Die Mannschaft
Für Heinz Perleberg
Wie wir davonzogen im Rückspiel: zweizunull,
dann fünfzuzwei, und schließlich siebenzudrei bei Halbzeit; da
schien alles schon gelaufen, alles entschieden und erreicht zu
sein, und wir gingen mit dem Gefühl in die Kabinen, daß das
Hinspiel in Bodelsbach, das wir mit einem Tor Unterschied verloren
hatten, keine Erinnerung mehr wert war, jedenfalls keinen zu
belasten brauchte; und welch einen Anteil ich daran hatte, ließen
sie mich in der Halbzeit spüren, als sie mir zunickten, über den
Hinterkopf wischten oder im Vorbeigehen anerkennend auf den Rücken
klatschten; sogar Plessen, unser wortkarger Trainer, nickte mir zu.
Offenbar beglückwünschte er sich selbst dazu, daß er mich nach
langer Zeit - und vielleicht nur, weil es um die Teilnahme am
Europa-Pokal ging - wieder aufgestellt hatte.
Keiner von uns bedauerte, daß für
das Rückspiel gegen Bodelsbach Klaus Körner aufgestellt wurde,
jedenfalls bis zur Halbzeit nicht, denn daß wir mit siebenzudrei
führten, hatten wir nicht zuletzt seinem Spiel und den vier Toren
zu verdanken, die er mit seinen Fallwürfen erzielte; und als wir in
die Kabinen gingen, dachte niemand mehr an die Behutsamkeit, mit
der Plessen uns darauf vorbereitet hatte, daß er für dies
entscheidende Spiel Klaus Körner aufstellen wollte, ihn, der
achtzehnmal in der Ländermannschaft gespielt hatte, der unser
bester Mann war und den Plessen dennoch monatelang pausieren ließ,
einfach weil Klaus unberechenbar war und für sich mehr beanspruchte
als jeder andere Spieler in der Mannschaft.
Wir hätten das Hinspiel nicht zu
verlieren brauchen, wenn sie mich schon damals aufgestellt hätten
in Bodelsbach, in diesem entlegenen Nest mit sechs-, allenfalls
siebenhundert Einwohnern, die nur für ihre berühmte
Vierfruchtmarmelade und ihre zumindest hierzulande nicht weniger
berühmte Handballmannschaft zu leben scheinen - wenn die ein
Heimspiel bestreiten, lassen sich vor Begeisterung sogar die
Kranken an den Spielfeldrand tragen, und ihre zahlreichen
Kinderwagen segeln ausnahmslos unter den grün weißen Vereinswimpeln
von Bodelsbach - doch diese Mannschaft, die so viele Favoriten
auflaufen ließ, hat ihre erkennbaren Schwächen, und Günther Plessen
gab mir zu, daß wir es nicht verstanden, diese Schwächen
auszunutzen, und daß wir schon das Hinspiel gewonnen hätten, wenn
ich dabei gewesen wäre.
Auch wenn keiner von uns zunächst
bedauert hatte, daß Klaus Körner für das Rückspiel aufgestellt
wurde - bei einigen von uns löste diese Entscheidung zwangsläufige
Erinnerungen an alte Spiele aus - München, Lyon, vor allem Zagreb
-, Erinnerungen an einen eigensinnigen und unaufhaltsamen
Mitspieler, dessen Begeisterung ansteckend wirkte, solange die
Chancen gleich verteilt waren, der aber dann, wenn wir im Rückstand
oder sogar im hoffnungslosen Rückstand lagen, alle Abmachungen
verletzte, sich zu unbeherrschten Aktionen verleiten ließ und so
schroff gegen die Regeln verstieß, daß sie ihn mehrmals
hinausstellten.
Wir hätten zur Halbzeit noch
höher führen können als siebenzudrei, aber ich hatte Plessen
versprochen, nicht das ganze Spiel über mich laufen zu lassen, ich
sollte vor allem Hartwig einsetzen, ihn, der den Senkwurf aus
spitzem Winkel beherrscht wie kein anderer, doch aus Bescheidenheit
oder Solidarität zu lange zögert; und es gelang mir auch, ihn so
anzuspielen, daß er zwei musterhafte Tore warf: schräg stieg der
Ball über den herausgelaufenen Torwart, schien in der Luft zu
stoppen und senkte sich so sanft und berechnet ins Netz, daß sogar
der Bodelsbacher Torwart klatschte, während Hartwig auf mich zulief
und Danke, Klaus, sagte, danke, und gleich verlegen unter dem
Beifall der Zuschauer zurücklief.
