen, doch ich
fürchtete mich vor ihnen. Ich wagte einfach nicht, sehr weit
vorauszudenken und dem, was uns eines Tages erwartete, mit einem
Entwurf zu begegnen. Nur eine Sicherheit entstand: das
Zusammenleben in diesem Haus konnte keine Dauer haben.
Der Mann:
Zurückgekommen bin ich nicht, um mir meine
Vermutungen bestätigen zu lassen - ich hatte ja längst Gewißheit
genug -, sondern weil das, was geschehen war, ausgeglichen und zu
gleichen Teilen getragen werden mußte. Nachdem meine Entscheidung
gefallen war, konnte ich auf jede Vorsicht verzichten, ich ging
einfach zum Haus hinauf, betrat es, ohne anzuklopfen, suchte, da
niemand sich meldete, in allen Kammern und sah dabei, was sie
verändert hatten seit meinem Fortgang. Als die Frau vom Strand
heraufkam - sie trug einen Eimer mit Feuersteinsplittern -, ging
ich ihr bis zur Hecke entgegen, nahm ihr Handgelenk und zog sie ins
Haus und forderte sie auf, sich an den Ecktisch zu setzen. Da ich
alles vorausgesehen hatte - ihr Erschrecken ebenso wie ihre Ver
blüffung und, gewissermaßen unterlegt, so etwas wie eine ratlose
Freude, rührte ihre Reaktion mich nicht. Ich ließ keine Frage
gelten, lehnte Erklärungen ab, beschränkte mich nur darauf, auf die
Rückkehr des Jungen zu warten. Der kam nach einer Weile pfeifend
ins Haus und fragte mehrmals laut an, ob er sich Zigaretten leihen
könnte; die Frau jedoch antwortete nicht, und so stieß er, auf der
Suche nach ihr, die Tür auf und sah mich: das gleiche Erschrecken,
die gleiche verwirrte Freude, und dann eine Geste, die sich wohl
zur Umarmung erweitern sollte, doch sie blieb unausgeführt,
offenbar, weil meine Entschiedenheit sie nicht zuließ. Auch in
seinem Fall ließ ich keine Fragen gelten. Nun, da wir zusammen
waren, forderte ich sie auf, mit mir an Bord der »Ragna« zu gehen,
ich selbst warf die Leinen los, und dann fuhren wir hinaus zu der
unterseeischen Steinbank und warfen Anker auf dem alten Platz. Sie
merkten, daß ich in allem einem Plan folgte, doch nach einigen
Versuchen gaben sie es auf etwas von mir zu erfahren und führten
nur mißtrauisch meine Anweisungen aus. Sie wagten nicht, sich zu
widersetzen, selbst als ich meine Absicht bekanntgab, das
glimmende, scharfkantige Ungetüm heraufzuholen, den Stein, der mir
zugedacht war, wechselten sie nur einen besorgten Blick, der Junge
legte das Tauchgerät an, und ich band ihm die Signalleine um und
fierte die Klaue weg, nachdem er getaucht war. Er fand den Stein,
er brachte den Greifer über ihn und ließ die Klauen zupacken, und
danach muß er wie ich einst aufgesehen und den Brocken beobachtet
haben, wie er pendelnd emporschwebte und durch die Oberfläche
brach. Das stürzende Wasser wusch an ihm entlang, als er auftauchte
und sich hob bis zu dem Punkt, an dem er eingeschwenkt werden
mußte. Ich stoppte das Spill, winkte die Frau heran, ließ sie die
Sperre lösen und sogleich auch den Zug tun, der die Klauen des
Greifers öffnet. Sie tat es skeptisch, ohne die Wirkung
vorauszusehen, und dann stürzte der Stein mächtig aufschwappend
zurück und schickte schaumige Spritzer bis zu uns hinauf. Um
Himmels willen, sagte sie, um Himmels willen, was ist denn nun
geschehn? Ich löste die an die Reling gebundene Signalleine und
warf sie über Bord; danach zog ich das Beiboot heran, unter dem
Vorwand, das Wasser abzusuchen, sprang hinein und stieß ab und
ruderte mit dem Wind, mit der Strömung davon. Ihr Rufen hörte auf,
schließlich auch ihr Winken mit dem weißen Tuch.
