Die Wellen des Balaton
Auch das Bad im Balaton erfrischt ihn nicht.
Er krümmt den Körper, taucht bis zum Hals hinab, schließt die Augen
vor dem Glitzern der bewegten Einöde. Der See ist zu flach, Judith,
sagt er, das Wasser erwärmt sich zu schnell. Die kleine Frau mit
den Sommersprossen stößt sich vom sandigen Grund ab, schnellt bis
zur Hüfte empor, wieder und wieder, und schmettert ihre Handteller
auf das Wasser, sodaß die Spritzer flach zu ihm hinspringen. Es
sind wieder zwei Busse angekommen, sagt sie, vielleicht sind sie es
- siehst du, Berti? Der Mann richtet sich auf, blickt zu dem neuen,
weißgrauen Hotel zwischen den alten Bäumen hinüber und entscheidet:
Keine deutschen, Judith, es sind keine deutschen Busse.
Als er, noch in nasser,
blasenwerfender Badehose, den Gepäckraum seines Autos öffnet, geht
der Hotelmanager vorbei, ein untersetzter Mann mit blauschwarzem
Haar, leise vor sich hinsprechend, in gezischten Worten, die wie
das immer schwächer werdende Echo einer Auseinandersetzung klingen.
Der Manager ist schon vorüber, da merkt er, daß er den
westdeutschen Gast in der Badehose gesehen hat, und er kehrt in
knappem Bogen zu ihm zurück und bietet ihm seine Hilfe an.
Gemeinsam tragen sie Badetücher, aufblasbare Gummimatratzen,
schwere Bademäntel, Kork-Badeschuhe, ein Reise-Necessaire, eine
Ledertasche und einige Illustrierte zum Seeufer hinunter, in den
Halbschatten eines alten Baumes, dessen freigewaschene Wurzeln wie
eßbar aussehen. Es scheint, sagt der Hotelmanager, heite der
Balaton will vorzeigen ganze Schenheit. Rauchen Sie, fragt der
Gast. Rauchend, ausgestreckt auf der Gummimatratze, sieht er seiner
Frau entgegen, die sich schiebend, drehend gegen den Widerstand des
Wassers zum Ufer hinarbeitet, eine blitzende Bugwelle vor dem
fettlosen Bauch. Der nahe Ufersaum blendet ihn, die ferne Küste
hinter dem künstlichen Bootshafen ertrinkt in blassem Karpfenblau.
Bevor die Frau aus dem Wasser steigt, schiebt sie zwei Finger unter
den Gummizug ihrer Badehose und zieht mechanisch den Stoff nach
unten, tiefer über die Schenkel. Nur zwei österreichische Busse,
sagt er, während sie sich unter dem seegrünen Frottiermantel aus
dem Badeanzug pellt, zuerst das Oberteil auseinanderhakt, dann die
Hose ringelnd nach unten abstreift und sie mit dem Fuß in den Sand
wischt. Bei dieser Strecke, sagt sie, ganz von Stralsund hierher,
da kann niemand pünktlich ankommen. Er hält ihr eine angerauchte
Zigarette hin. Er sagt: Es geht alles von unserer Zeit ab; statt
drei Tage können wir jetzt nur noch gut zweieinhalb Tage
miteinander sprechen.
Der Mann blättert in einer
Illustrierten, überschlägt mit lauschend erhobenem Kopf einige
Seiten; er lauscht zur vielbefahrenen, von den Bäumen abgeschirmten
Ufer-Straße hinüber; dort ist eine Steigung, dort müssen fast alle
Fahrer schalten. Er fragt gereizt: Riechst du es auch? Es ist das
hiesige Benzin, so mies wie ihre Streichhölzer. Sag bloß, du
riechst es nicht. Weißt du, was mir der Mann an der Tankstelle
sagte, als ich ihn auf die niedrige Oktanzahl hinwies? Er sagte:
Eine Oktanzahl wie bei euch werden wir erst unter dem Kommunismus
anbieten können. Versuch das mal zu verstehen, Judith. Trotz der
Badekappe ist der Saum ihres Haars naß geworden; vor dem ovalen
Handspiegel versucht sie es seufzend zu legen, zu bändigen, in die
gewohnte Form zu zwingen, die Füße im warmen Sand vergraben. Wie
ungeduldig er plötzlich die Ledertasche öffnet, kramt, sichtet,
eine Schachtel heraushebt, die gefüllt ist mit Photographien von
unterschiedlicher Größe. Er will sie nicht ansehen, er will sich
nur vergewissern, daß auch die eingepackt worden sind, auf die er
besonderen Wert legt. Da ist ein Photo mit aufgebogenen Ecken,
offenbar aus einem Album gelöst, alles in bräunlichem Licht: Sieh
mal hier, Judith, hier hast du Trudi und mich auf einem sogenannten
Holländer, sie muß etwa sieben gewesen sein damals: hat sie nicht
ein altes, wissendes Gesicht? Ich nehme an, sie wird kaum anders
aussehen, jetzt mit Vierzig.
Sie verkantet den Handspiegel,
sucht nicht mehr sich selbst, sondern beobachtet nur noch das Paar
an ihrem Wagen, das sich jetzt zunickt, eine Bestätigung gefunden
zu haben scheint. Judith erkennt, daß sie selbst erkannt worden
ist, von einer hochbeinigen Frau mit tiefen, mißbilligenden
Stirnfalten, die ihren Begleiter, einen schlaff wirkenden Mann im
Polohemd, zum Seeufer mitzuziehen versucht. Widerwillig fügt er
sich ihrem Drängen, hält sich hinter ihr bereit, ihr das erste Wort
zu lassen. Jetzt läßt Judith den Spiegel sinken, wendet sich dem
aufgestützt liegenden Mann zu und sagt hastig: Besuch, Berti; ich
fürchte, wir bekommen Besuch. Und nachdem der Mann sich mit
Verzögerung umgedreht hat: Das kann ja wohl nicht wahr sein, Berti,
weiß du, wer da kommt? Der »innere Rhythmus« persönlich - Frau
Schuster-Pirchala, meine Masseuse aus Bremen. Laß sie doch kommen,
sagt Berti.