Als Plessen uns in der Pause um
sich versammelte, war keiner so erschöpft wie Klaus Körner, der
sich gleich auf die Bank unter den Kleiderhaken fallen ließ und das
Sprudelwasser nicht dazu benutzte, seinen Mund auszuspülen, sondern
die ganze Flasche austrank, ohne abzusetzen, und kaum zuhörte, was
Plessen uns an taktischen Ermahnungen mitzugeben hatte. Obwohl er
vier Tore geworfen hatte, schien es ihm an Training, in jedem Fall
an Kondition zu fehlen, er pumpte und pumpte, wandte sein
schweißglänzendes Gesicht dem geöffneten Fenster zu, wobei er die
Beine wegspreizte und die Schultern zurückbog, und wer ihn so sah,
fragte sich unwillkürlich, ob Klaus die zweite Halbzeit würde
durchhalten können. Wirst du durchhalten, fragte ihn Plessen, bevor
wir auf das Spielfeld zurückkehrten, und er darauf, lässig
aufwachsend aus seiner Bankecke, ein Athlet, den sie für alles
hätten werben lassen können: Klar, Günther, was denn
sonst.
Wie deutlich ihre Sorge aufstieg,
wie ihre Aufmerksamkeit für mich wuchs, das bekam ich schon zu
spüren, als ich mich bei der Lagebesprechung auf die Bank setzte
und mein Trikot, das schwarz war vor Schweiß - aber wann wäre es
anders gewesen -, nicht gegen das frische tauschen wollte, das
Hartwig mir hinhielt. Ihre skeptischen, abfragenden Blicke
streiften mich, als ich dort saß - auf nichts weiter aus, als mich
zu entspannen, zu lockern; doch da ich so lange weder mit der
Mannschaft trainiert noch gespielt hatte, glaubten sie wohl, mir
ihre Anteilnahme zeigen zu müssen oder doch ihre Besorgnis. Und als
wir dann zurückkehrten auf das Spielfeld, stubsten, beklopften,
ermunterten sie mich durch schnelle Berührungen, und auf ihren
Gesichtern erkannte ich nicht nur das Einverständnis mit meinem
bisherigen Spiel, sondern auch die Bereitschaft, über alles
hinwegzusehn, was in einigen vergangenen Spielen geschehen sein
mochte; ja, und ich spürte auch ihre Freude, daß ich wieder dabei
war, und den Wunsch, mich bei den Begegnungen um den Europa-Pokal
wieder
dabeizuhaben.
Beifall empfing uns, als wir zur
zweiten Halbzeit erschienen; den stärksten Beifall erhielt Klaus
Körner, als er die ausverkaufte Halle betrat; es war eine neue
Halle, die mit dem Spiel gegen Bodelsbach eingeweiht wurde, und
unter den mehr als zweitausend Zuschauern waren einige hundert, die
hinter unserm Tor Sprechchöre bildeten und Bodelsbach anfeuerten.
Es hatte fast den Anschein, als hätten sie die Hälfte ihrer
Einwohner zum Spiel ihrer Mannschaft beordert, und einer von ihnen,
vielleicht der Bürgermeister oder der Direktor der
Marmeladenfabrik, trat als Einpeitscher auf und gab die Zeichen zu
lautstarkem Einsatz. Und die Halle dröhnte, sie bebte und dröhnte,
sobald Bodelsbach zu stürmen begann.