Der Junge:
Bis zuletzt hatte ich geglaubt, er wollte nur
etwas feierlich demonstrieren, so auf seine Art, und das heißt, daß
man im Tun etwas begreift und das Grundsätzliche mitlernt. Deshalb
war ich nicht allzu erstaunt, als er mich runterschickte und mir
eigenhändig die Signalleine umband; allerdings merkte ich auch, daß
das, was ich tat, Teil eines größeren Planes sein sollte, doch das
war erst an der Bordwand, als er mich ohne Schlag verabschiedete.
Der Stein, den wir gemeinsam heben wollten, lag mit seiner
Schmalseite nach oben, die Klauen faßten gut und hielten ihn so
sicher, daß er, wenn man die Sperre nicht vorsätzlich löste,
niemals zurückstürzen könnte. So blieb ich an der Stelle und
blickte ihm nach, sah ihn bewegungslos als zerlaufenden Schatten
über der Wasseroberfläche, bis er auf einmal zurückfiel. Ich
versuchte, zur Seite wegzugleiten, und noch in der Bewegung, die
mich kaum in Sicherheit gebracht hätte, spürte ich den
vorauslaufenden Druck wie eine ungeheure Faust, die mich herumriß
und wegschleuderte, soweit die Signalleine es nur zuließ. Ich
schnitt mich los, schwamm zurück in den blasigen Aufruhr an der
Absturzstelle, wo Algen und Schaum und Grundsand
durcheinandertrieben und ertastete den Stein. Ich ahnte, wer die
Sperre gelöst hatte, glaubte zu verstehen, was hier hätte geschehen
sollen, und während ich, waagerecht am Stein hängend, »Ragnas«
plumpen Schatten absuchte und erkannte, wie der geringe Schatten
des Beibootes sich entfernte, begriff ich auf einmal die
Gelegenheit: sachte bewegte ich mich auf das Ufer zu, immer mehr
weg von »Ragna«, immer sicherer vom Beiboot.
Dort am Ufer hatte sich der
Weißdorn schon den Strand erobert. Es hatte zu dämmern
begonnen.
Die Frau:
Er war es, der mich aufforderte, die Sperre
zu drücken, und er war es, der mir die Reißleine gab: ich hab doch
nur das getan, was er von mir verlangte, ich wußte ja nicht, was
geschehen würde. Sie ließen mich einfach allein an der
Unglücksstelle, allein auf diesem schwarzen Schiff, das ich haßte,
vom ersten Augenblick an, und ich mußte eine Nacht dort aushalten,
ehe der alte Rasmussen mich fand, mich dort liegen sah. Man braucht
mich nicht zu fragen, ich weiß nur eins: ich werde fortgehen von
hier, wo alles fremd geblieben ist - diese Küste und dieses Haus
und diese Leute mit ihrer Undurchdringlichkeit und Kälte. Ich
weigere mich einfach, darüber nachzudenken, was geschehen ist; oh,
und ich könnte es auch gar nicht, da ich den Druck auf meinen
Schläfen schon jetzt kaum aushalten kann. Es schlingert einfach,
alles schlingert unter mir. Aber etwas werde ich tun, ich werde die
Annonce vernichten, die er damals aufgegeben hat, und auf die ich
hierher kam. Ich weiß, daß sie mich jetzt fragen werden, aber
welche Antworten bleiben mir denn? Ich muß doch zugeben, daß ich
die Sperre gedrückt und an der Reißleine gezogen habe, und da er
schon wieder oder immer noch als auf See vermißt gilt, werden sie
feststellen, daß nur ich allein es getan haben kann.
1973