Nach der Begrüßung - Judith nennt
ihren Mann ohne Hemmung Doktor Thape -, die anscheinend deshalb so
familiär gerät, weil man sich im Ausland begegnet ist, ziehen sie
von der Lagerstelle an einen grünen Gartentisch um, von dem die
Lackfarbe, die sich in Streifen aufwirft, allmählich abplatzt. Hier
sitzt es sich doch gemütlicher, sagt Judith, und vielleicht haben
wir sogar die Chance, einen Kaffee zu bekommen. Frau
Schuster-Pirchala, in eigentümlich gelassenem Abwehrkampf gegen
Insekten - »die bevorzugen mich wegen meines süßen Blutes« -,
lächelt skeptisch, sie ist jetzt drei Wochen in diesem Land
gewesen, sie weiß, daß nicht einmal zornige Erwartung einen Kellner
hier dazu bringt, mehr Wünsche zu beachten, als er gerade erfüllen
möchte. Wir sind auf der Heimreise, sagt sie, und sagt: Mein Mann
hat sich einen Jugendtraum erfüllt; am Ende hat er doch noch die
wilden Pferde der Pußta gesehen, nicht wahr, Erich? Wenn sie nur
Farbe hätten, sagt Berti, zieht dem Tisch geschrumpelte
Lackstreifen ab und schnippt sie ins Wasser. Ich meine, sagt er,
wieviel ließe sich unter Farbe verbergen, aber hier hat man sich
wohl ein für allemal für grau entschieden. Er beugt sich vor, um
das Nummernschild eines Busses zu erkennen, der knirschend auf dem
Kieselsplitt des Parkplatzes manövriert. Sind sie es, fragt Judith,
und er darauf: Wieder ein »A«, und nach einer Weile, beiläufig, als
glaubte er den Landsleuten eine Erklärung schuldig zu sein: Uns
steht nämlich ein Wiedersehen bevor - mit meiner Schwester und
ihrem Mann. Weil es nicht anders ging, haben wir uns hier am Ufer
des Balaton verabredet. Sie kommen mit dem Bus aus Stralsund. Ist
das nicht DDR, fragt Frau Schuster-Pirchala und winkt erfolgreich
einen vorbeihastenden Kellner heran, der auch gern bereit ist,
Kaffee zu servieren, wenn auch nicht hier am Wasser, sondern nur,
wie er sagt, »auf Terrasse an der Sonne«. Die Masseuse und ihr Mann
fühlen sich auf den Kaffee angewiesen, sie verabschieden sich, man
wird sich gewiß beim Abendessen sehen; dann gehen sie
hintereinander die leichte, lichtgesprenkelte Erhebung zum Hotel
hinauf. Wieder auf der Luftmatratze, hebt Judith die Schachtel mit
den Photographien zu sich hinüber, stürzt einzelne, mit
Gummibändern zusammengehaltene Päckchen heraus. Vorsicht, sagt
Berti, bring sie mir nicht durcheinander. Sie löst das Gummiband
von einer Serie, läßt die Photographien wie Spielkarten durch die
Hände gleiten, sieht sich fest, schiebt die Bilder mit dem Daumen
weiter, blättert überraschend zurück. Es wird mir schwerfallen,
Trudi zu duzen, sagt die Frau plötzlich; im Brief ist es eher
möglich, aber wenn sie erst vor mir steht... und noch schwieriger
wird es bei Reimund - von ihm weiß ich nur, daß er Schiffsausrüster
ist und seinen Namen in ziemlich steiler, sparsamer Schrift
schreibt. Du wirst sehen, sagt Berti, er ist ein Prachtbursche;
schließlich hat meine Schwester seinetwegen das Studium aufgegeben
und ist Kindergärtnerin geworden. Aber warum hat er in all den
Jahren nie mehr in einem Brief geschrieben als seinen Namen, fragt
die Frau leise und steckt ein Sortiment von Bildern zusammen,
sorgfältig, als könnte ein Vergleich ihr den benötigten Aufschluß
bringen. Sie vergleicht die Photographien, deckt da etwas ab,
schiebt da etwas zusammen, und dann fragt sie: Ist dir schon
aufgefallen, daß Trudi auf keinem der Bilder lächelt, die sie uns
in all den Jahren geschickt hat? Muß sie das denn, fragt der Mann,
und die Frau darauf, in aufzählender Tonart: Hier im Garten nicht;
hier vor dem Leuchtturm nicht - ich nehme an, das ist ein
Leuchtturm mit dieser grünen Mütze -, nicht mal hier an Bord des
Dampfers, den Reimund vermutlich ausgerüstet hat. Ich weiß nicht,
Berti, aber ich hab das Gefühl, verwandte Fremde zu treffen. Ihr
entgeht nicht die immer gleiche, unbestimmbare Schmerzlichkeit in
Trudis Gesicht, der leichte Ausdruck von Abwehr, den sie für jeden
Photographen bereithält. Der Mann schlägt eine Illustrierte zu,
klopft eine Zigarette auf der Packung zurecht, grinst für sich und
sagt: Vielleicht wirst du gleich feststellen, daß Reimund keinen
Schlips besitzt, da er auf allen Photographien ohne Schlips
abgebildet ist. Wenn du mir schon so kommst, sagt Judith - ich
finde, daß der Mann deiner Schwester auf allen Bildern verkleidet
aussieht: ein Intellektueller, der unter die Proleten gefallen ist
und versucht, sich ihrer Mode anzugleichen. Hör doch auf damit,
sagt Dr. Thape, ich möchte viel lieber wissen, was auf den
Gedenksteinen vor all diesen Bäumen steht, den frisch gepflanzten,
meine ich. Das kann ich dir sagen, Berti, es sind die Namen, die
Berufe und Verdienste der Leute, die man gebeten hat, diese Bäume
zu pflanzen: Dichter, Kosmonauten, durchreisende Mitglieder eines
Politbüros. Kein Kollege von dir, kein Patentanwalt. Ein
altmodischer Ausflugsdampfer, übersät mit verwaschenen Rostflecken,
dreht von der Pier ab und verabschiedet sich mit reichlich
wichtigtuerischen Signalen aus seiner neben dem Schornstein
liegenden Sirene. Judith erschrickt, als die Kapelle zu spielen
beginnt. Dort hinter den Bäumen, in der hölzernen Orchestermuschel,
haben die Musiker Platz genommen und spielen zum »Tanz im Freien«.
