Das Examen
Seht, da steigt Jan Stasny auf die Rolltreppe
des neuen UBahnschachts, dreht sich um und winkt, während er stetig
nach unten fährt, zu seiner Frau und ehemaligen Kommilitonin
hinauf, die im grünen Pullover am Wohnungsfenster steht und nicht
nur das Winken erwidert, sondern auch den rechten Daumen in die
Handfläche einschlägt und die Hand schüttelt, was von unten so
aussieht, als klopfe sie gegen das Fenster. Er weiß, was sie meint;
der gedrungene Mann mit dem schwarzblauen Haar und den
Kalmückenaugen weiß, was sie ihm mitgeben möchte für das große
mündliche Examen, dem er jetzt schwarzgekleidet entgegenfährt, mit
der Kollegmappe unterm Arm, in der heute nur Zigaretten drin sind
und ein leerer Notizblock. Er lächelt, deutet Zuversicht an im
Hinabfahren, zuletzt gelingt ihm noch eine schnelle Geste der
Beschwichtigung, so mit flatternder Hand in die Luft gezeichnet wie
von einem Ertrinkenden, dessen Kopf schon untergetaucht ist: sei
ganz ruhig, du weißt, daß es gut gehen wird, sei nur ruhig. Also es
hat begonnen. Sie will sich wegdrehen vom Fenster, da erkennt sie,
daß ihr Winken aufgenommen und erwidert wird: dort, auf der
ausgefahrenen Plattform des Spezialwagens, hoch unter den
Peitschenlampen, denen neue Leuchtröhren eingesetzt werden, stehen
zwei Kerle mit bloßem Oberkörper und winken und laden sie durch
Zeichen ein, auf die mit rotweißem Stoff umkleidete Plattform
hinabzuspringen. Die Hitze kocht über dem Asphalt, zittert über dem
Metall der Peitschenlaternen. Komm doch, wir fahren ganz nah unters
Fenster, wenn's sein muß, wir fangen dich auf. Sie antwortet mit
angestrengter Achtlosigkeit, tritt zurück, schließt die Augen vor
der Sonne, die von den hellen Häuserwänden drüben zurückgeworfen
wird. War das die Türklingel?
Guten Tag, Mutter, ja, Jan ist schon fort,
jetzt geht's los,
komm, gib mir die Tasche, du kannst gleich
hier anfangen, im Wohnzimmer; doch zuerst ruh dich aus. Die Mutter
schiebt sich an den Ausstellungsplakaten moderner Photographie
vorbei, setzt den Hut ab, legt ihn auf eines der Buchregale, die
aus Ziegelsteinen und selbstzugeschnittenen, weißlackierten
Brettern bestehen. Sie fährt mit der Hand über eine weibliche
Kleiderpuppe, die eine angemalte Admiralsuniform trägt. Hast du das
gemacht, Senta? Ich hab sie Jan zum Geburtstag geschenkt. Dort, der
kleine Rundtisch, von Büchern und gläubig vollgeschriebenen
Kollegheften bedeckt, die fleckigen Teetassen, auf deren Grund
bräunlich angelaufene Zitronenscheiben liegen: Wir haben Jan noch
einmal abgehört, Mutter, gestern nachmittag, gestern abend; Charles
sagte: Jan wird summa cum laude bestehen, jedenfalls ohne
Schwierigkeiten. Heute abend ist alles vorbei.
Die Mutter weicht mit
übertriebener Vorsicht dem Plattenspieler aus, der auf den harten
Kokosläufern steht, mit denen das ganze Zimmer ausgelegt ist und
die weiterlaufen in den durch einen zu kurzen Vorhang abgetrennten
Nebenraum. Auf dem selbstgebauten Nachttisch neben der Couch würgt
ein unternehmungslustiger Schlips ein mit bunten Glasmurmeln
gefülltes Bonbonglas. Ein Reisewecker hält ein aufgeschlagenes Buch
unter Druck. Senta steckt sich eine Zigarette an, rollt das
Bettzeug zusammen, drückt und knetet es in einen Bettkasten hinein
und streicht die Decke über der Couch glatt. Hast du all die
Zigaretten geraucht? Charles war hier und Heiner, wir haben bis in
die Nacht gebüffelt. Ab heute ändert sich das alles.
Der enge grüne Pullover ist unter
den Achseln verfilzt, geschwärzt von Schweiß, der Hosenboden über
dem schmalen, harten Hintern ist blankgesessen auf den formlosen
Lederpuffs, die an einigen Nähten aufgeplatzt sind, als wollten sie
sich übergeben: die Mutter sieht es, während Senta, die Zigarette
zwischen den Lippen, in beherrschtem Winkel über der Couch
arbeitet, barfuß, denn ihr machen die rauhen Kokosfasern nichts
aus. Ob du's glaubst oder nicht, Mammi, vier Monate war ich nicht
beim Friseur.