Den hatten sie sicher in der
Pause verabredet, diesen Überraschungsangriff gleich nach dem
Anwurf: Ole Zesch, ihr bester Spieler, war durch, flog auf den
Kreis zu und setzte zum Wurf an; da konnte Hartwig nur die
Notbremse ziehn und durchstecken, worauf der bullige, kurzhalsige
Verteidiger von Bodelsbach in den Kreis fiel und sich überschlug;
doch den Siebenmeter schoß er selbst - nicht einmal listig oder
angetäuscht, sondern mit so unbarmherziger Wucht, daß Werner bei
uns im Tor zwar den Ball mit den Fingerspitzen berührte, aber ihn
nicht halten konnte. Die Wucht des Schusses schien ihn selbst in
sein Tor hineinzuschleudern. Enttäuscht angelte er sich den Ball
und drosch ihn zur Mitte, mir in die Arme, und ich wartete, bis die
andern Spieler zurückgelaufen waren, und in dieser Zeit hörte ich
den triumphierenden Bodelsbacher Sprechchor, der zum nächsten Tor
aufforderte, hörte aber auch zum ersten Mal den Sprechchor unserer
Leute, die nichts anderes taten, als meinen Namen zu skandieren:
Körner, Körner; das stieg auf wie ein Brausen und begleitete und
trug mich, solange ich den Ball hielt.
Anscheinend rechnete sich
Bodelsbach eine Chance aus, nun, wo wir nur noch siebenzuvier
führten; auch die Zuschauer ergriff gleich nach dem
Überraschungsangriff eine unerwartete Spannung: in Sprechchören
gaben sie zu erkennen, wer ihre Hoffnungen trug und was sie
eingelöst sehen wollten. Bodelsbach forderte Tore; unsere Leute
antworteten mit dem Namen von Klaus Körner, und so, wie sie diesen
Namen artikulierten, lagen darin grollende Warnung und
Selbstzuspruch. Und Klaus, der zur Halbzeit so erschöpft gewirkt
hatte, zog den Ball an in jeder Haltung, in jeder Stellung. Der
Ball suchte ihn. Der Ball klebte an seinen Fingerspitzen. Der Ball
tanzte auf seinem Unterarm. Kreiseln konnte der Ball, wenn er
kreiseln sollte. Der Ball sprang und stieg und versteckte sich, er
bot sich an und foppte den Gegner, so, wie Klaus es wollte. Es gab
Beifall im offenen Spiel, wenn wir vor dem Schutzkreis der
Bodelsbacher zu wirbeln anfingen, wenn wir sie stehen und zusehen
ließen, wie der Ball von einem Spieler zum andern wandern konnte,
kurz, lang, kurz, doch der Beifall steigerte sich noch, wenn Klaus
zum Schuß ansetzte: hoch stieg er auf, schnellte empor über die
erhobenen Arme der gegnerischen Abwehr, die Hand mit dem Ball
zuckte zurück, aber anstatt zu werfen, täuschte er nur an, klemmte
sich mit energischer Drehung durch die Verteidigung und ließ sich
in den Kreis fallen. Und im Fallen schoß er.
Wenn sie nicht bei Halbzeit den
Torwart ausgewechselt hätten, wäre unser Vorsprung vielleicht auf
sechs Tore angewachsen, aber dieser schmächtige, ernste Junge, der
weder Genugtuung noch Freude verriet, der jedem Schuß entgegenflog
und so den Winkel verkürzte, hielt einfach alles, und nach meinem
zweiten Fallwurf, den er im Flug zur Ecke ablenkte, ging ein Raunen
der Bewunderung durch die Halle, ehe der Beifall begann. Er maß
mich nicht nur mit seinen Blicken, er schien unweigerlich
vorauszusehen, was ich vorhatte, und er war da und verhinderte eine
höhere Führung. Auch Hartwig mit seinen Senkwürfen konnte ihn nicht
überlisten: Hebbi Prengel, den Reservetorwart von Bodelsbach, der
als Einwieger in ihrer verdammten, berühmten Marmeladefabrik
arbeitete.
Zuerst sah es so aus, als könnte
Hebbi Prengel, den sie nach der Pause ins Tor stellten, obwohl er
noch nie an einem entscheidenden Spiel teilgenommen hatte, Klaus
mattsetzen oder blockieren, einfach nur durch die vollkommene Art,
mit der er sich auf ihn einstellte. Ein geheimer Mechanismus schien
sie zu verbinden, eine Beziehung, die bewirkte, daß der Torwart
eine äußerst gespannte Ruhe gewann und sich duckte, sobald Klaus
den Ball führte, und er drehte sich mit in winzigen Schritten, mit
einer Bereitschaft, die viel zu früh begonnen zu haben schien,
unwillkürlich alarmiert, unwillkürlich herausgefordert durch die
Gefahr, die von Klaus ausging. Wie sie sich erkundeten! Wie sie
einander studierten! Niemand hätte voraussagen können, wohin der
Ball fliegen würde, den Klaus mit schmalem Pokergesicht abfeuerte:
Hebbi Prengel wußte es, ahnte es, hatte die Flugbahn schon
berechnet, stand in Erwartung da. Es war jedenfalls sein Verdienst,
daß Bodelsbach in diesen Minuten bis auf siebenzusechs herankam -
den Siebenmeterball, der gegen uns verhängt wurde, halte ich
allerdings immer noch für umstritten.