Sie eröffnen mit »Blue Moon«. Sittsam schieben die Paare über die
runde, hölzerne Tanzfläche. Die Männer, sagt Judith, sieh dir die
Männer an: alle mit Schillerkragen wie dein Schwager Reimund. Was
meinst du, ob er auch tanzt? Herrgottnochmal, Judith, woher soll
ich das wissen: ich kenne ihn ebenso gut wie du, nämlich von seiner
Unterschrift und dem immer gleichen Schnörkel, in den er seinen
Namen auslaufen läßt. Außerdem sind wir ja nicht hierher gefahren,
um miteinander zu tanzen. Und gereizt sagt der Mann: Du wirst
sehen, der erste Tag geht vorbei, ohne daß wir miteinander
gesprochen haben. Dann bleiben uns nur noch zwei Tage, denn am
Montagabend... Mußt du in Wien sein, setzt Judith den Satz fort.
Nach dreizehn Jahren, sagt der Mann, da hat sich genug angestaut,
das wegerzählt werden muß.
Obwohl sie hier gern noch liegen
bleiben möchte im wandernden Schatten des alten Baumes, hilft sie
ihm dann doch, die gesamte Badeausrüstung zum Auto zu tragen, und
begleitet ihn ins Hotel zu dem weiträumigen, kostbar möblierten
Empfang. Mädchen in knapp geschnittenen blauen Uniformen, nicht nur
nach Sprachkenntnissen und Schönheit, sondern offenbar auch nach
besonders eindrucksvoller Lethargie der Bewegungen ausgesucht,
beraten längere Zeit blickweis, welche von ihnen dem westdeutschen
Gast zu dieser Zeit eine Auskunft geben sollte, Hören Sie, sagt Dr.
Thape, ich möchte Sie um etwas bitten: falls der Bus aus Stralsund
eintrifft, würden Sie uns dann freundlicherweise eine Nachricht
geben; wir sind jetzt auf unserem Zimmer. Das Mädchen nickt
bedächtig. Schon auf der Treppe, sagt Judith: Ist dir klar, daß sie
uns überhaupt nicht nach der Zimmernummer gefragt hat?
Die Frau spült und wringt die
Badeanzüge aus und hängt sie unter dem Fenster zum Trocknen auf und
setzt sich so, daß sie den kleinen, belebten Hafen überblickt,
während der Mann einen Polsterstuhl ruckend in die Stellung bringt,
aus der er ein Stück der Uferstraße - nur als grauschwarzes,
blinkendes Band erkennbar - und die
Auffahrt zum Hotel beobachten kann. Er blättert abermals die
Illustrierte durch, heftig, unkonzentriert, mit einer reißenden
Bewegung, daß es jedesmal ein Geräusch gibt wie von einem
schwachen, aber immer noch genauen Peitschenschlag. Unter einem
wachsenden Druck, den er selbst noch nicht benennen möchte, hat er
für alles nur Vorwurf übrig, oder doch vorwurfsvolle Nachfrage. Was
machst du da eigentlich, fragt er, obwohl die Frau sich beinahe
regungslos und vollkommen lautlos verhält. Ich wundere mich über
Trudi, sagt Judith, wenn sie den Kopf nur etwas schräg legte, dann
wäre die vernarbte Wange nicht zu sehen. Trudi aber scheint darauf
zu bestehen, sie dem Photographen zu zeigen, und zwar jedesmal. So
ist Trudi eben, sagt der Mann, sie möchte keinen im Zweifel lassen
über sich. Was meinst du, mit welchen Worten sie uns zum ersten Mal
von Reimund erzählte? Es war wenige Tage, bevor ich fortging;
Mutter lebte noch; wir saßen und hörten Radio, weil Mutter so gern
Radio horte, Volkslieder aus dem Osten vor allem; da kam Trudi nach
Hause, sehr spät für ihre Verhältnisse. Sie hatte Reimund
kennengelernt. Sie sagte etwa: Entschuldigung, daß ich so spät
komme, ich habe einen Mann namens Reimund Wolters kennengelernt, er
hat zweieinhalb Jahre gesessen wegen bedenkenloser Vergeudung
volkseigener Schiffsausrüstungsbestände, inzwischen wurde er
rehabilitiert: ein Mann, mit dem man reden kann. Komisch, sagt
Judith, auf den Bildern macht er ganz und gar nicht den Eindruck,
als ob man mit ihm reden könnte. Sieh dir nur an, wie düster dein
Schwager hier aussieht, wie schweigsam und verkniffen - hier, am
Gartenzaun -, und dazu die zusammengewachsenen Augenbrauen... Nun
mach aber mal Pause, Judith; was meinst du, zu welchen Ansichten
ich über dich kommen müßte, wenn es von dir nur die Photos gäbe,
die du erst gar nicht entwickeln läßt. Jedenfalls, sagt die Frau,
wür dest du von mir nicht sagen können, daß ich aussähe wie eine
Kommunistin. Sieht er denn etwa so aus, fragt der Mann, und dann
fast anklägerisch: Wie sieht denn überhaupt ein Kommunist aus?
Falls du das weißt, dann bist du wirklich die einzige, die das
weiß.
Knapp aus dem Handgelenk feuert
er die Illustrierten fort; sie rutschen über den Tisch und fallen
zu Boden. Komm, Judith, laß uns etwas trinken. Sie gehen ins
Restaurant hinunter, es zieht sie zu den schweren Blumenkübeln
neben einer Säule, ein junger Kellner folgt ihnen träge, und kaum
haben sie sich gesetzt, da fragt er in vertrauensvollem Ton,
offenbar bemüht, frische Erfahrungen auszuspielen: Whisky? Zwei
Whisky, die Herrschaften? Dr. Thape bestellt eine Flasche Wein; er
fügt hinzu; Von dem, der hier am nächsten wächst. Da, Berti, sieh
mal! Was denn nun schon wieder? Der »innere Rhythmus«, und wie er
sich verkleidet hat! Frau Schuster-Pirchala und ihr Mann betreten
das Restaurant, sie in einem rosafarbenem Abendanzug mit einem
Gürtel aus übereinanderliegenden goldenen Blättern; ihr Mann, einen
Kopf kleiner, trägt zu weißen Hosen ein weinrotes Klubjackett, dem
in der Herzgegend ein kolossales Wappen aufgestickt ist.