Woher habt ihr denn das, fragt
die Mutter. Auf einem hängenden Regal, zwischen Stofftieren,
zwischen selbstgesammelten Muscheln und kleinen Messingglocken, die
von einem Pferdegeschirr stammen, steht ein Schnitzwerk, steht,
dreifarbig und wirkungsvoll koloriert, die Heilige Familie, ein
schmaläugiger Josef, eine breitwangige Maria, die fassungslos einem
betagten Jesuskind lauschen, das seinen Eltern etwas vorliest und
offensichtlich die Züge von Jan trägt: das scharfe Profil, die
ruhig fordernden Blicke und den weichen Mund, der den Blicken
widerspricht. Ach, das? Jans Lieblingsonkel ist hier gewesen, er
hat schon früher davon gelebt, du weißt, in Suwalki, und jetzt lebt
er wieder davon, über achtzig hat er in Hamburg verkauft. Deputat,
er sagte, dies Stück sei unser Deputat, weil er Jan als Modell
benutzt hat. Die Mutter schiebt den rostroten Vorhang zur Seite -
das also ist immer noch Sentas Zimmer: der klobige Schrank, der mit
jedem Raum einverstanden zu sein scheint, in den man ihn schiebt,
die zwischen Schrank und Fensterbrett eingeklemmte Couch, das
pendelnde Mobile, ungleich große Fische, die hoffnungslos
hintereinander her sind, der Transistor, und an der Wand Marcel
Marceau, der gleich einem Schmetterling das Leben zurückgeben wird.
Sie besichtigt das Zimmer auf eine Art, die weder Einverständnis
noch Vorbehalt deutlich werden läßt, es ist auch keine Neugier, die
die hochgewachsene, hellhäutige Frau mit den Sommersprossen an
Regalen und Couchen vorbeiführt, allenfalls der Wunsch, mögliche
Veränderungen zur Kenntnis zu nehmen, ganz für sich. Aber da ist
ein Zwischenraum.
Ich hab euch Blumen mitgebracht,
Senta, sagt sie gegen den Schrank, der einst ihrer Mutter gehörte,
und Senta, die sich den grünen Pullover über den Kopf zieht und
barfuß näherkommt: Wir haben nur eine Vase, Mammi, ich glaube, im
Badezimmer. Entschuldige, ich hab ein irrsinniges Programm: zum
Friseur und den Tisch bestellen, und für abends einkaufen, wenn die
andern kommen. Und baden. Kannst du das machen ? Senta zieht einen
Rock an, eine Bluse, angelt sich ein paar Schuhe mit hohen
Absätzen, kämmt vor dem großen Spiegel energisch ihr Haar durch,
wobei sie den Kopf schräg legt. Nein, Mammi, ich bedaure nicht, daß
ich das Studium aufgegeben habe, es genügt, wenn Jan das Examen
macht, uns beiden genügt es. Du weißt, er ist wie die Leute in
seiner Heimat: die machen alles mit Bedacht, sie sind nicht
zimperlich, wenn sie sich auf die nächsten Jahre festlegen, und
wenn sie sagen: erst kommt dies, und dann das andere, dann halten
sie sich auch an diese Reihenfolge.
Sie stürzt mit einem kleinen
Schrei ins Nebenzimmer, die Zigarette ist vom Aschenbecher
gefallen, der Glutklumpen hat dem selbstgebauten Nachttisch wieder
einen untilgbaren Fleck eingebrannt; Senta ist so aufgebracht
darüber, daß sie die Zigarette in die Küche trägt und sie unter den
Wasserstrahl hält: kurzes Aufzischen, das Papier schwärzt sich, die
Schwärze zieht bis zum Filter hinauf, die nasse Zigarette fliegt in
den vollen Abfalleimer. Senta dreht sich zu ihrer Mutter um, die
ihr die Tasche nachträgt, die die Tasche jetzt auf den Küchentisch
hebt. Sie legt ihre Handflächen von hinten auf die Oberarme ihrer
Mutter, drückt, drückt kräftiger, als wollte sie den breiten
Oberkörper zusammenschieben. Entschuldige, es hängt soviel davon
ab, alles läuft auf diesen Tag zu, es ist wie ein Nadelöhr: wenn
man sich erst durchgezwängt hat, wird's leichter. Es ist doch auch,
in gewisser Hinsicht, mein Examen. Ich
verstehe das doch, sagt die Mutter, und nun kümmre dich nicht um
mich: ich find mich hier schon zurecht, soviel hat sich ja noch
nicht verändert bei euch, in den vier Monaten. Mach dir was zu
trinken, Mammi. Ja, ja.
Da ist die Hängetasche aus Stoff,
dort auf dem Bord liegt die Sonnenbrille, jetzt nur noch ein Band,
ein Samtband, um das Haar zurückzubinden: ist der Spiegel
einverstanden? Senta drückt einen kurzen farblosen Wurm aus einer
Tube mit Feuchtigkeitscreme, sie zerreibt den Wurm zwischen den
Handballen und streicht kraftvoll über Stirn und Wangen. Sie
schiebt das Kinn vor, grimassierend, piranhahaft, saugt mit der
Unterlippe die Oberlippe ein, da fehlt etwas Karmesin, also stülpt
sie die Lippen auf, rundet sie, zieht den Stift vom Mundwinkel zur
Mitte, schmatzt trocken, bleckt die Zähne, schiebt vorsichtshalber
ein Tempotaschentuch zwischen die Lippen und drückt die Lippen
zusammen, die einen Abdruck auf dem Taschentuch zurücklassen. Nun
noch die Schweißperlen von der Nase tupfen, den Hals abreiben:
Stimmt es, Mammi, daß wir über 25 Grad Wärme haben? Na, ich geh'
jetzt, tschüß.