Sie trampelten, sie klatschten,
ihre Sprechchöre trugen untereinander ein besonderes Spiel aus. Die
Halle zitterte. Ich riskierte einen Alleingang, nachdem Hartwig
mich durch schnellen Positionswechsel freigespielt hatte, stieg so
hoch ich konnte, sah in das Gesicht des Torwarts, der mich in
leichter Grätschstellung, mit nicht ganz ausgestreckten Armen
erwartete, und diesmal wußte ich, daß ich ihn bezwingen würde, noch
bevor ich geschossen hatte. Mitten im Sprung schoß ich einen
Aufsetzer, der zwischen Hebbi Prengels Beinen hindurch ins Tor
sprang: es stand nicht nur achtzusechs, dieses Tor schien einen
Stau oder eine schon erfolgte Resignation aufzuheben, es war ein
Zeichen, ein Appell, und wie sehr wir es nötig gehabt hatten,
bewiesen sie mir, als sie alle auf mich zuliefen - und sogar Werner
aus seinem Tor herauskam - um mir die Hand zu drücken, mich zu
tätscheln oder in die Seite zu knuffen. Ich ließ diese Gratulation
nicht nur über mich ergehen; jetzt forderte ich sie zu einem
Zwischenspurt auf: Ran, Jungens, nun aber ran.
Nachdem Klaus uns durch einen
Alleingang wieder mit zwei Toren in Führung gebracht hatte, geriet
Bodelsbach unter zunehmenden Druck; wir schnürten sie vor ihrem Tor
ein, wehrten ihre planlosen Angriffe ab und zwangen sie, mit Haken
und Ösen zu verteidigen; jedenfalls waren wir einem Tor näher als
sie einem Anschlußtreffer. Unser Spiel lief, und Klaus war das
Zentrum: er zog an, er lenkte und verteilte, er rochierte
blitzschnell am Kreis und zeigte mit Hartwig ein Paßspiel, das
rhythmischen Beifall herausforderte. Und dann - es soll der
Augenblick gewesen sein, der alles weitere begründete - war Klaus
durch, war fast allein vor dem Tor, nur Ole Zesch hatte er noch zu
überwinden, den kurzhalsigen Verteidiger von Bodelsbach, der ihn
geduckt annahm. Obwohl wir alle Klaus beobachteten, bemerkte
niemand mehr als dies: er war durch, wollte Ole Zesch durch einen
Trick täuschen, das mißlang, und dann hob er sich nach zwei
energischen Sprungschritten, stieg hoch auf, in vollkommener
Streckung und weit über dem gegnerischen Spieler, der den zum Wurf
ausholenden Arm nicht mehr behindern, am unvermeidlichen Torschuß
nichts ändern konnte - zumindest hatte es den Anschein -, doch noch
vor dem Wurf flog sein Kopf zurück, sein Mund sprang auf, sein
Körper krümmte sich, und gekrümmt landete er und blieb in der Hocke
am Boden. Er stöhnte. Er preßte eine Hand auf seine Magengrube. Ole
Zesch hielt ihn leicht fest. Der Schiedsrichter gab keinen
Strafwurf. Als Plessen auf das Spielfeld lief, sein flatterndes
Jackett mit den klimpernden Schlüsseln in den Taschen ruckhaft nach
vorn zerrend, dachte er wie mancher von uns an die alte
Sehnenverletzung von Klaus.