Hoffentlich entdecken sie uns nicht, sagt Judith; da ist es schon
geschehen, da wedelt die Masseuse ein freudiges Erkennungszeichen
herüber, stubst ihren gleichgültigen Mann an und befiehlt die
Richtung: dorthin, zu den Blumenkübeln. Ich hoffe, Sie haben nichts
dagegen, wenn wir uns zu Ihnen setzen. Herr Schuster oder Pirchala
blickt so konzentriert in sein Weinglas, als habe er da etwas zu
erforschen, was seine ganze Aufmerksamkeit beansprucht, und er tut
es auf beinah leidende Art immer dann, wenn die drei musizierenden
Zigeuner wieder mal an ihren Tisch herantreten. Die Masseuse
lächelt ihnen zu, sie steckt dem Geiger einen lappigen Geldschein
unter die Schärpe und darf sich einen Titel wünschen. Diese Leute,
Herr Doktor, sagt sie später, haben alle ihren inneren Rhythmus
bewahrt, und das ist es, worauf es ankommt; deshalb können sie
sogar dem Kommunismus Heiterkeit abtrotzen. Sie blickt unmutsvoll
auf ihren Mann, der zusammengesunken in schlechter Haltung dasitzt;
das Wappen erinnert Judith an die Markierungssprache von Jägern:
hier liegt die günstigste Stelle für einen Blattschuß. Erich
richtet sich auf, drückt das Kreuz durch und lächelt resigniert;
gleich wird sie ihn auffordern, über den inneren Rhythmus der
Männer zu sprechen, die sich um die wilden Pferde der Pußta kümmern
und mit denen sie am Feuer saßen und sangen und Kaffee tranken.
Plötzlich springt Dr. Thape auf und ruft: Das müssen sie sein,
Judith, das sind sie!
Der Mann läuft mit schwingenden
Schultern auf die Eingangstür zu, wo sich ein Pulk neuer Gäste
staut, rötliche, ermüdete Gesichter, die skeptisch und neugierig
zugleich das Restaurant begutachten - eine Umgebung, zu der man
verurteilt worden ist, in der man sich wird einrichten müssen; und
wie lange sie zögern und es einfach nicht wagen, sich allein an
einen der freien Tische zu setzen, obwohl da kein Oberkellner und
kein Reiseleiter auftaucht, der ihnen sagt, wo sie Platz nehmen
sollen! Da sind sie, sagt Judith leise, meine Schwägerin und ihr
Mann. Und die Masseuse darauf: Wie lange haben Sie sich nicht mehr
gesehen, Frau Thape? Nie, wir haben uns noch nie gesehen, nur auf
Photographien; es ist das erste Mal. Dort die Dame mit dem
unzeitgemäßen Hut, fragt Frau Schuster-Pirchala. Neben dem Mann mit
dem Schillerkragen, bestätigt Judith.
Dr. Thape umarmt freimütig und
etwas ringerhaft seine Schwester - gerade so, als wollte er an ihr
einen Ausheber probieren -, umarmt dann achtsamer seinen Schwager,
der leicht zu versteifen scheint, doch mit gutmütigem Lächeln sagen
möchte: Wenn's sein muß; hoffentlich geht's gut.
Am Tisch erwartet Judith stehend
die Verwandten; zur Begrüßung nimmt sie beide Hände Trudis und
streift leicht ihre Wange; Reimund im Schillerkragen erhält einen
kraftlosen Händedruck. Und das hier, sagt Judith süßsauer, sind
gute Bekannte aus Bremen, die wir hier zufällig getroffen haben,
Herr und Frau Schuster-Pirchala. Man schüttelt sich über dem Tisch
die Hände. Ja, wie machen wir das nun, sagt Dr. Thape in der
Hoffnung, die Bremer Bekannten würden sich in innerem Rhythmus
verabschieden, hier gibt es nur fünf Stühle. Nehmen Sie doch einen
vom Nebentisch, sagt die Masseuse und widmet Reimund, durch nichts
begründet, ihr offenherzigstes Lächeln. Sie werden Durst haben,
sagt Judith, sie werden Hunger haben; sie werden erschöpft sein
nach so langer Fahrt; du mußt gleich für sie sorgen, Berti. Es geht
schon, sagt Trudi, nur ein bißchen heiß war es zuletzt. Trudi setzt
den Hut ab, schüttelt das Haar aus, zieht den verknitterten Rock
über die Knie und winkt knapp einem älteren Ehepaar zu,
Mitreisenden offenbar, Tja, sagt sie, da wären wir also; etwas
spät, aber das liegt nicht an uns. Was glaubst du, Reimund, fragt
Dr. Thape, was wäre das beste für den ersten Durst? Bei uns steht
das fest, sagt Reimund: Trudi ein Bier, ich zwei Bier - so einfach
ist das. Er mustert die fremde Frau, ihren Goldblattgürtel, die
goldfadendurchwirkte Tasche; er spürt, daß sie sich mit ihrem
Lächeln das Recht zu einer Frage erkaufen möchte, und um ihr
zuvorzukommen, fragt er. Bleiben Sie länger in Ungarn? Wir sind auf
der Heimreise, sagt Frau Schuster-Pirchala, und erzählt dann
ungefragt, wie es ihrem Mann gelang, in drei Wochen einen
Jugendtraum einzulösen.
Daß sich am ersten Schluck auf
das Wiedersehen auch dies fremde Paar beteiligt, will Dr. Thape gar
nicht schmecken; aus totem Winkel gibt er seiner Frau auffordernde
Signale, die sie nur mit unschlüssigem Heben der Schultern
beantwortet. Jedenfalls erkennt sie, daß er ihr die Verantwortung
zuschiebt für die unerwünschte Anwesenheit dieser Leute, und weil
sie jetzt nichts mehr daran ändern zu können glaubt, wendet sie
sich ab und sucht Trudis Blick. Ich hörte, daß Sie aus der DDR
kommen, sagt Frau Schuster-Pirchala; wie geht es heute in der DDR,
im allgemeinen? Reimund blickt ratlos Trudi an, die mit
ausgestrecktem Zeigefinger zartfühlend an ihrem Bierglas
entlangfährt, und dann sagt er: Aus der Art Ihrer Frage schließe
ich, daß Sie wissen möchten, ob es in der DDR immer noch
Streuselkuchen gibt; als Augenzeuge darf ich Ihnen versichern, daß
das der Fall ist. Ich fürchte, sagt Dr. Thape unduldsam, wenn wir
jetzt etwas zu essen bestellen, dann dürfte der Tisch für sechs
Personen zu klein sein. Dann rücken wir eben etwas zusammen, sagt
die Masseuse; mein Mann und ich brauchen sowieso kaum Platz, weil
wir nur einen Teller mit Rohkost bestellen. Wir, sagt Trudi, wir
können doch solange hinübergehen zu unseren Mitreisenden. Was
meinst du, Berti? So weit kommt das noch, sagt Berti, winkt
übellaunig einen Kellner heran und fordert ihn auf, die
Bestellungen anzunehmen.