Wie kühl es im Treppenhaus ist, die Kühle
steigt vom
gefeudelten Linoleum auf, das die
Feuchtigkeit zu bewahren scheint. Sie sieht eine Treppe unter sich
eine Hand auf dem Geländer und einen blauen Ärmel; klatschend
greift die Hand höher und höher, gewinnt den Treppenabsatz, und nun
erkennt Senta eine Schulter, in die ein Lederriemen schneidet:
Warten Sie, Herr Paustian, ich komme. Nur eine Postkarte für Sie
heute, Frau Stasny. Nicht mehr? Das ist alles. Morgen, Herr
Paustian, Sie werden sehn, morgen. Geburtstag? Examen: mein Mann
macht heute das mündliche Staatsexamen. Herzlichen Glückwunsch. Es
hat vielleicht gerade erst begonnen. Ach so. Also, Jans
Lieblingsonkel drückt beide Daumen für das bevorstehende Examen, er
hat bereits ein Stück Holz unterm Messer, aus dem er für den
Kandidaten eine besondere Figur »erlösen« will, es soll ein
Geschenk sein, das er wegen seiner Gliederschmerzen allerdings
nicht selbst vorbeibringen kann; er wird es der Post anvertrauen.
Sie steckt die Karte in die Hängetasche, hüpft jetzt, die Tasche
schlenkernd am Arm, die Treppen hinab, begegnet im Eingang
ausgerechnet der mißmutigen Vogelscheuche, die ihren zweirädrigen
Marktkarren ins Haus bugsiert und auch diesmal nicht zurückgrüßt,
den Gruß vielmehr nur mit Erstaunen zur Kenntnis nimmt, was Senta
nichts ausmacht, da sie sich in den vierzehn vergangenen Monaten
daran gewöhnt hat, von ihrer unmittelbaren Flurnachbarin nicht
gegrüßt zu werden. Sie tritt hinaus in die Sonne, schließt die
Augen, hört Charles fragen - oder doch eine Stimme, die Charles
gehören könnte -; Was weißt du eigentlich über Wielands
Humanitätsbegriff?, und spürt gleichzeitig den Sog, als die heiße
Wand der Straßenbahn an ihr vorbeifahrt und den Staub aus den
Schienen fegt. Das Programm. Senta überquert eine
Hauptverkehrsstraße; da ist die Entstehung und Beherrschung
mannigfacher Bewegungen zu beobachten: schneller Antritt bei leicht
vorgebeugtem Oberkörper, verzögerter Schritt, der lang aus den
Hüften fällt, rasches ungefährdetes Schreiten, wiegendes Verharren,
um einen Laster vorbeizulassen, ein letzter Sprungschritt, der den
Bürgersteig gewinnt. Möbel-Marquardt, Tee-Müller, BlumenPreißler:
daß sie ihre Namen jetzt schon den Waren unterordnen, die sie
verkaufen; wenn einer nun mit Geflügel handelt und Krebs heißt?
»Zur Kachel« heißt das Lokal, eine ausgetretene Kellertreppe führt
hinab. Senta öffnet die Tür, schiebt eine braune Filzportiere zur
Seite: hier also will Jan mit ihr feiern, in einer dieser kühlen
Nischen, deren Wände mit Photographien von berühmten Kochen bedeckt
sind, denen »Die Kachel« Endstation einer Karriere war oder
Empfehlung zu steilem Aufstieg bedeutete. Auf jedem Tisch liegt
eine elektrische Klingel. Sie wünschen? Ein älterer Kellner, graue
Augen, fleischiges Gesicht, macht sie darauf aufmerksam, daß erst
um zwölfuhrdreißig geöffnet wird, sie hat es bereits gelesen, sie
will lediglich bestätigen, was ihr Mann mit dem Geschäftsführer
ausgemacht hat: einen Tisch für zwei Personen, auf den Namen
Stasny. Einen Augenblick. Der Kellner holt eine Kladde, legt sie
auf den Tisch, beugt sich über sie und beginnt unter leichtem
Schnaufen zu lesen; er trägt orthopädische Schuhe. Vor Sentas Augen
beginnen kleine rote Punkte auf- und abzusteigen, sie formieren
sich zu einer Spirale. Stasny, sagten Sie? Ja, da ist etwas
bestellt. Wir möchten gern etwas für uns sein, sagt Senta, wir
möchten etwas feiern. Selbstverständlich. Nummer Vier. Der Kellner
mustert sie mit freimütiger Gleichgültigkeit, es kostet sie Mühe,
seinen Blick zu ertragen, sie hat es nicht vor, doch sie sagt: Es
soll eine kleine Examensfeier werden. Nummer Vier ist reserviert,
sagt der Kellner und folgt ihr auf den fensterlosen Gang, am Büro
vorbei, aus dem jetzt der Geschäftsführer tritt und sich erkundigt,
ob alles zur Zufriedenheit steht. Der Kellner berichtet und blickt
auf Senta, und zum Schluß fragt er immerhin: Das medizinische
Examen? Germanistik, sagt Senta. Ach so.
Sie steigt die Treppe zur Straße
hinauf, die Sonne trifft ihr Gesicht. Was können Sie mir über die
naturwissenschaftliche Begrifflichkeit in Büchners Werk sagen? Wird
sie gerufen? Setz dich, Senta, sagt der Mann in den Reitstiefeln,
er verschwindet im Reisebüro, und die Schäferhündin setzt sich
dort, wo er sie angebunden hat, und beobachtet hechelnd die
Bühnenarbeiter, die aus einem Nebeneingang des Theaters
Dekorationen zu einem Lastwagen tragen. Das Theater geht auf
Reisen, vielleicht werden die Dekorationen auch nur ausgeliehen; zu
welchem Stück könnten sie gehören, diese weißen, zierlichen Möbel,
dieser lichte Wald, der kein deutscher Wald ist?