Wenn schon nicht Hartwig - der
Schiedsrichter muß es doch gesehen haben: er stand daneben, als ich
vor Zesch hochstieg, wurfbereit, er muß doch bemerkt haben, was
geschah. Hebbi Prengel hatte sich zu weit vorgewagt, ich brauchte
ihn nur zu überwerfen, und es wäre ein sicheres Tor geworden, aber
dann geschah, was keiner sah und keiner mir bis heute abkaufen
will: knapp vor dem bulligen Verteidiger sprang ich aus vollem Lauf
hoch, setzte, sozusagen über ihm hängend, zum Wurf an, da stieß er
mir den Ellbogen aus scharfer Drehung so heftig in den Unterleib,
daß ich zu Boden ging. Es war kein unbeweisbarer Schlag. Ich mußte
zu Boden, und Plessen und die andern, die zu mir gelaufen kamen,
tippten natürlich sofort auf meine alte Sehnenverletzung; das Foul
hatte keiner von ihnen wahrgenommen. Deshalb verstand auch keiner
von ihnen, daß ich die Hand ausschlug oder übersah, die Ole Zesch
mir hinhielt. Wir beide wußten, was geschehen war, und er war
weniger über meine Weigerung verblüfft, seine Hand anzunehmen, als
der lärmende Bodelsbacher Anhang, der mich auszupfeifen versuchte,
während ich die Arme hochriß, um Luft zu bekommen.
Klaus Körner war angeschlagen, in
jedem Fall verletzt, nachdem er kurz vor dem Schuß zu Boden mußte;
dennoch hätte er die Hand nehmen müssen, die Ole Zesch ihm
hinhielt. Wie unsicher sie wurden, wie offensichtlich sie Ihm ihre
Sympathien entzogen, als er darauf verzichtete, die Entschuldigung
eines gegnerischen Spielers anzunehmen! Sogar ihre Bewunderung für
ihn schien abzukühlen. Vielleicht hätte Plessen ihn zu dieser Zeit
aus dem Spiel winken und auswechseln sollen, denn daß Klaus etwas
abbekommen hatte, war nicht mehr zu übersehen: ungenauer wurde sein
Zuspiel, seine Schnelligkeit ließ nach, und vor dem Kreis verlor er
sein Selbstvertrauen. Nicht mehr äußerstes Risiko, sondern
Sicherheit bezeichnete sein Spiel, und dies nicht allein:
gelegentlich machte er den Eindruck eines Spielers, der
lustlos
sein pflichtschuldiges Pensum
leistet.
Der Schmerz hörte nicht auf, so
ein ziehender Schmerz im Unterleib, ein Krampf, der einsetzte,
sobald ich einen Sprungschritt machte, und ich überlegte, ob ich
das Spielfeld nicht verlassen sollte. Doch Plessen gab mir kein
Zeichen. Und schließlich spielte ich mich auch wieder ein,
wenngleich ich mehr zurückhing und das Spiel von hinten aufbaute.
Ich mußte erst den Schmerz loswerden, um zum Endspurt aufzufordern.
Es lag an mir, daß wir eine Schwächeperiode hatten - trotzdem
spielten wir für Hartwig zwei Chancen aus dem Lehrbuch heraus; er
scheiterte an Hebbi Prengel, der mit Hohlkreuz und ausgebreiteten
Armen dem Ball entgegenflog und ihn über das Tor lenkte. Bodelsbach
kam in dieser Zeit nur einmal zum Schuß, wieder durch Ole Zesch,
der den Ball so erbarmungslos schleuderte, daß sich das Leder im
Tor zwischen Latte und Netz festklemmte.
Das Spiel wurde härter, auf
beiden Seiten gab es einen Siebenmeter, doch die Torhüter sorgten
für ein unverändertes Resultat. Wir nahmen Klaus manches ab in der
Verteidigung, und nach einer Weile sah es so aus, als hätte er sich
von seiner Verletzung erholt: er stürmte wieder, er riskierte einen
Torwurf und im Zurücklaufen entwarf er mit Hartwig und Walter
Purschell einen neuen Spielzug. Wieviel von ihm ausging, wieviel
sich von seinem Spiel und von seinem Einsatz sogleich auf die
Mannschaft übertrug! Nun, da ihm nichts mehr zu schaffen machte,
zog er sie wieder mit, servierte und dirigierte, und wir ließen das
Spiel fast ausschließlich über ihn laufen, weil von Klaus die
größte Gefahr ausging. Er hätte es nicht nötig gehabt, jeden
einzelnen zum Endspurt aufzufordern; sein Spiel enthielt
Aufforderung genug.
