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Viertes Kapitel

»Während du mit diesem plattfüßigen Mädel herumpoussiert hast«, sagte Theodora zu mir, als sie den Motor anließ und ihre Kappe aufsetzte, »ist es mir gelungen, das Rätsel zu lösen. Ich habe allen Grund zu der Annahme, dass sich die Bordunbestie in nämlichem Leuchtturm befindet.«

»Das tut sie«, sagte ich.

»Dann sind wir uns ja einig«, sagte Theodora. »Ich habe mich sehr intensiv mit Mr Mallahan unterhalten. Er hat mir erzählt, dass er in der Zeitungsbranche war, aber in letzter Zeit eine ziemliche Pechsträhne hatte. Ha

Meine Mentorin sah mich an, als erwartete sie ein mindestens ebenso schallendes Ha! zur Antwort, aber ich brachte nur ein leises »Ach« zuwege. Ich nahm mir vor, das Ha! später nachzuliefern. Wir fuhren am Herrenhaus vorbei in Richtung Stadtzentrum. Moxie hatte recht. Schwarz-aus-dem-Meer war wie ausgestorben. Früher einmal musste es eine ganz normale Stadt gewesen sein, mit Geschäften voller Waren und Restaurants voller Essen und Bürgern, die einkaufen oder essen gingen. Aber jetzt war der ganze Ort am Zerfallen. Viele Fenster waren eingeschlagen oder mit Brettern vernagelt, und die Bürgersteige waren ungepflegt, mit großen Rissen im Asphalt und leeren Flaschen und Dosen, die der Wind gelangweilt vor sich hertrieb. Ganze Straßenzüge schienen vollständig verlassen: kein Auto außer unserem, nicht ein Fußgänger weit und breit. Ein Stück entfernt ragte ein Turm über dem Rest der Stadt auf, der wie ein Griffel geformt war, so als sollte Schwarz-aus-dem-Meer von der Landkarte gestrichen werden. Es gefiel mir alles ganz und gar nicht. Es sah aus, als könnte jeder kommen und tun, was immer ihm einfiel, ohne dass irgendjemand ihn daran gehindert hätte. Der Klausterwald wirkte fast freundlich dagegen.

»Keine Arbeit, keine Frau, das kann einen Mann schon zu einer Verzweiflungstat treiben«, hörte ich Theodora sagen. »Wie zum Beispiel dazu, einem Feind eine kostbare Statue zu entwenden. Als ich von ihm wissen wollte, ob es in seinem Haus etwas von mehr als astronomischem Wert gäbe, hat er nur komisch geschaut und etwas von seiner einzigen Tochter gemurmelt. Ich gehe davon aus, dass er die Statue irgendwo versteckt hat.«

»Sie ist oben«, sagte ich, »auf einem Tisch mit einem Laken darüber.«

»Was?« Theodora hielt an einer roten Ampel. Ich hatte nicht ein einziges anderes Auto auf der Straße gesehen. Es gab nur die Ampeln, die niemandem außer uns vorschrieben, wann wir zu halten und wieder anzufahren hatten. »Wie hast du sie gefunden?«

»Seine Tochter hat sie mir gezeigt«, sagte ich. »Sie hat übrigens keine Plattfüße. Sie trägt nur schwere Schuhe.«

»Immer mit der Ruhe«, sagte Theodora. »Wie hast du sie dazu gebracht, sie dir zu zeigen?«

»Ich habe sie gefragt.«

»Dann hat sie Lunte gerochen«, sagte Theodora streng. »Wir müssen schnell handeln, wenn wir sie zurückstehlen wollen.«

»Woher wissen wir überhaupt, dass sie gestohlen ist?«, fragte ich.

»Stell dich nicht dümmer, als du bist, Snicket. Mrs Sallis hat uns gesagt, dass sie ihr vom Kaminsims heruntergestohlen wurde.«

»Moxie sagt, die Statue gehört ihrer Familie. Die Bestie war das Maskottchen des Schwarzen Leuchtturms

»Schwarz war er ja nun nicht. Er braucht nur einen neuen Anstrich.«

»Wir müssen weiter ermitteln«, sagte ich.