Senta wischt sich mit einem
Tempotaschentuch den Schweiß von der Oberlippe. Sie nimmt gehend
das zur Kugel eingerollte Einkaufsnetz aus der Hängetasche, liest
die mit Schlemmkreide auf das Schaufenster geschriebenen
Sonderangebote: Bulgarische Himbeeren, Geflügelklein, neue
Kartoffeln. Sie bleibt stehen und beweist, wieviel unerwartete
Gründe es gibt, stehenzubleiben: erschrocken wendet sie sich um,
hebt den rechten Fuß, blickt auf den Absatz, streckt den Fuß nach
vorn aus, eine kurze, kreisende Bewegung, dann geht sie weiter und
ins Geschäft. Guten Tag, Frau Stasny.
Beide sagen es, Feinkost-Grützner
und Feinkost-Sohn, gleich werden sie auf fettigen Messern Wurst-
und Käsescheiben zum Probieren anbieten, doch zuerst kommt die
Bekundung familiärer Anteilnahme, und das heißt, daß beide
sozusagen von Herzen ihrer Hoffnung Ausdruck geben, daß das Wetter
den Urlaub von Herrn und Frau Stasny nicht vermiest habe, worauf
Senta sagt, daß sie mit ihrem Mann noch nie verreist sei; da hat
man natürlich das Wetter für den ins Auge gefaßten Urlaub gemeint.
Wo ist denn der Zettel? Sie weiß, daß sie alles aufgeschrieben, den
Zettel in die Umhängetasche gesteckt hat - macht nichts, ich hab
alles im Kopf. Heiner und Charles trinken nur Bier, Jan hat am
liebsten Sprudel mit Korn - eine Flasche Doppelkorn, bitte. Sekt
ist wohl unumgänglich, sagen wir: drei Flaschen Sekt. Nein, keine
Familienfeier, mein Mann sitzt gerade im Examen. Danke, aber es ist
noch nicht bestanden. Ihm macht die Hitze nicht soviel aus. Liebe
Frau Stasny, sagt der Feinkost-Sohn, wir werden Ihre Examensfeier
würdig ausstatten; solch einen Satz kriegt der fertig, und da er
nun weiß, daß es insgesamt acht Personen sind, die Jan Stasny auf
gebührende Art feiern werden, erlaubt er sich Vorschläge zu machen.
Salzstangen, zum Beispiel, man knabbert doch gern etwas
zwischendurch. Oder hier, sehn Sie mal, diese Gürkchen im Glas.
Senta schüttelt den Kopf. Es soll nicht hoch hergehn, verstehen
Sie, und sie wird auch nicht lange dauern, die Examensfeier,
vielleicht anderthalb Stunden. Sie blickt auf die Schüsseln mit
Heringssalat, mit Majonnäse, mit ausgelassenem Fett, in dem die
Grieben wie Rostflecke sitzen. Da liegen, angequetscht,
Zellophanbeutel mit Geflügelklein; in dem blassen Rosa schimmern
gelbliche Flomenlappen. Hier die eingelegten Heringe im trüben Sud;
das Fleisch scheint flockig, scheint sich von den Rändern her
aufzulösen. Ein angeschnittener Schinken wirbt um Aufmerksamkeit,
schwitzende Dauerwürste machen sich bräsig, ziehen den Blick auf
sich. Vielleicht etwas Käse? Selbstverständlich.
Senta bekommt ihren verlorenen
Blick - so nennt es Jan, wenn sich ihre Lider zusammenziehen, wenn
der Mund aufspringt, und sie eine Hand mit gespreizten Fingern an
den Hals legt. Ein unerklärlicher Druck, eine rätselhafte Stauung
machen sich bemerkbar. Senta versucht diese Beanspruchung durch
Schluckbewegungen auszugleichen und netzt ihre Lippen, um den
säuerlichen Geschmack loszuwerden. Wie bitte? Sie hat die Frage
nicht verstanden. Sie dachte daran, daß Jan in seiner eigensinnig
planenden Art ein Hotelzimmer für diese Nacht bestellt hat - sie
konnte es ihm nicht ausreden -, und daß sie nach der kurzen
Examensfeier die Freunde allein lassen und ins Hotel ziehen werden.
Auch ein Beutel Salzmandeln, ja. Schließlich, in den letzten Tagen
merkte sie, wie sehr sie sich selbst darauf freute, nicht allein
deswegen, sondern weil das Examen dann hinter ihnen liegen würde,
das ihm - sie hatte es längst herausbekommen - einfach wegen der
geringen grammatikalischen Fehler bevorstand, die er immer noch
machte.
Der Feinkost-Sohn,
glattgekämmtes, pomadiges Haar, zwei Fingerkuppen unter Pflaster,
stellt die Waren zusammen, nimmt Sentas Blick eilfertig auf und
verlängert ihn zu Regalen und Vitrinen: noch Mixed Pickles? Oder
Paprika? Oliven vielleicht, die lassen sich doch immer gut an?