Dann, als der Schmerz sich legte,
fast vergessen war, gab ich jedem einzelnen von uns das Signal zum
Endspurt, nachdem Plessen mir seinerseits das verabredete Zeichen
gegeben hatte. Obwohl wir nur mit einem Tor Vorsprung führten,
waren wir unserer Sache sicher. Wir verwiesen sie auf ihre Hälfte.
Wir belagerten sie. Wir durchschauten jeden Entlastungsangriff und
verhinderten ihn bereits in der Entstehung. Ja, wir machten sie zu
Statisten, zeigten ihnen sozusagen, daß Vierfruchtmarmelade zu
wenig ist, und wie sehr sie in der Klemme waren, konnte man an
Hebbi Prengel, dem Einwieger, erkennen: er tänzelte, er steppte vor
und zurück, er warnte seine Leute, wies sie auf Lücken hin. Und wir
in diesem Augenblick: ich weiß noch die schnell gezeigten
Genugtuungen, die hingeklatschten Ermunterungen, die Zuversicht
weiß ich noch und die lässigen Berührungen, mit denen mir die
Mannschaft zu verstehen gab, daß sie einverstanden war mit meinem
Spiel. Endlich flankte Hartwig von der Ecke herein, ich riskierte
einen Drehschuß, der gegen den Pfosten sprang und zu Hartwig
zurück, sodaß wir im Ballbesitz blieben.
Wir spielten so überlegen, daß
das nächste Tor, das unsern Vorsprung vergrößert hätte, in der Luft
lag, und als Klaus seinen Drehschuß probierte, sahen wir schon den
Ball im Netz. Der Ball prallte jedoch vom Pfosten ab, Hartwig
konnte sich ihn angeln, und wir liefen etwas zurück, um einen neuen
Angriff aufzubauen. Wir wirbelten vor dem Kreis, ließen die
Bodelsbacher immer wieder leerlaufen, und auf einmal setzte Klaus
energisch zum Wurf an. Woher nahm er nur die Kraft, um so
aufzusteigen? Er schnellte empor, reckte sich weit über alle hinauf
- die Momentaufnahmen, die ihn so in der Luft, in dieser Streckung
zeigen, lassen einfach nicht annehmen, daß allein seine Sprungkraft
ihn so hinaufgetragen hat - und holte aus wie beim ersten Mal. Und
wie beim ersten Mal hatte er nur einen Verteidiger vor sich, der,
so schien es zumindest, die unaufhaltsame Aktion nicht mehr würde
vereiteln können. Ole Zesch, der Klaus allenfalls bis zur Schulter
reichte, hatte nichts mehr zu bestellen. Weder der Schiedsrichter
noch einer von uns erkannte mehr als dies: Klaus setzte zum Wurf
an, schrie auf, seine Hand ließ den Ball fallen, und aus dem Sprung
stürzte er auf Ole Zesch, der ihn auffing, hielt, dann auf den
Boden gleiten ließ, wo Klaus sich krümmte und stöhnend die Knie
anzog. Nur dies Bild kann zugegeben werden: der Verteidiger in
geduckter Bereitschaft, zwar nicht mit ausgebreiteten Armen, aber
doch mit gespreizten, Stand suchenden Beinen; und der
Angriffsspieler, nah, und zugleich hoch über ihm, den Arm zum Wurf
ausgestreckt. Etwas anderes hat keiner von uns in
Erinnerung.
Wie konnte auch das unbemerkt
bleiben, wie konnte vor allem der Schiedsrichter übersehen, was
geschah, als ich, wie beim ersten Mal, vor Ole Zesch hochstieg, um
über ihn hinwegzuwerfen? Hebbi Prengel im Tor stand zu weit vorn,
in der kurzen Ecke, ich sah das, ich hatte ihn gewiß geschlagen.
