Fünftes Kapitel
Auf dem Rückweg zum Weißen Torso fühlte ich mich so unbeschwert wie den ganzen Tag nicht. Der Besuch in der Bibliothek war aufbauend gewesen, ein Wort, das eine gewisse Verbündete von mir gebrauchte, um Dinge zu beschreiben, die den Kopf klarer und das Herz froher machen. Ein Wurzelbier-Shake ist aufbauend, eine verschlossene Tür aufzubekommen ebenso. Hoffentlich, dachte ich, würde diese Verbündete meine Buchbestellung bei der Fourier-Filiale der Bibliothek bald in Händen halten und sich so unnötigen Ärger ersparen.
Mir sollte der Ärger nicht erspart bleiben, das sah ich schon von weitem, als ich zum Weißen Torso zurückkam, denn vor dem Hotel parkte ein Auto mit rotem Licht auf dem Dach. Es sah wie ein Polizeiwagen aus, aber beim Näherkommen stellte ich fest, dass es ein klappriger Kombi war, auf dessen Dach jemand eine Taschenlampe geklebt hatte. Nichtsdestoweniger standen zwei uniformierte Erwachsene vor den Stufen zum Weißen Torso, und auf den Stufen saß Theodora. Sie musste beim Reden zu ihnen aufblicken, und ihre Augen unter dem Haar wirkten ernst und besorgt. Ernsthafte Unterhaltungen, so war uns beigebracht worden, sollte man grundsätzlich nie aus einer Position heraus führen, in der man zu seinem Gesprächspartner aufblicken muss. Ich hatte es absurd gefunden, so etwas zum Lernstoff für Kinder zu machen, die per se kleiner sind als fast alle anderen, und das hatte ich auch gesagt. Zur Strafe hatte ich in der Ecke sitzen müssen. Der Lehrer sah von da noch größer aus.
»Snicket«, sagte Theodora, als ich das Hotel erreichte. »Das sind die Wachtmeister Mitchum.«
Die beiden Wachtmeister drehten sich nach mir um, und ich fand mich einem Mann und einer Frau gegenüber, die sich so ähnlich sahen, dass sie entweder Zwillinge oder schon sehr lange miteinander verheiratet sein mussten. Sie hatten beide birnenförmige Körper mit kurzen, dicken Beinen und sauertöpfisch gebogenen Armen, und beide wirkten sie, als hätten sie einen zu kleinen Kopf anprobiert und wollten den Köpfeverkäufer gerade um die nächstgrößere Größe bitten.
»Meine Frau und ich haben ein paar Fragen an dich«, sagte der männliche Wachtmeister Mitchum, anstelle von »Guten Abend« oder »Nett, deine Bekanntschaft zu machen« oder »Ich dachte, du hast vielleicht Hunger, deshalb habe ich mir erlaubt, dir ein paar Lammkoteletts mitzubringen.«
»Harvey«, sagte der weibliche Wachtmeister scharf. »Du sollst mich nicht als deine Frau bezeichnen, wenn wir im Dienst sind.«
Der männliche Wachtmeister seufzte. »Mimi, du bist meine Frau, ob wir im Dienst sind oder nicht.«
»Komm mir jetzt nicht damit«, fuhr seine Frau ihn an. »Ich bin ohnehin schon bedient. Du warst mit Spülmaschine-Ausräumen an der Reihe, Harvey, aber du hast es wieder mal vergessen, und es ist an mir hängen geblieben, wie immer.«
»Mimi, hör auf, an mir rumzunörgeln.«
»Ich nörgle nicht an dir rum.«
»Und ob du an mir rumnörgelst.«
»Harvey, sanft auf etwas hinweisen ist nicht nörgeln.«
»Das soll sanft sein? Da ist ja ein Rudel Wölfe sanfter.«
»Wo hast du denn schon mal ein Rudel Wölfe gesehen?«
»Wölfe nicht direkt, aber dafür musste ich oft genug mit zu deiner Schwester, und ihre Gören …«
Wenn zwei verheiratete Erwachsene zu streiten anfangen, das weiß sicher jeder, dann kann das Stunden dauern, wenn nicht sogar Tage, und die einzige Art, sie zum Aufhören zu bringen, ist bekanntlich, sie zu unterbrechen. »Sie sagten, Sie haben Fragen an mich?«, unterbrach ich sie.