Und wie geht's Vater, fragt Dr.
Thape über den Tisch. Trudi sieht ihren Bruder lange an, gerade so,
als hätte sie eigentümliche Schwierigkeiten, diese Frage zu
beantworten. Ich weiß nicht, sagt sie leise; manchmal habe ich das
Gefühl, er ist sehr alt geworden; manchmal glaube ich aber auch -
und das betrifft vor allem seine Haltung -, daß er wieder jünger
wird. Er läßt dich grüßen. In eine Pause sagt Frau
Schuster-Pirchala: Das ist durchaus typisch für alte Männer, in
einem bestimmten Stadium beginnen sie, fast übertrieben auf ihre
Haltung zu achten. Außerdem hat er Mutters Leidenschaft übernommen,
sagt Reimund, sowas von begeistertem Radiohörer hast du noch nicht
erlebt. Wir müssen den Kasten abstellen, sobald er eingeschlafen
ist.
Der Kellner irrt sich; er hat
fünfmal Karpfensuppe angeschleppt, obwohl nur vier Gäste sie
bestellt haben. Bekümmert blickt er auf den überzähligen,
dampfenden Teller, auf dem eine ebenmäßig gebogene Bauchgräte
leuchtet. Das tragen Sie mal zur Küche zurück, guter Mann, sagt
Frau Schuster Pirchala, worauf Judith lakonisch erklärt: Sie kann
hierbleiben, ich werde die Suppe essen. Laß sie nur mir, sagt Dr.
Thape, Trudi wird dir bestätigen, daß ich schon als Junge ganz
versessen auf Suppen war, was, Trudi? Sie machen sich wohl gar
nichts aus Suppen, Herr Schuster-Tschinschilla, fragt Dr. Thape,
und der Mann im weinroten Jackett strafft sich und sagt lächelnd:
Zuviele Suppen genossen, früher beim Militär, da hat sich Überdruß
eingestellt. Übrigens - mein Name ist einfach Schuster. Aber Sie
haben wohl nichts dagegen, fragt Dr. Thape, seinen Unwillen mühsam
bezähmend, wenn wir unsere Suppen hier so genüßlich vor Ihnen
löffeln? Nur zu, sagt Herr Schuster, und macht sogar eine
einladende Handbewegung, nur zu, mich stört's nicht. Die Masseuse
gibt dem Geiger der Kapelle ein Zeichen, der Mann nickt, er hat
verstanden; und noch bevor die Kapelle wiegend und gekrümmt
herankommt, fragt sie: Mit der Versorgung der Bevölkerung soll es
ja besser geworden sein, oder? Ich meine, in der DDR. Trudi verhält
sich, als sei sie gar nicht gefragt worden, und Reimund löffelt mit
vorgezeigtem Genuß die Karpfensuppe. Erst als die Masseuse sagt:
Man hat da schon von Engpässen gehört, sagt Reimund: Einen Engpaß
werden wir gleich hier am Tisch erleben, wenn das Hauptgericht
aufgefahren wird. Wir bringen Sie bestimmt nicht in die Klemme,
sagt Frau Schuster-Pirchala, wir bekommen nur klitzekleine
Rohkostteller. Herrgottnochmal, sagt Dr. Thape, ich hab das Gefühl,
hier zieht's. Was meinst du, Judith, wollen wir uns nicht einen
anderen Tisch suchen? Der große Ecktisch ist noch frei, sagt Frau
Schuster-Pirchala, da haben gut und gern acht Personen
Platz.
Trudi lächelt, bei geduldiger
Neigung des Kopfes, sie öffnet ihre Handtasche, findet gleich das
blaßgrüne, ältliche Etui, läßt es, mit Herrn Schusters Hilfe, ihrem
Bruder zuwandern: Vater schickt dir das, sagt sie, er bestand
darauf. Sieht ganz nach einer Uhr aus, stellt Frau
Schuster-Pirchala fest, und nun sehen alle zu, wie Dr. Thape das
Etui öffnet und eine Taschenuhr heraushebt. Na, bitte, sagt die
Masseuse; und vermutlich ist die Uhr auch nicht aufgezogen. Sorgsam
beobachtet Trudi alle Bewegungen ihres Bruders, registriert seine
Ungläubigkeit nicht weniger als seine Rührung und die etwas
nachsichtige Freude, und um Entschuldigung bittend fügt sie hinzu:
Das ist alles, mehr haben wir euch nicht mitgebracht, nicht
mitzubringen gewagt nach Judiths Brief. Wieso, fragt Judith,
welcher Brief? Du schriebst mal, daß ihr nichts zu entbehren hättet
und daß wir nichts schicken sollten, sagt Trudi ruhig. Du meintest,
all diese Dinge bei uns - nein, du hast sie
nicht dürftig genannt, aber darüber wollen wir jetzt nicht
sprechen. Die Uhr geht, sagt Dr. Thape, die Uhr geht einwandfrei;
und die Kette ist so dünn, daß man sie ohne weiteres durchs
Knopfloch ziehen kann. Hinter ihm setzt plötzlich die Kapelle ein,
er zuckt zusammen wie bei einer überraschenden Injektion, schließt
gequält die Augen und hält sie geschlossen, während er mit beiden
Händen die Uhr abdeckt, als wollte er sie schützen. Reimund ruft
ihm etwas zu, doch er versteht ihn nicht.
Auf Reimunds Teller ist ein
beleidigt aussehendes Karpfenmaul zurückgeblieben, zu Trudis
Vergnügen steckt er einen Zahnstocher in das Maul, legt den Kopf
schräg und verkündet: Hygiene, der erste Schritt zur Revolution.