Als ich mich mit einem Sprung über die Verteidigung erhob, dachte
ich nicht daran, daß es wieder Ole Zesch war, der das letzte
Hindernis bildete, ich nahm nichts mehr wahr als die lange Ecke im
Tor und den doppelten Brustring des gegnerischen Spielers, und ich
sah den Ball schon im oberen rechten Eck, mit diesem unfehlbaren
Instinkt, der uns in einer Sekunde erlaubt, ein Resultat
vorwegzunehmen. Berührte ich ihn im Sprung? Ole Zesch stand
unmittelbar vor mir, er konnte also auf kurzem Raum handeln,
jedenfalls ohne weithergeholte und erkennbare Gesten. Eine Drehung
genügte, eine gewaltsame Drehung, aus der er mir den Ellenbogen
wieder in den Körper stieß. Er traf mein Geschlecht, und der
Schmerz überwältigte mich mitten im Sprung, sodaß ich auf ihn
stürzte. Der Schmerz riß mich von den Beinen. Nachdem Plessen und
der Schiedsrichter mir geholfen hatten, hochzukommen, konnte ich
immer noch nicht aufrecht gehen; gegen diesen Schmerz konnte ich
den Körper nicht strecken.
Der Schiedsrichter unterbrach das
Spiel, bis Klaus wieder auf den Beinen war, und danach gab es - was
der Bodelsbacher Anhang mit Beifall quittierte - keinen Strafwurf,
sondern nur einen Schiedsrichterball. Wenn es einen Siebenmeter
gegeben hätte: wir hätten ihn ausgeführt, selbstverständlich,
jedoch ohne den Grund erkannt zu haben; denn ebenso wie der
Schiedsrichter hatte keiner von uns eine Regelwidrigkeit entdecken
können. Niemand protestierte gegen diese Entscheidung, niemand
außer Klaus: gekrümmt, mit verzerrtem Gesicht, verfolgte er den
Schiedsrichter, stellte ihn an unserem Schutzkreis, beschwerte sich
und forderte ihn auf, seine Entscheidung zu korrigieren. Ob er
nichts gesehen habe? Ob er unparteiisch sei? Ob er nicht besser
einen Hebammen-Wettkampf pfeifen wolle? Der Schiedsrichter ermahnte
ihn.
Sie nahmen wohl alle an, daß es meine alte
Sehnenver
letzung war, die sich bemerkbar machte;
deshalb mißbilligten sie meine Forderungen an den Schiedsrichter.
Aber ich mußte ihm sein Versäumnis beibringen; nun, da es zum
zweiten Mal geschehen war, mußte ich ihn darauf hinweisen, was
geschehen war - selbst auf die Gefahr hin, daß er mich ermahnte.
Und er ermahnte mich prompt - im gleichen Augenblick, in dem
Bodelsbach den Ausgleich erzielte. Achtzuacht stand es; Plessen gab
mir ein Zeichen, das Spielfeld zu verlassen, jetzt wollte er mich
austauschen, doch ich übersah die Aufforderung.
Obwohl ich nicht mithalten
konnte: für ein Angriffsspiel wollte ich noch dabei sein,
zurückhängend, weit zurückhängend, um Hartwig zu bedienen; einen
Angriff wollte ich nur noch mitmachen, um dann freiwillig vom Feld
zu gehn.
Warum ging Klaus nicht auf die
Reservebank, obwohl Plessen ihn mehrmals dazu aufforderte?
Humpelnd, eine Hand auf seinen Unterleib gepreßt, bewegte er sich
auf Rechtsaußen, stolperte mit, fing jedoch sicher und hart, als er
angespielt wurde und paßte, was wohl keiner ihm zugetraut hatte,
sehr genau, vor allem unvermutet zu Hartwig hinüber, der kurz vor
dem Kreis bereitstand. Hartwig fing, doch Ole Zesch schlug ihm den
Ball aus der Hand, und es gab Freiwurf. Wir waren noch unschlüssig,
wer den Freiwurf ausführen sollte, da hatte Klaus schon den Ball in
der Hand.
Ich angelte mir den Ball und
wartete auf den Pfiff des Schiedsrichters, geduckt - denn der
Schmerz erlaubte es mir immer noch nicht, mich aufzurichten - und
aus den Augenwinkeln die Positionen unserer Spieler erkundend. In
diesem Augenblick hatte ich mich noch nicht entschieden, wem ich
den Ball zuspielen würde. Wenige Schritte vor mir, ruhig,
spreizbeinig, den Kopf in die Schultern eingezogen, erwartete Ole
Zesch den Pfiff, seine Finger machten vorsorgliche Greifbewegungen,
als wolle er sie für eine besondere Aktion lockern. Dann kam der
Pfiff, und ich legte alle meine Kraft in den Wurf. Der Ball traf
Ole Zesch im Gesicht, mit hellem Dröhnen. Ich sah, wie sein Kopf
zurückgeschleudert wurde, wie er die Hände vor das Gesicht riß und
gebückt auf seinen Tormann zulief, wobei er sich um sich selbst
drehte.