»Wir stellen hier die Fragen«, sagte Mimi Mitchum. »Wir sind in Schwarz-aus-dem-Meer das Gesetz. Wir fangen die Verbrecher und setzen sie in den Zug in die Hauptstadt, damit sie dort weggesperrt werden. Wir sind im Bild über jede kleinste Kleinigkeit, die hier vorgeht, von den äußersten Außenbezirken dieser Stadt bis zum Saum des Klausterwaldes. Deshalb wird jeder Fremde, der hierherkommt, auch von uns begrüßt und nach dem genauen Zweck seines Besuches befragt.«
»Wir lieben Tinte«, behauptete Theodora.
»Mr Mallahan haben Sie gesagt, Sie lieben Leuchttürme.«
»Wir lieben alles«, erklärte Theodora mit verzweifeltem Lächeln.
»Damit will meine Mentorin sagen«, schaltete ich mich ein, »dass wir zwar dienstlich hier sind, aber dennoch hoffen, Zeit für einige der großartigen Sehenswürdigkeiten zu erübrigen, die dieser wunderschöne Ort zu bieten hat. Ich habe zum Beispiel gerade eben Ihre Polizeiwache bewundert.«
»Das Schild hat Harvey selbst aufgehängt«, sagte Mimi Mitchum stolz.
»Das stimmt«, sagte ihr Kollege, »wobei eine Sehenswürdigkeit, die Sie hoffentlich nicht bewundern werden, das Innere unserer Gefängniszelle ist. Allerdings mussten wir feststellen, dass kurz nach der Ankunft zweier Fremder in dieser Stadt eine Straftat verübt worden ist. Nur eine geringfügige zwar, aber Straftat bleibt Straftat.«
»Was ist denn passiert?«, fragte ich.
»Eine Straßenlaterne wurde mutwillig zerstört«, sagte Harvey Mitchum. »Gleich um die Ecke, bei der Bibliothek. Jemand hat einen Stein geschossen und die Birne zerschmettert. Wir sollten keine voreiligen Schlüsse ziehen, aber ich würde mich nicht wundern, wenn die Spur zu Ihnen beiden führen würde. Wo warst du während der letzten Stunde, Snicket?«
»In der Bibliothek«, antwortete ich.
»Kann das jemand bezeugen?«
»Dashiell Qwertz, der Bibliothekar.«
»Dieser Gammler«, sagte Mimi Mitchum abfällig. »Mir sind Menschen suspekt, die keine Zeit auf ihr Äußeres verwenden.«
»Ich hätte gedacht, er verwendet sehr viel Zeit darauf«, sagte ich. »Schon dieser Haarschnitt muss Stunden gekostet haben. Er und ich wurden von einem Jungen mit einer Steinschleuder unterbrochen. Qwertz nannte ihn Stew, glaube ich.«
Die Wachtmeister Mitchum betrachteten mich tadelnd, ihre Münder zu einem identischen Zähnefletschen verzogen. »Unser Sohn Stewart«, sagte die Wachtmeisterin, »ist ein Genie und ein Gentleman. Stew ein Straftäter, also wirklich! Wo er doch extra darum gebeten hat, mitkommen zu dürfen, um dich zu begrüßen.«
Sie zeigte zum Kombi hinüber, und erst jetzt sah ich in dem offenen Fenster Stews feixenden Katerkopf. Unter den Blicken der Erwachsenen nahm er von irgendwo ein breites Lächeln, das er sich mitten ins Gesicht pflasterte. »Grüß dich, Lemony«, sagte er mit scheinheiliger Stimme zu mir. »Ich freu mich immer, nette Kinder in meinem Alter kennenzulernen! Ich hoffe, wir werden Kumpels!«
»Siehst du?«, sagte Harvey Mitchum zu mir, während Stew mir von den anderen unbemerkt die Zunge herausstreckte. »Ein reizender Junge.«
»Ein absoluter Schatz«, sagte Mimi Mitchum. »Und neuerdings interessiert er sich auch so für die einheimische Vogelwelt.«
»Aus ihm wird garantiert mal ein herausragender Biologe«, sagte ihr Mann.
»Oder ein Arzt«, sagte seine Frau.