Danke. Oliven. Woher der sich seine Sprache besorgt hat. Auf die
Frage, ob Senta die Ware auf dem Rückweg mitnehmen dürfe, schiebt
er eine Schulter nach vorn und sagt: sehr wohl, aber gewißlich,
Frau Stasny, dann bis gleich. Er sieht ihr auf eine Weise nach, als
ob er sich überlegte, wofür er sich entschuldigen könnte. Rasch
über die Straße, es ist noch grün. Senta geht allein an den
wartenden Autos vorbei, die von der Hitze belagert werden; sie
spürt, wie man über sie herfällt mit Blicken, wechselt die Gangart,
hüpft jetzt, hüpft schwerfällig, es läßt sich nicht wie gewünscht
gehen unter den Blicken, und sie lächelt in eine Windschutzscheibe
hinein, die ganz undurchsichtig ist vor hartem Glanz, und springt
bei Rot auf den Bürgersteig. Die ersten drei Monate hatten sie noch
gemeinsam studiert, dann war es Jan, der davon anfing, daß einer
das Studium aufgeben sollte; und als er das sagte, wußte sie, wen
er meinte. Und hier vor dem Geschäft, in dem Bilder gerahmt,
Spiegel angefertigt werden, vor dem Fenster, in dem sehr
unterschiedliche Rahmen auf Gesichter und Landschaften warten,
erinnert sie sich, wie sehr Jan in der ersten Zeit das Zeremoniell
der Heimkehr genoß - er wollte erwartet, er wollte begrüßt und
ausgefragt werden, und sie konnte ihm ansehen, wieviel Freude es
ihm machte, seine Abwesenheit zu belegen: Und dann bei Jäger Sturm
und Drang, heute der Schafschur, du weißt schon, oder heißt es
»Die Schafschur«? Neben der Kunstglaserei
liegt der Friseurladen, über beiden Geschäften stehen dieselben
Namen - vielleicht Brüder, vielleicht gelingt es ihnen, Hand in
Hand zu arbeiten, denkt Senta und wird von einer mißmutigen Stimme
gleich beim Eintritt aufgefordert, die Tür offenzulassen. Sie
wartet vor der Kasse, horcht zu den Kabinen hinüber, in denen
elektrisches Licht brennt; Senta ist angemeldet. Das muß sie dem
Mädchen bestätigen, das in sehr kurzem, verwaschenem weißem Kittel
rückwärts aus einer Kabine tritt und sagt: Wir können nur
angemeldete Kunden bedienen. Nur waschen und legen und etwas
kürzen. Nehmen Sie Platz. Senta beobachtet im Spiegel die junge
Friseuse bei ihrer Arbeit an einer breitnackigen, rotangelaufenen
Frau, ihr mißmutiges Hantieren mit Kamm und Wicklern, ihre
Ausdauer, mit der sie sich selbst im Spiegel begutachtet, sobald
sie der Kundin nahelegt, aufzublicken. Unter dem verwaschenen
Berufskittel trägt die Friseuse nur Büstenhalter und Schlüpfer.
Warum macht sie das, denkt Senta, warum bleicht sie sich in ihr
braunes, schweres Haar silberne Strähnen ein? Jetzt treffen sich
ihre Blicke im Spiegel, ein kurzes Messen, ein Abfragen und
gegenseitiges Taxieren, dann greift die Friseuse in ein Schubfach:
Möchten Sie eine Zeitschrift?
Senta blättert in der
Zeitschrift, während die Friseuse spreizbeinig hinter ihr arbeitet,
während sie von der Seite ihren kleinen, weichen Bauch gegen die
Ellbogen drückt, während sie das Haar kämmt, die Spitzen kappt.
Beide wollen nicht miteinander sprechen, vielmehr scheint ihnen
daran gelegen, durch beharrliches Schweigen auf die eigene
Überlegenheit hinzuweisen, man hat sich erkannt, man möchte sich
gegenseitige Ablehnung fühlbar werden lassen, nicht überdeutlich
natürlich. Befallen von Mattigkeit, umgeben von aufdringlichem
Wohlgeruch schließt Senta die Augen, rote Punkte schweben durch die
Dunkelheit, leicht wie Ascheflocken: was behauptet die Zeitschrift?
Fernsehen am Bett begünstigt das Eheleben. Sie müssen sich weiter
vorbeugen, ganz übers Waschbecken, danke. Amerikanische
Wissenschaftler haben also nachgewiesen, daß gemeinsames Fernsehen
im Bett gefährdete Ehen wieder glücklich machen kann. Die Friseuse
stürzt Sentas Haar nach vorn ins Waschbecken und sagt gleichgültig:
Schließen Sie die Augen. Jetzt starrt sie auf meinen Nacken, denkt
Senta und spürt einen heißen Druck im Magen, als ob sie einen sehr
heißen Schluck Kaffee zu schnell hinuntergespült hätte. Sie kann
sich nicht entspannen.
Der rostrote Vorhang, der ihr
Zimmer vom sogenannten großen Zimmer abtrennt, schließt nicht ganz,
sie sieht das Bild der letzten Wochen, wie es sich von ihrem Bett
aus bot: Jan vor dem kleinen Rundtisch, nur zur Hälfte im genauen
Lichtkreis der Lampe, lesend, rauchend, hin und wieder einige Sätze
schreibend, von denen sie wußte, daß sie wortwörtlich abgeschrieben
wurden: Was ich geschrieben habe, ich behalte, sagte Jan zur
Erklärung seiner Methode. Er war damit einverstanden, daß sie ihn
abfragte, bis sie müde wurde, und sobald er entschieden hatte, wann
sie müde geworden war, brachte er sie in ihr Zimmer, rauchte eine
Zigarette an ihrem Bett und lüftete und kehrte wieder zu seiner
Arbeit zurück. Daß er Sprudel und Korn dabei trinken konnte! Wie
die Wissenschaftler herausgefunden haben, sind VarietéSendungen und
Liebesfilme besonders geeignet, bedrohte Ehen zu kitten; außerdem
bescheinigt eine triumphierende Statistik allen Ehepaaren mit
Fernsehen am Bett eine zunehmende Geburtenfreudigkeit.