Wen würde Klaus anspielen, so
fragten wir uns, als er darauf bestand, den Freiwurf auszuführen;
keiner empfing ein Signal, also mußte jeder von uns damit rechnen.
Es war vier Minuten vor dem Ende des Spiels, und bei Gleichstand.
Wer weiß, vielleicht beweist gerade dies, daß er keinem von uns
signalisierte, auf sein Abspiel gefaßt zu sein, daß er etwas
vorhatte von Anbeginn, eine unangemessene Vergeltung, oder daß er
sich eine Genugtuung verschaffen wollte, die keinem nützte, am
wenigsten ihm selbst. Wie er sich sammelte zum Wurf! Wie
Verbitterung ihm half, zusätzliche Kraft zu finden! Er stand nur
wenige Schritte vor Ole Zesch, und aus dieser Nähe traf er ihn
mitten ins Gesicht. Es war nicht der Anhang von Bodelsbach allein,
der, nach einer Pause der Fassungslosigkeit, Klaus mit Pfiffen und
Zischen bedachte und dann mit wildem Beifall, als der
Schiedsrichter auf ihn zulief und zu einer Geste erstarrte, die
seine Entscheidung ausdrückte: Feldverweis. Vier Minuten vor Schluß
wurde
Klaus des Feldes verwiesen, wir sahen ihm
nicht nach.
Diesmal, ja, bei meinem Freiwurf glaubte der
Schiedsrichter
ein Foul entdeckt zu haben, er schoß auf mich
zu, erstarrte, sein ausgestreckter Arm, sein überlanger Zeigefinger
wiesen zur Reservebank, vielleicht auch gleich zum Ausgang. Ich
blickte zu unseren Leuten: warum umringten, bedrängten sie ihn
nicht? Warum nahmen sie ihn nicht in die Zange und setzten ihn
unter Druck, seine Entscheidung zu widerrufen? Warum standen sie so
mutlos und kopfhängerisch da, bei einem Feldverweis, vier Minuten
vor Schluß? Wie konnten sie einverstanden sein mit dieser
Entscheidung? Ich sah auf den Schiedsrichter, der immer noch
Wegweiser spielte, starr und unnachgiebig. Ich ging vom Platz, ging
durch ein Spalier der Mutlosigkeit und später der Empörung, als ich
den Gang zwischen den Bodelsbacher Anhängern passierte.
Als Klaus vom Platz ging, in
Richtung zur Reservebank, forderte Plessen ihn nicht auf, sich zu
setzen. Unser Trainer schien ihn nicht wahrzunehmen, und nach
kurzem Zögern ging Klaus, eine Hand auf seinen Unterleib gepreßt,
ohne Eile oder Betroffenheit - eher mit einem Ausdruck zager
Geringschätzung - den Tribünengang hinauf zu den Kabinen. Er wandte
sich nicht ein einziges Mal um, zu uns, zum Spielfeld, wo der
Schiedsrichter aus seiner Starre erwachte und mit einem Pfiff das
Spiel weitergehen ließ. Im Davongehen sah er nicht so aus, als
hätte er Lust, sich vor uns zu rechtfertigen.
Ich ging in die Kabine und zog
mich an, und ich war noch
nicht fertig, als dunkler Beifall und ein
Trampeln und Hämmern in der Halle ein neues Resultat verkündeten:
Bodelsbach, mit einem Mann mehr auf dem Feld, war in Führung
gegangen. Ich wußte, daß es zwischen uns nichts zu sagen gab,
später, nach dem Spiel: Plessen hätte geschwiegen, und alle aus der
Mannschaft hätten geschwiegen; vielleicht hätten sie es
fertigbekommen, in meiner Gegenwart über das Spiel zu sprechen,
ohne mich zu erwähnen, jedenfalls hätten sie mir auf ihre Art zu
verstehen gegeben, wieviel der Mannschaft an mir lag. Warum sollte
ich da bis zum Ende des Spiels warten?
1969