»Ein herausragender Arzt.«
»Natürlich, Harvey. Du weißt doch, dass ich herausragender Arzt meine. Du brauchst mich nicht so bloßzustellen.«
»Ich hab dich nicht bloßgestellt.«
»Warum stiehlst du mir dann mit solchen Bemerkungen meine Zeit?«
»Ich Zeit stehlen? Es hat keine zwei Sekunden gedauert!«
»Und was war der Zweck der Übung? Warum sagst du so etwas, wenn nicht, um deine Frau bloßzustellen?«
»Ich dachte, ich soll dich nicht als meine Frau bezeichnen, wenn wir im Dienst sind?«
»Und ich dachte, ich bin deine Frau, ob wir im Dienst sind oder nicht?«
»Entschuldigen Sie«, unterbrach ich sie, »aber wenn Sie keine weiteren Fragen haben, würde ich gern auf mein Zimmer gehen.«
Die in ihrem Streit gestörten Wachtmeister funkelten mich wütend an. »Wir werden ein Auge auf euch beide haben«, sagte Mimi Mitchum und drohte mit einem erstaunlich langen Finger, und nach einem kurzen Disput darüber, welcher Mitchum das Steuer übernehmen solle, ratterte der Kombi davon, und Theodora stand auf, um auf mich herunterzublicken.
»Wir sind noch keinen Tag hier«, sagte sie, »und schon gerätst du mit dem Gesetz in Konflikt. Ich bin enttäuscht von dir, Snicket.«
»Ich habe keine Straßenlaterne zerstört«, sagte ich.
»Wen interessiert das?«, sagte sie und schüttelte ihr Haar. »Hier wird unseres Bleibens heute Nacht jedenfalls nicht sein.«
»Oh, können wir dann vielleicht nach zwei getrennten Zimmern schauen?«
»Nein, damit meinte ich, dass uns heute Nacht eine kleine Eskapade bevorsteht«, sagte sie, »ein Wort, das hier so viel bedeutet wie ›die Bordunbestie stehlen und sie ihrem rechtmäßigen Besitzer zurückbringen‹.«
»Ich glaube, da ist sie schon«, sagte ich, ohne hinzuzufügen, dass ich das Wort »Eskapade« kannte, seit ich mit acht einen ziemlich lustigen Liebesroman von einer viel schreibenden britischen Dame gelesen hatte. »Ich habe ein bisschen in der Bibliothek recherchiert, und den lokalen Legenden zufolge wird die Bordunbestie seit Generationen mit der Familie Mallahan in Verbindung gebracht. Und als Moxie Mallahan mir die Statue gezeigt hat, sah sie sehr verstaubt aus, so als sei sie seit Jahren nicht vom Fleck bewegt worden.«
»Legenden sind Geschichten, die sich jemand ausgedacht hat«, sagte Theodora verächtlich, »und Staub auf Sachen schütten, damit sie alt wirken, kann jeder. Vor ein paar Jahren hatte ich einen Fall, bei dem zwei Brüder über eine Muschelsammlung stritten. Der jüngere Bruder hatte Staub über die Muscheln geschüttet, um zu beweisen, dass es seine waren, aber mit einem so plumpen Trick konnte er mich natürlich nicht täuschen. Außerdem ist es längst beschlossene Sache. Ich habe heute Nachmittag bei den Sallis angerufen und alles mit dem Butler abgesprochen. Wir werden die Statue im Leuchtturm an uns bringen und damit aus dem Fenster klettern, um über die Trosse zum Herrenhaus zu gelangen. Der Butler hat sich bereit erklärt, das Fenster in der Bibliothek offen zu lassen und uns mit einer Kerze Zeichen zu geben, wenn die Luft rein ist. Wir werden ihm die Statue aushändigen, und der Fall wird abgeschlossen sein.«
Ich hatte den Verdacht, dass die Muscheln wahrscheinlich nicht staubig gewesen waren, sondern sandig, so dass im Zweifel der jüngere Bruder der wahre Besitzer der Muschelsammlung war. Ich hatte aber auch den Verdacht, dass jetzt kein geeigneter Zeitpunkt war, um das anzusprechen. Meine Mentorin brachte ihr Gesicht dicht an meins. »Deine Aufgabe«, raunte sie, »wird es sein, irgendwann im Lauf des heutigen Abends in den Leuchtturm einzudringen und dort zu warten. Schlag Mitternacht wirst du mir dann die Tür öffnen und mich zu dem fraglichen Objekt führen. Das muss reibungslos klappen, Snicket. Man beobachtet uns.«
»Die Wachtmeister Mitchum, meinen Sie?«
Theodora schüttelte den Kopf. »Jemand von unserer Organisation. Alle Mentoren stehen ständig unter Beobachtung. Das weißt du nicht, Snicket, aber von zweiundfünfzig Mentoren bin ich nur die Zehntbeste. Wenn ich diesen Fall schnell löse, verbessere ich mich in der Wertung. Also ab mit dir. Wir sehen uns um Mitternacht am Leuchtturm.«
»Was ist mit Abendessen?«, fragte ich.