Man sollte sie nicht übertreiben, die Hygiene, sagt Frau
Schuster-Pirchala, die meisten Menschen wissen nicht, wie
lebensnotwenig die Körperflora ist. Da umschließt Dr. Thape
krampfhaft das Etui, legt sich zurück und sagt mit unheilvollem
Unterton zur Masseuse hinüber: Ihnen scheint wohl zu allem etwas
einzufallen. Frau Schuster-Pirchala ist verdutzt, sie sieht
betroffen ihren Mann an. Sie sagt: Ich verstehe nicht, warum Sie
sich so aufregen; die Hygiene ist wirklich... Dr. Thape unterbricht
sie ärgerlich, streift Judiths Hand von seinem Oberarm, klopft mit
dem Etui auf den Tisch und sagt gepreßt: Damit Sie es nun endlich
wissen, ich bin nicht von Bremen hierher gefahren, um mir Ihre
Ansichten über Körperflora anzuhören. Ich, wir sind hier, um -
falls Sie es noch nicht bemerkt haben - nach langer Zeit
Wiedersehen zu feiern. Ein Familientreffen, falls Sie nichts
dagegen haben. Berti, sagt Judith gedehnt und beschwichtigend, und
Frau SchusterPirchala, unter fast schmerzhaftem Protest: So hat man
mich noch nie beschuldigt, so aus heiterem Himmel! Wir saßen doch
eben gemütlich zusammen, und nun muß man sich das anhören! Wir
scheinen hier zu stören, Erich. Komm. Bitte, sagt Judith
einlenkend, mein Mann hat es nicht so gemeint, jedenfalls nicht so,
wie es klang, nicht wahr, Berti? Frau Schuster-Pirchala, in
düsterem Aufbruch: Das muß einem doch gesagt werden, daß man
unerwünscht ist, daß man eine Familienfeier stört, bist du fertig,
Erich? Die Bremer Bekannten entfernen sich grußlos und spähen nach
einem Tisch in äußerster Entfernung. Entschuldigt, sagt Dr. Thape,
aber ich konnte es einfach nicht mehr ertragen. Du warst sehr hart,
sagt Judith, du hättest es ihnen schonender beibringen können. Aber
das habe ich doch versucht, sagt Berti zornig, die ganze Zeit habe
ich deiner Masseuse beizubringen versucht, daß hier jemand fehl am
Platz ist. Kinder, sagt Reimund und mimt lippenleckend Vorfreude,
streitet euch nicht, dort kommt das Hauptgericht, ein
original-ungarisches Hirtengulasch.
Nun hebt Dr. Thape das
schweißglänzende Gesicht, er blickt allein Trudi an und hält ihr
sein Glas entgegen: Und jetzt, sagt er, wo wir ganz unter uns sind,
möchte ich noch einmal mit euch auf unser Wiedersehen anstoßen. Der
Kellner unterbricht ihn scheu, er bittet um Aufklärung, was nun mit
den beiden Rohkosttellern geschehen solle: Hier nix essen, fragt
er, und Dr. Thape, unwirsch: Dort hinten, sehen Sie, am Tisch neben
der Eingangstür - dort wird das Zeug erwartet. Köche und Kapellen,
sagt Reimund in langgestrecktem Genuß, solange es die hier gibt,
lohnt sich immer eine Fahrt nach Ungarn.
Judith entschuldigt sich, sie muß
zur Toilette, ihr Weg führt
sie zwangsläufig an dem Tisch vorbei, an dem
nun die Bremer Bekannten vor ihren Rohkosttellern sitzen. Trudi
beobachtet ihre Schwägerin, die dort an den Tisch herantritt und
sich hastig bespricht, vermutlich einzulenken versucht. Wißt ihr,
sagt Berti, ich habe mich so auf dies Wiedersehen gefreut, daß ich
schon die Stunden zählte, um die ihr euch verspätet habt. Und dann
drängen sich diese Fremdkörper hier herein. Prag, sagt Reimund, daß
wir uns verspätet haben, lag einfach daran, daß sich ein junges
Mädchen bei einem Aufenthalt in Prag selbständig machte - du weißt
schon. Sie traf sich dort mit so einem leichtfertigen Westler, der
sie vermutlich rausbringen wollte, hat man im Bus erzählt. Aber das
kann man doch verstehen, sagt Berti, und Reimund achselzuckend: Ich
weiß eben nicht. Vater, zum Beispiel, sagt Trudi, er kann es bis
heute nicht verstehen, daß du damals weggegangen bist, Er sagt, du
hast uns alleingelassen. Berti möchte etwas entgegnen, doch die
Zigeunerkapelle am Nebentisch, mit geprobter Leidenschaft
aufspielend, bescheinigt ihm sogleich die Unterlegenheit seiner
Stimme, er winkt ab, er verzichtet. Zum Kaffee muß man hier einfach
einen Pflaumenschnaps trinken; sogar Judith läßt sich dazu
überreden, sie, die sich in allzu höflichem Schweigen eingerichtet
hat, obwohl sie von Reimund angenehm enttäuscht zu sein scheint.
Also nun von Anfang an, Trudi, und ganz gemächlich - wie geht es
bei euch zuhause? Trudi blickt ihren Bruder an, hebt ratlos die
Schultern, da verhindern entweder Fülle oder Gewohnheit eine
schnelle Auswahl unter Erlebtem: Tja, Berti, was soll ich dir
darauf antworten? Das Haus steht, Vater ist gesund, in deinem
Zimmer wohnt seit einigen Jahren eine freundliche alte Frau, eine
Lehrerin aus Riga, die nie die Jalousien vor ihrem Fenster öffnet.
Reimund hält dem Kellner auffordernd sein leeres Glas entgegen.
Dann streicht er Trudi vergnügt über die vernarbte Wange und bittet
sie um Entschuldigung für die Unterbrechung. Also, wenn ich auf
eine so allgemeine Frage antworten sollte, sagt er, ich würde
zuerst das herausrücken, was zählt. Auf die Frage: wie geht's?
würde ich nur sagen: keine Ersatzteile. Und dann im einzelnen
begründen. Auf eine neue Dachrinne fürs Haus warten wir seit
anderthalb Jahren; auf einen Verteilerhahn im Badezimmer siebzehn
Wochen. Binderfarbe - du weißt, für den Außenanstrich des Hauses -
hat man mir vor vier Monaten versprochen, und auf eine ausziehbare
Bodenleiter warte ich mittlerweile schon so lange, daß ich sie mir
demnächst selbst bauen werde. Da haben doch viele schon, was sie
erfahren mochten, um sich selbst beglückwünschen zu können zur Wahl
ihres Aufenthalts. Na, sagt Berti, dafür sind eure Mieten erheblich
niedriger.
Sie beschließen, genauer, Dr.