Sie können sich aufrichten. Ein
warmes Handtuch legt sich auf Sentas Gesicht, durch den Stoff
hindurch fühlt sie die Finger der Friseuse, die über ihr Kinn
gleiten, über ihre Wangen; dann sammelt die Friseuse das nasse Haar
in einer Mulde des Handtuchs und trocknet es vor. - Wenn sie ihm
nur Gotisch ersparen und Althochdeutsch, oder wenn ich für ihn
antworten könnte, falls sie mit Ablautreihen anfangen. - Jetzt
kommt die Chefin, sie hat in dem privaten Hinterzimmer
gefrühstückt, hat sich ausgeruht, und bevor sie zu ihrer
persönlichen Kundin zurückfindet, die unter einer Haube leidet,
segelt sie an allen Kabinen vorbei, um mögliche Veränderungen
festzustellen: Ja, guten Tag, Frau Stasny.
Senta antwortet, während die
junge Friseuse mißmutig an ihr
weiterarbeitet, und auf einmal ist man beim
Ereignis des Tages. Nein, vorbei ist es wohl noch nicht, man wird
jetzt wohl mitten drin sein. Wie bitte? Das weiß ich nicht: ob mit
dem Examen alles geschafft ist. Jedenfalls herzlichen Glückwunsch,
sagt die Chefin, und Senta, ohne zu zögern: Danke.
Was erzählte Jans Lieblingsonkel? Das beste
Examen, das je an der amerikanischen Westküste gemacht wurde, fand
in einer Zuchthauszelle statt: ein betagter Doppelmörder, der als
Neunzehnjähriger seine Eltern umbrachte, weil sie ihm nicht
erlaubten, das Verhalten der Nachtvögel zu erforschen, machte unter
ungewöhnlichen Sicherheitsvorkehrungen sein Hauptexamen in
Ornithologie vor einer Prüfungskommission der Universität von
Kalifornien. Er bestand mit höchstem Lob und verzichtete
offensichtlich darauf, die prüfenden Professoren in Verlegenheit zu
bringen. In der Nacht nach dem Examen erhängte er sich.
Senta schließt die Augen, lauscht
auf die achtlose Geläufigkeit, mit der die junge Friseuse das Haar
behandelt, spürt den wohligen Druck der fremden Fingerkuppen auf
ihrer Kopfhaut. Eine scheue Männerstimme bietet etwas an,
wiederholt das Angebot: Postkarten. Da steht ein Kerl mit dünnem
Haar und den eiligen Augen des Gewohnheitstrinkers im Laden und
bietet Ansichtskarten an. Kein Bedarf, sagt die Friseuse, aber der
Mann hat längst Sentas Nachgiebigkeit erkannt und wartet. Geben Sie
mir sechs Karten, sagt Senta. Es ist Ausschuß, das sieht sie,
vielleicht irgendwo gestohlen, zur Not kann man sie dennoch
gebrauchen, also: sechs Karten, auf denen man, unter Umständen, die
Nachricht vom bestandenen Examen verbreiten kann.
Die Friseuse erscheint frostiger,
fast als ob der Kauf gegen sie gerichtet sei, ein Protestkauf, eine
Kampfansage, sie blickt nicht ein einziges Mal in den Spiegel. So,
bitte. Jetzt unter die Haube. Später steckt Senta die Karten in die
Umhängetasche, gibt der Friseuse ein Trinkgeld, das gleichgültig,
allenfalls mit angedeutetem Lächeln kassiert wird. Gezahlt wird bei
der Chefin an der Kasse. Dann steigt wohl bald die Examensfeier,
Frau Stasny? Bald, ja, aber ich muß noch eine Menge vorbereiten.
Bevor Senta auf die Straße tritt, schiebt und drückt sie geschickt
ihre Frisur zurecht zu gewohnter Lage, wischt sich den Schweiß von
den Nasenflügeln: zu Hause wird sie die Frisur endgültig
korrigieren. Ein heißer Wind geht durch die Straßen, schlägt ein
Knallgeräusch aus den Markisen vor den Schaufenstern heraus. Ihr
Rock wird hochgedrückt und klemmt sich zwischen den Schenkeln fest.
Tarn dich, Kleine, sagt eine bekannte Stimme, tarn dich und bedeck
dich, sonst holen dich die Haifische. Ach, Charles.
Und Charles, flachbrüstig,
bärtig, ein Riese, der vergnügt das Leiden der Welt zu tragen
scheint, bietet ihr an, von seiner Melone abzubeißen, die er aus
dem Gemüsegeschäft herausgetragen hat. Das einzige, was mich
erfrischt, Senta, sagt er, und kommt ihr in diesem Moment augenlos
vor hinter der nickelgefaßten Brille. Nein danke. Dein Alter
schwitzt jetzt wohl, sagt Charles; in diesen Breiten muß man sein
Examen im Februar machen, wie ich. Aber mach dir keine Sorgen: im
Grunde läuft alles darauf hinaus, auf blöde Fragen erstklassige
Antworten zu geben, und unser Jan wird's schaffen. Ich hab's euch
vorausgesagt.
Charles latscht mit hängenden
Schultern neben ihr her, schlägt seine Zähne in die Melonenscheibe,
erinnert Senta daran, daß es ihnen beiden beim Abhören nicht ein
einziges Mal gelang, Jan in Verlegenheit zu bringen. Du wirst
sehen: dein Alter bringt das Examen des Jahres nach Hause. Senta
strebt in den schmalen Schatten vor den Geschäften. Geht's dir
nicht gut? Du kannst mir helfen, das Bier nach Hause zu tragen, das
du nachher trinken wirst. Muß das sein?
Also zu Feinkost-Grützner, der
alles in zwei Pappkartons gepackt hat, was die Examensfeier erst
zur Feier machen soll; für Senta bleibt nur das Netz, das ihr noch
nie so schwer erschienen ist wie an diesem Tag. Da ist ein Schmerz
in der Schulter und im Ellenbogengelenk, und der verstärkte Griff
des Netzes in ihrer Hand brennt sich in die Haut ein. Nicht so
schnell, Charles, sagt Senta. Sie bleibt stehn. Sie lehnt sich an
einen Fahrradständer, bläst mit vorgeschobener Unterlippe über ihr
Gesicht. Es geht schon wieder.