»Ich habe schon gegessen, danke.«
»Und was ist mit meinem Abendessen?«
Sie sah mich missbilligend an und stieg die Stufen zur Eingangstür hinauf. »Das ist die falsche Frage, Snicket. Es gibt wichtigere Dinge als Abendessen. Konzentrier dich auf den Fall.«
Damit verschwand sie im Weißen Torso. Natürlich gab es wichtigere Dinge als Abendessen, aber es war schwierig, sich auf sie zu konzentrieren, wenn man kein Abendessen im Bauch hatte. Ich wartete, bis Theodora in ihrem Zimmer angekommen sein musste, dann ging ich ebenfalls ins Hotel. Wer sollte uns in dieser kleinen, zerfallenden Stadt beobachten?, fragte ich mich. Prosper Weiss stand unter der Statue der armlosen Frau, ein anbiederndes Lächeln im Gesicht. Jetzt wusste ich das Wort wieder, das mir auf der Zunge gelegen hatte. Es war das Wort »servil«, und es bezeichnete Menschen, die sich wie Diener benehmen, obwohl sie gar keine sind. Das hört sich vielleicht angenehm an, ist es aber nicht.
»Ein wunderschöner Abend, nicht wahr, Mr Snicket?«, sagte er.
»Mehr oder weniger«, stimmte ich zu und spähte an ihm vorbei zum Münztelefon. Theodora hatte gesagt, sie hätte im Herrenhaus angerufen, was hieß, das Telefon musste frei gewesen sein. Ich hoffte, es wäre immer noch frei, aber eine Frau mit einer langen Pelzstola um den Hals sprach in den Hörer. »Gibt es hier irgendwo noch ein anderes Telefon?«, fragte ich.
Prosper Weiss zuckte leicht mit den Achseln. »Bedauerlicherweise, nein.«
»Wären Sie vielleicht in der Lage, mich ein Stück zu fahren?«
»Unbedauerlicherweise, ja«, sagte Prosper, »gegen ein kleines Entgelt natürlich.«
Irgendwo gibt es sicher eine Stadt, wo die Flusen in meiner Hosentasche als kleines Entgelt durchgehen würden, aber mein Instinkt sagte mir, dass Schwarz-aus-dem-Meer nicht diese Stadt war. Also sagte ich danke – nicht die dankbare Art von »danke«, sondern die wegwerfende –, und er verzog sich. Ich ging wieder hinaus auf die Straße, wo ich stand und überlegte, was ich jetzt tun sollte, als ein Auto um die Ecke bog und direkt vor mir anhielt. Es war das verbeulte gelbe Taxi, das mir schon früher aufgefallen war. Von nahem sahen die Beulen noch übler aus. Eine Tür war sogar so eingedrückt, dass ich die Schrift darauf nur mühsam entzifferte: Bellerophon Taxi.
»Taxi gefällig, Kumpel?«, fragte der Fahrer, und ich brauchte ein bisschen, um zu begreifen, dass er ein Stück jünger als ich war. Er hatte ein freundliches Lächeln und eine Schorfkruste auf der Backe, als hätte jemand ihn ein wenig zu fest geknufft. Auf seinem Kopf saß eine viel zu große blaue Mütze, auf der ebenfalls Bellerophon Taxi stand, nur weniger verbeult.
»Ich habe dummerweise kein Geld«, sagte ich.
»Ach, das macht nichts«, sagte der Junge. »Seit hier alles den Bach runtergeht, fahren wir auch für einen Apfel und ein Ei.«
»Darfst du in deinem Alter überhaupt schon fahren?«, fragte ich.
»Wir vertreten heute Abend unseren Vater«, antwortete er. »Er liegt krank im Bett.«
»Wir? Wer ist wir?«
Der Junge winkte mich heran, und ich beugte mich in das Taxi und sah, dass er auf einem Bücherstapel sitzen musste, um das Lenkrad zu erreichen. Unter ihm, auf dem Boden vor dem Fahrersitz, kauerte ein noch kleinerer Junge mit den Händen auf den Pedalen. Sein Lächeln war ein bisschen zu pfiffig, als könnte es ihm mitunter passieren, dass er seinen Bruder etwas zu fest knuffte.
»Wir sind mein Bruder und ich«, sagte er mit sehr hoher Stimme. »Ich heiße Pecuchet Bellerophon, und das ist mein Bruder Bouvard.«
Ich sagte ihnen meinen Namen und versuchte, ihre auszusprechen. »Nichts gegen euch persönlich, aber von euren Namen wird mir die Zunge lahm. Wie sagen die Leute zu euch?«
»Zu mir Boing«, sagte der Bruder oben am Lenkrad, »und zu ihm Quietsch.«
»Weil ich die Bremsen bediene«, quietschte Quietsch.