Thape schlägt vor, aufs Zimmer hinaufzuziehen, da spricht sich's
ungestörter, da ist man unter sich - vorausgesetzt, Trudi, ihr
könnt euch solange von euren Leuten absentieren. Er übernimmt die
Rechnung, bittet lediglich um eine Quittung, und ein
außergewöhnliches Trinkgeld fördert die Bereitschaft des Kellners,
zwei Flaschen Wein aufs Zimmer zu bringen. Berti nimmt Trudis Arm,
Reimund hakt sich bei Judith ein: so schieben sie an den
Tischreihen vorbei zum Ausgang. Die Bremer Bekannten wenden sich
vorsätzlich ab.
Sieh mal, Trudi, sagt Reimund,
dies Zimmer ist nicht nur doppelt so groß wie unseres, es hat sogar
einen Schreibtisch, es hat einen Balkon und einige Polsterstühle
für liebe Gäste. Warum behandeln uns die sozialistischen Freunde
nicht ebenso zuvorkommend? Er entdeckt die Badehosen unterm
Fenster, er sagt: Ah, wie ich sehe, seid ihr schon in den Balaton
gestiegen; ein merkwürdiger See, und wißt ihr, warum? Bei keinem
Gewässer der Welt gibt es diese Unverhältnismäßigkeit von Wind und
Wellen, das heißt, die Wellen gehen hier sehr viel höher, als es
der jeweils herrschenden Windstärke entspricht. Judith läßt hinter
ihrem Rücken den Koffer zuschnappen und tritt vor sie hin mit zwei
original verschnürten Päckchen. Sie sagt: Wir haben euch ein
Geschenk mitgebracht, nur einige Kleinigkeiten; dies ist für dich,
Reimund, und das Viereckige für Trudi. Auf ein mißbilligendes
Kopfschütteln sagt Berti: Wir konnten es eben nicht lassen. Beim
Anblick der massiven, aus Weißgold gearbeiteten Manschettenknöpfe
sagt Reimund: So, Trudi, jetzt bist du gezwungen, mir das
entsprechende Hemd zu kaufen; doch die Frau wendet sich ihm nicht
zu, sie starrt regungslos auf den Armreif mit der eingelegten Uhr
und den sprühenden Steinen, als überlegte sie, ob es für sie
überhaupt eine Rechtfertigung gäbe, solch ein Geschenk anzunehmen.
Ach, Berti, ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll.
Alle drei Lampen des Zimmers
brennen, Berti läßt die Photographien wandern, Judith erläutert
ihrem Schwager die Lage und Beschaffenheit des Hauses im Bremer
Vorort. Und du mußt dir vorstellen, daß dies alles Weideland war,
vor nicht einmal zwanzig Jahren. Schön ist es, am Abend auf der
Terrasse zu sitzen und auf der Weser, nicht mal sehr fern, die
erleuchteten Schiffe vorbeiziehn zu sehen -, da mußt du glauben,
sie ziehen über die Wiesen. Vielleicht sind sogar einige dabei,
sagt Berti, die du ausgerüstet hast. Dann macht er die Verwandten
mit einer neuen Serie bekannt: Hier seht ihr nun das Haus von
innen: meine Hobby-Werkstatt, die Südansicht des Living-Rooms,
Judiths Schlafzimmer und dahinter ihr eigener Aufenthaltsraum. Und
für all das, fragt Reimund, habt ihr Handwerker, ja? Judith, sagt
Berti, sie tapeziert, malt, baut sich Regale zusammen - nur an
elektrische Leitungen traut sie sich nicht heran. Also das, was
Trudi bei uns macht, sagt Reimund. Während Judith Wein einschenkt,
sagt sie: Ihr müßt uns gleich eure Bilder zeigen, und Trudi darauf:
Bilder? Wir haben keine Bilder mitgebracht.
Über ihr Glas hinweg mustert
Judith ihre Schwägerin, prüfend, erstaunt auch, vielleicht um
herauszubekommen, was sie zwingt, Trudis Überlegenheit
anzuerkennen. Sie mustert ihre Kleidung: die Spangenschuhe, das
olivfarbene Kostüm, das zerknittert ist von der Reise, den Anhänger
auf dem Revers, der offenbar eine Hansekogge unter prallen Segeln
darstellt. Sie sagt plötzlich, obwohl sie ursprünglich etwas
anderes sagen wollte: Es freut mich, Trudi, daß dir die Sachen
gefallen, die ich dir so nach und nach geschickt habe - auch wenn
sie gebraucht waren. Es waren auch schöne Sachen, sagt Trudi, bei
uns kaum zu bekommen, sogar beim Roten Kreuz waren sie
erstaunt.
Reimund hat nichts dagegen, daß
Berti eine neue Flasche bestellen will, er gibt mit einer
Warum-nicht-Geste seine Zustimmung und nimmt eine voraufgegangene
Bemerkung auf: Du irrst dich - heute kann man nirgendwo mehr die
pure Freiheit wählen, sondern nur eine mehr oder weniger
umgängliche Bürokratie. Die nämlich befindet darüber, welche
Ersatzteile du bekommst, welche Aufstiegschancen du hast, in
wievielen Organisationen du aktiv sein mußt, um als
vertrauenswürdig zu gelten. Ich sage dir: eine bessere Bürokratie,
und die Exportfähigkeit des Sozialismus nimmt zu. Und ich sage dir,
Reimund: auch nach fünf Generationen Sozialismus werden die Leute
nicht aufhören zu verlangen, was er ihnen vorenthält, nämlich die
entscheidenden kleinen Freiheiten. Aber da wir uns nicht
gegenseitig überzeugen wollen, sollten wir die Politik aus dem
Spiel lassen. Der Kellner scheint die Rüge nicht verstehen zu
wollen, die Dr. Thape ihm dafür erteilt, daß er eine neue
Bestellung zu lässig ausführte. Er entläßt ihn blicklos, mit
gesenktem Gesicht, ohne ihm ein Trinkgeld zu geben. Immer noch
übelnehmerisch erkundigt er sich bei Judith, ob sie das Blitzlicht
bereit habe. Wenn ihr einverstanden seid, sagt er, möchten wir
jetzt einige Aufnahmen machen. Einzeln, paarweise, überkreuz
photographieren sie einander auf dem Zimmer, der aufflammende Blitz
blendet so stark, daß zumindest Judith fürchtet, sie werde auf
allen Bildern nur mit geschlossenen Augen zu sehen sein. Danach
sagt Dr. Thape: Das zumindest hätten wir. Und dann möchte er, nur
der Ordnung halber, fragen, wie lange Trudi und Reimund in Ungarn
bleiben werden. Vierzehn Tage? Leider, sagt er, muß ich am
Montagabend schon wieder in Wien sein.