Nebeneinander überqueren sie die
Straße, und im Hausflur setzt Senta sich auf eine Treppenstufe und
fordert Charles auf, die Kartons abzustellen, doch da er sie gerade
im Griff hat, wie er sagt, trägt er sie nach oben und stellt sie
vor der Tür ab. Sie hört ihn langsam herabkommen. Er sagt: Dir
scheint's wirklich mies zu gehn. Er sagt auch: Soll ich das Netz
raufbringen? Sie schüttelt den Kopf, zieht sich am Treppenpfosten
hoch, winkt Charles' Gesicht lächelnd zu sich herunter und küßt ihn
auf die Wange. Danke, bis nachher. Er bleibt stehn und beobachtet
Senta, während sie die Treppe hinaufsteigt, er wartet, bis sie den
Treppenabsatz erreicht hat, jetzt winken sie sich noch einmal
zu.
Zweimal muß sie den Schlüssel im
Schloß umdrehn, also ist ihre Mutter schon gegangen; dort auf dem
Küchentisch liegt ein Zettel. Sie legt sich auf die Couch, zündet
sich eine Zigarette an, liest den Zettel noch einmal und blickt auf
den Rauch der Zigarette, den die Zugluft flach wegreißt. Liegend
zieht sie den Rock aus, hebt ihn mit dem Fuß hoch; eine berechnete,
wischende Bewegung, und der Rock landet auf einem Lederpuff. Dies
fiepende Geräusch, wie wenn Luft stoßweise aus einem Schlauch
entweicht. Senta horcht auf das Geräusch, räuspert sich, hustet und
steht auf.
Können Sie mir Beispiele dafür
nennen, in welcher Form das klassische Motiv der Goldenen Kette in
der Literatur wieder aufgenommen wird? Senta geht ins Badezimmer,
zieht sich aus, angelt eine blauweiße Badekappe von der Brause
herunter, über die Jan lachen mußte, als er sie zum ersten Mal
damit sah, und später immer wieder lachte, wenn sie das Ding
aufsetzte: Weißt du, wie du aussiehst? Wie ein Seehund, der sich
als Husar verkleidet hat. Sie zwängt das Haar sorgfältig unter die
Kappe, stellt die Brause an, sieht die Kachelwand Glanz gewinnen
unter der scharfen Schraffur des Wasserstrahls, der stäubend auf
dem Boden zerspringt. Die Zigarette ist vom Rand der Seifenschale
herabgefallen, das Wasser schwemmt sie zum Abfluß, löst das Papier
und spült die Tabakfasern fort. Senta tritt unter den Strahl und
hebt die Arme. War das die Türklingel? Im Bademantel geht sie zur
Tür, öffnet; auf der Fußmatte liegt ein Blumenstrauß, ein Brief für
Jan ist angepinnt. Jetzt wird es Zeit; Senta zieht sich vor dem
großen Schrankspiegel an, rauchend, überlegend, wo sie zuletzt die
Beschreibung eines Mädchens gelesen hat, das sich vor dem Spiegel
anzieht. Sie hat das Gefühl, eine fremde Person nachzuahmen. Sie
kämmt und legt ihr Haar und bindet ein neues Stirnband um. So, wie
sie jetzt auf sich zutritt in dem hellgrünen Kleid, schmal,
hochhüftig, schwankend zwischen Skepsis und Einverständnis, hat es
das Mädchen im Roman auch getan, bevor es zur Gerichtsverhandlung
ging, um gegen ihren ehemaligen Lehrer auszusagen. Ich muß was
essen, vielleicht einen Apfel, wenn der nicht alles verschmiert.
Sie stellt den Transistor an, hört die letzten Takte von »Up, up
and away«, trägt den Transistor in die Küche, um die Kartons und
das Netz auszupacken.
Auf einmal hält sie inne, tritt,
zwei Flaschen in der Hand, auf den Flur, blickt auf das
Schlüsselloch, erkennt, daß da vorsichtig ein Schlüssel
hereingeschoben wird: es muß Jan sein.