»Verstehe«, sagte ich. »Also, Boing und Quietsch, ich müsste zum Leuchtturm.«
»Zu den Mallahans?«, sagte Boing. »Kein Problem, rein mit dir.«
Ich betrachtete die Bücher, auf denen er saß. Sie sahen nach Bibliotheksbüchern aus, und manche davon liebte ich sehr. »Aber dürft ihr ganz sicher schon Auto fahren?«, fragte ich noch einmal.
»Darfst du so spät noch unterwegs sein?«, fragte Boing zurück. »Komm schon, steig ein.«
Ich stieg ein, und Quietsch gab Gas. Boing steuerte den Wagen gekonnt durch die zerfallenden, halb verlassenen Straßenzüge von Schwarz-aus-dem-Meer. Ich entdeckte ein Lebensmittelgeschäft, das leer war, aber geöffnet hatte, und ein Kaufhaus mit Fenstern voller Schaufensterpuppen, die nichts als heimwollten. Die Sonne sank hinter dem hohen, griffelförmigen Turm. Ich versuchte mich auf die Statue der Bordunbestie zu konzentrieren, aber meine Gedanken schweiften ab, erst zu den Höhlen draußen vor der Stadt, in denen verängstigte Tintenfische ihre Tinte abgaben, und dann zu einem größeren, tieferen Loch in der Hauptstadt. Ich befahl mir, nicht über Dinge nachzugrübeln, an denen ich doch nichts ändern konnte, und sah aus dem Fenster, während das Taxi das Herrenhaus passierte und den Hügel hinauffuhr.
»Hatte euer Vater schon mal Mrs Sallis als Fahrgast?«, fragte ich.
»Ich glaube nicht«, erwiderte Boing. »Als die Sallis noch hier in der Stadt waren, hatten sie ihren eigenen Chauffeur.«
»Sind sie jetzt denn nicht in der Stadt?«
»Wenn, dann wissen wir jedenfalls nichts davon«, rief Quietsch vom Boden des Wagens.
Ein paar Minuten später lag auch das kleine weiße Häuschen hinter uns, und Quietsch brachte das Taxi routiniert vor dem Leuchtturm zum Stehen. »Sollen wir warten und dich nachher wieder in die Stadt zurückbringen?«, fragte Boing.
»Nein danke«, sagte ich.
»Na, hoffentlich weißt du, was du tust«, sagte Boing und langte an mir vorbei, um mir die Tür zu öffnen. »Hier draußen ohne eine Rückfahrgelegenheit … Und? Apfel oder Ei?«
»Wie wär’s stattdessen mit einem Buchtipp?«, sagte ich mit Blick auf den Bücherstapel. »Wenn ihr das nächste Mal in der Bibliothek seid, leiht euch ein Buch über einen Weltmeister aus.«
»Von diesem Autor mit der ganzen Schokolade?«
»Ja, aber das hier ist noch besser. Es hat ein paar ganz hervorragende Kapitel.«
»Solche Tipps können wir brauchen«, sagte Quietsch. »Boing liest mir zwischen den Fahrten immer vor.«
Ich schlug die Tür hinter mir zu und klopfte zum Abschied ans Fenster. Boing winkte, und das Taxi fuhr weg. Ich wartete, bis das Motorgeräusch verklungen war, und stand dann eine Weile einfach da und sah am Leuchtturm empor. Ich hoffte dasselbe wie die beiden Bellerophon-Vertretungsfahrer: dass ich wusste, was ich tat. Ich bezweifelte es. Ich hörte das schaurige Zischeln des Windes in den Tangsträngen des Klausterwaldes tief unter mir und dann, vor mir, das weitaus alltäglichere Klappern einer sich öffnenden Tür.
»Lemony Snicket«, sagte eine Stimme.
»Hallo, Moxie«, sagte ich. »Was gibt’s Neues?«
»Das frage ich dich«, sagte sie. »Du stehst schließlich bei mir vor der Tür.«
Ich blinzelte zum dämmrigen Himmel hinauf, bis ich über mir die verschwommene Linie der Trosse ausgemacht hatte, die sich talwärts senkte. Warum nicht?, dachte ich und drehte mich wieder zu Moxie Mallahan um. »Ich wollte gern eine Einladung aussprechen«, sagte ich.
Sie erlaubte sich ein schmales Lächeln. »Ach ja? Wozu denn?«
»Zu einem Einbruch, der heute Abend in eurem Haus stattfinden wird«, sagte ich und trat ein.