Sie trinken einander zu. Und nun,
Trudi, sagt Dr. Thape, mußt du mir noch erzählen, was unsere kleine
Sonja macht, die Meisterschwimmerin, und Ralf, und Bruno von
nebenan. Trudi lächelt. Sonja, fragt sie - ihre jüngste Tochter
hält alle Rekorde über die Rückenstrecken. Sonja ist mit Bruno
verheiratet, der, soviel ich weiß, Richter geworden ist. Und Ralf -
er ertrank bei dem Versuch, die Ostsee im Paddelboot zu überqueren.
Bruno und Richter, fragt Dr. Thape skeptisch; und Trudi: Warum
nicht? Was sollte dagegen sprechen? Immerhin, sagt Berti, haben wir
zusammen die Schulbank gedrückt, und ich war oft genug bei ihnen
Zuhause. Sein Vater hatte doch immer Scherereien mit der Polizei.
Allerdings, sagt Trudi, aber sein Vater hatte diese Scherereien zur
richtigen Zeit.
Reimund gähnt, angelt sich sein
Jackett mit dem groben Fischgrätenmuster. Es ist nun mal so, sagt
er, alles färbt auf uns ab, die Dinge, die Ideen, die Verhältnisse,
so oder so, je nachdem, wo einer lebt. Er bittet um Entschuldigung
für sein Gähnen und erinnert daran, daß sie heute neun Stunden im
heißen Bus saßen, Trudi und er. Sicher hebt er den Hemdkragen übers
Jackett und streicht ihn glatt. Leider, lieber Reimund, bin ich
nicht ganz deiner Meinung, sagt Berti: auf die Blassen, die
Farblosen, da färben die Verhältnisse vielleicht ab, aber nicht auf
Leute, die sozusagen eigene Grundfarbe mitbringen.
Draußen auf dem Flur verhandeln
sie mit gedämpften Stimmen über den Zeitpunkt des gemeinsamen
Frühstücks; Reimund besteht auf neun, er droht, daß er völlig
unergiebig sei vor neun, also lassen sie es bei neun und geben
einander nur die Hand und winken sich noch einmal zu.
Während Berti sich unter
gespanntem Schweigen auszieht, raucht er die letzte Zigarette.
Judith sitzt auf ihrer Seite des Doppelbetts, erwartungsvoll wie
immer, um gemeinsam, wenn auch nicht den ganzen Tag, so doch die
wichtigsten Erfahrungen des Tages zu bilanzieren. Nach einer Weile
sagt sie: Eins steht fest, bei Frau Schuster-Pirchala kann ich mich
nicht mehr sehen lassen, nach allem. Pichalla oder Tschintschilla,
sagt Berti erlöst und in einer Bewegung innehaltend, du findest
zehn andere, die dich durchkneten. Wer hat sie nur ausgerechnet
heute hierher geschickt, diese Frau, die ja wohl die
Empfindlichkeit einer Straßenwalze hat? Ich bin immer noch der
Ansicht, sagt Judith, daß du sie anders hättest behandeln müssen.
Anders? Sie, die sich in eine Familienfeier drängt? Die sofort das
Wort nimmt und quasselt, als gehöre sie dazu? Vielleicht, sagt
Judith, vielleicht hat sie selbst Verwandte drüben. Ich begreife
einfach nicht; sagt Berti, wie du diese Nervensäge in Rosa in
Schutz nehmen kannst: sie hat mir die Stimmung für den ganzen Abend
vermasselt. Immerhin, sagt Judith, als ich sie am Wasser entdeckte,
da hast du mich gebeten, sie kommen zu lassen.
Sie liegen nebeneinander im Bett,
wie hergerichtet, jeder die rechte Hand unterm Hinterkopf, den
Blick zur Decke; nur die Nachttischlampe brennt. Es ist aber so,
sagt Judith, ich komme an Trudi einfach nicht heran. Und hast du
gehört, wie beiläufig sie mir zu verstehen gab, daß sie all die
Sachen, die ich ihr schickte - manchmal ohne dein Wissen - daß sie
all die Sachen zum Roten Kreuz trug? Das ist doch wohl nicht wahr,
sagt Berti, das hab ich gar nicht mitbekommen. Das ist typisch
Trudi; aber darüber reden wir morgen ein Wörtchen. Zum Frühstück
mußt du ihr die Uhr mitbringen, denn im Unterschied zu Reimund hat
sie ihr Geschenk prompt vergessen. Ich mag Reimund, sagt Judith
langsam, und du? - Er hat mich nicht ein einziges Mal gefragt, was
ich eigentlich tue, sagt Berti.
Dr. Thape im geblümten
Freizeithemd, Judith in ausge bleichten, aber gebügelten Shorts: so
kommen sie, Grüße murmelnd, die ausgelegte Treppe hinab, scheren,
bevor sie das Restaurant betreten, zum Empfang hinüber, wo neuere
Zeitungen und Illustrierte liegen. Ein lachender Junge in reichlich
zugemessener Portiers-Uniform - er scheint zu wissen, welch einen
Eindruck er in dem viel zu großen Anzug hervorruft - übergibt Dr.
Thape einen Brief; vom Ständer mit den Ansichtskarten sieht Judith
zu, wie ihr Mann den Umschlag aufreißt, liest, den Brief sinken
läßt, noch einmal liest und dann fassungslos nach ihr sucht. Sie
geht zu ihm, sie fragt: Aus Wien? Müssen wir abreisen? Von Trudi,
sagt er; hier, lies mal, du glaubst es nicht. Und, erregt und
geringschätzig zugleich: Es hat sich ihnen eine Chance geboten,
sehr früh heute morgen, die einmalige Chance, die letzten wilden
Pferde der Pußta zu sehen. Ein Ausflug nur, doch sie werden leider
nicht vor Montagabend zurück sein: Judith liest den Brief, hebt
dann langsam das Gesicht und sagt: Ein Vorwand, Berti, nichts als
ein Vorwand. Da ist etwas falsch gelaufen; ich weiß nicht, was es
sein könnte, aber etwas ist falsch gelaufen. Komm, laß uns ins
Restaurant gehen, wir können beim Frühstück darüber
sprechen.
1973