Sie läuft in die Küche, stellt
die Musik lauter: sie wird ihn nicht gehört haben, sie wird sehr
überrascht sein. Ja? Jan, was ist: Ja oder Nein? Warum sagst du
nichts? Da kommt also Jan, schiebt sich blicklos an ihr vorbei, er
trägt sein Jackett unterm Arm, wirft die Kollegmappe auf den
Küchentisch. Sag doch, was ist? Er gibt nichts preis, sein Gesicht
verrät nichts, die dunklen Kalmückenaugen gestehen nichts ein, aus
seinen Gesten ist nichts zu erfahren. Wie läßt sich diese Ruhe
auslegen, mit der er den Küchenschrank öffnet, zwei Gläser
herausnimmt; was besagt sein Schweigen, das er nicht aufgibt,
während er die Gläser mit Sprudel und Korn füllt? Bestanden, Jan,
nicht, du hast doch bestanden? Er zwingt Senta ein Glas in die
Hand, tritt zurück, hebt ihr das eigene Glas entgegen und steht so
gegen das unerträgliche Licht und atmet seufzend aus. Also auf das,
was hinter uns liegt. Bestanden, fragt sie abermals, und er darauf:
Mit Auszeichnung! Jan trinkt mit zurückgelegtem Kopf, mit
geschlossenen Augen. Senta führt das Glas an die Lippen, sieht, wie
das Glas zittert, und stellt es schnell ab, ohne getrunken zu
haben. So, und nun kannst du mir gratulieren, sagt Jan, und sie
preßt sich gegen den gedrungenen Mann und will anscheinend nicht
aufhören, ihn auf eine Weise zu umarmen, die seinen Stand nicht
gerade leicht macht; fast sieht es so aus, als würge sie ihn von
vorn. Sie drückt ihn gegen die Platte des Küchentisches. Sie küßt
ihn. Jan schiebt sein Glas weit von sich. Ich freu mich, Jan, oh,
ich freu mich. Blumen sind schon für dich da. Er löst ihre Finger
in seinem Nacken, zieht sie nach vorn, und jetzt lächelt er: Alles
bereit für die Feier? Alles, sagt Senta. Dann komm, komm, du mußt
zuerst hören, wie es ging -
Sie sitzen auf den geplatzten
Lederpuffs vor dem kleinen Rundtisch, sie haben die Gläser
ausgetrunken und wieder gefüllt, sie halten sich bei den Händen,
als gelte es, etwas durchzustehn. Du hättest Jäger erleben müssen,
sagt Jan, er wollte es mir nicht leicht machen, er begann gleich
mit seinem Lieblingsthema: die deutsche Kritik. Lessing, fragt
Senta. Schlegel, sagt Jan, das heißt, doch Lessing, na, du weißt:
Schlegels Besprechung von Lessings »Vom Wesen der Kritik«; da
konnte ich ihm etwas erzählen. Geht's dir nicht gut?
Senta drückt ihre Zigarette aus,
sie steht plötzlich auf und geht zum offenen Fenster und preßt
gleich darauf ihre Hände auf ihren Unterleib. Senta? Ja, sagt sie,
ja. Sie hat Tränen in den Augen, als hätte sie ihr Gesicht in einen
kalten Wind gehalten. Es ist nichts, Jan, ich bekomm nur so schwer
Luft auf einmal. Trink etwas. Er reicht ihr sein Glas, sie trinkt
einen Schluck, setzt sich und sieht ihn fragend an: Und
Barockdichtung? Die ist gar nicht drangekommen; aber rat mal, wo
der alte Pörschke mich reinlegen wollte, nachdem ich Jäger sehr gut
bedient hatte. Na? In der Klassik, ich sollte ihm das Kunstideal
der Klassik beschreiben, und ich holte weit aus beim Sturm und
Drang, Natur- und Gefühlsschwärmerei, weißt schon, und wie die
überwunden wurden. Ich wußte gar nicht, daß Pörschke nur drei Worte
hören wollte, du hast sie mitgeschrieben damals in seiner
Vorlesung, aber ich kam nicht drauf, ich immer bloß von Schönheit
als Harmonie zwischen sinnlichem Trieb und dem Gesetz der Vernunft,
aber das war's nicht. Und auf einmal fiel mir ein, was du mir unter
der Brause sagtest, als du mich abgeseift hast, weißt du noch?
Bändigung, Formung, Normung. Du bist ganz blaß, Senta.
Senta springt auf, läuft zur
Toilette, sie schließt die Tür von innen ab, kniet sich hin und
legt die Arme auf den Rand des Beckens und übergibt sich. Ein
plötzlicher Schmerz im Hinterkopf, ein spannender Schmerz über den
Schläfen halten sie in kniender Stellung fest, ihre Augen tränen
heftig, der Druck läßt nach. Sie steht im Dunkeln auf und macht
Licht. Sie blickt in den Spiegel über dem kleinen Ausguß und spürt,
daß sie sich gleich wird wieder übergeben müssen. Das
Schwindelgefühl ist so stark, daß sie sich mit einer Hand am Ausguß
festhält, während sie sich mit der andern das Gesicht wäscht.
Senta, ruft Jan, was ist passiert? Sie antwortet nicht, spült
zuerst ihren Mund aus, dann öffnet sie die Tür. Du schwankst ja,
Senta, hast du Fieber?
Jan stützt sie und führt sie
langsam zur Couch. Er legt sie hin und hebt ihre Beine herauf. Es
tut mir leid, Jan, es tut mir so leid. Bleib nur liegen, sagt er,
ein paar Minuten, dann ist es vorbei. Es kommt wieder, Jan, ich
spür es. Was meinst du? Mir ist so schlecht. Jan steht rauchend vor
der Couch, in einer Hand ein Glas, er sieht, wie ein Schüttelfrost
ihre Haut aufrauht, hört ihren angestrengten Atem. Du kannst uns
doch nicht krank werden, sagt er, ausgerechnet heute; du willst
doch wohl kein Spielverderber sein. Es tut mir so leid, Jan. Er
setzt sich auf den Couchrand, stellt das Glas ab, legt eine Hand
auf ihre zuckende Schulter und glaubt auf einmal einen unbekannten
Ausdruck dieses Gesichts zu entdecken, einen Ausdruck schlimmer
Erleichterung oder Unterwerfung, und er fährt leicht, beinahe
andeutend über Sentas Gesicht, gerade so, als wolle er diesen
Ausdruck wegwischen.
Sie werden bald kommen, Senta. Es
tut mir so leid, Jan, aber es geht nicht, ich kann nicht. Soll ich
denn alles absagen? Du siehst doch, Jan: ich kann nicht. Sie wendet
sich ihm zu und sieht ihn schweigend an, und nach einer Weile steht
er auf, holt sein Jackett aus der Küche, geht zur Tür, und winkt
ihr zu, bevor er die Wohnung verläßt.
1969