»Nichts da«, sagte Theodora entschieden. »Wir werden doch nicht eine vornehme Dame der Lüge bezichtigen und stattdessen einem kleinen Mädchen glauben. Mit so einem albernen Namen noch dazu.«

»Apropos«, sagte ich. »Wofür steht das S

»Schwachmat«, sagte sie kopfschüttelnd und brachte den Roadster erneut zum Stehen. Wir hielten vor einem Gebäude mit eingesunkenem Dach und einer Veranda, auf der sich angeschlagene Tontöpfe mit sterbenden Topfpflanzen drängten. Auf einem bemalten Holzschild, das in frisch bemaltem Zustand, also vor mehreren hundert Jahren, vielleicht etwas hergemacht hatte, prangte ein Schriftzug: Zum weissen Torso. »Das ist unser Hauptquartier.« Theodora nahm die Kappe ab und schüttelte ihr Haar. »Es ist unsere Schlafstätte und unsere Dienststelle und unsere Schaltzentrale und unser Kommandoposten. Hier steigen wir ab. Bring die Koffer rein, Snicket.«

Sie federte die Stufen hoch, und ich kletterte aus dem Roadster und nahm die triste Straße in Augenschein. Hinten an der nächsten Straßenecke harrte noch jemand aus, ein verlassen wirkendes Restaurant, das sich Schmeck’s nannte, und nach der anderen Seite endete die Straße vor einem hohen Steinbau, dessen Eingang von zwei gemeißelten grauen Säulen flankiert wurde. Kein Mensch war unterwegs, und das einzige andere Auto in Sicht war ein zerbeultes gelbes Taxi, das vor dem Restaurant wartete. Ich war wieder hungrig oder vielleicht immer noch. Zumindest hatte ich ein Gefühl der Leere in mir, aber je länger ich dastand, desto unsicherer wurde ich mir, ob es der Magen war. Also bückte ich mich und hob zwei Koffer von der Rückbank – den, der laut Theodora meiner war, und einen zweiten größeren, der eindeutig ihr gehörte. Es war anstrengend, sie die Treppe hinaufzuwuchten, und als ich in die Hotelhalle kam, setzte ich sie kurz ab, um zu verschnaufen.

Die Halle roch eigenwillig, so als wäre sie voller Leute, dabei war sie in jeder Hinsicht fast leer. Ein kleines Sofa gab es mit einem noch kleineren Tischchen daneben, und von meinem Platz aus ließ sich schwer sagen, welches der beiden schäbiger aussah. Im Zweifel war es ein Unentschieden. Auf dem Tisch stand eine Holzschale mit Erdnüssen, die entweder versalzen oder verstaubt waren. In einer Ecke sprach ein sehr großer Mann ohne Hut in ein Münztelefon, das ich einen Moment lang sehnsüchtig beäugte in der Hoffnung, er würde auflegen und mich ranlassen. Hinten an der Wand war die Rezeption, wo Theodora mit einem dünnen Mann sprach, der sich immerfort die Hände rieb, und in der Mitte der Halle stand die hohe Gipsstatue einer Frau ohne Kleider und ohne Arme.

»Da geht’s mir ja noch gut«, sagte ich zu ihr.

»Nicht rumtrödeln, Snicket!«, rief Theodora, und ich schleifte unsere Koffer zur Rezeption. Der dünne Mann reichte Theodora zwei Schlüssel, von denen sie einen an mich weitergab.

»Willkommen im Weißen Torso«, sagte der Mann mit einer Stimme, die genauso dünn wie er selbst war. Seine Art erinnerte mich an ein Wort, das ich einmal gelernt und dann vergessen hatte. Es lag mir auf der Zunge, zusammen mit einem allerletzten Kekskrümel. »Ich bin Prosper Weiss, Besitzer und Geschäftsführer dieses Etablissements. Bitte sagen Sie Prosper zu mir, und wann immer Sie ein Problem haben, zögern Sie nicht, mich anzurufen. Das Telefon hängt gleich da drüben.«

»Danke«, sagte ich, auch wenn es mir sinnvoller schien, einfach zur Rezeption zu gehen, als zu warten, bis das Telefon frei wurde.

»Ihrem Wunsch gemäß«, fuhr Prosper fort, »habe ich für Sie beide unser preiswertestes Zimmer reserviert, die Fernostsuite, die sich im ersten Stock befindet. Leider ist der Lift heute außer Betrieb, Sie müssen also die Treppe nehmen. Darf ich fragen, wie lange Sie zu bleiben wünschen?«

»Längerfristig«, sagte meine Mentorin und ging flotten Schritts auf eine teppichbelegte Treppe mit beängstigend zierlichem Geländer zu. Weder Theodora noch sonst jemand mussten mir erklären, dass »längerfristig« ein Wort war, das hier absolut gar nichts bedeutete. Ich schleppte die Koffer hinter Theodora die Treppe hinauf und einen schmalen Korridor entlang bis zu einer Tür, an der Fernostsuite stand. Theodora verwickelte den Schlüssel in einen Kampf mit dem Schlüsselloch, aber nach ein paar Minuten gab die Tür klein bei, und wir betraten unser neues Zuhause.

Wohl kaum jemand wird die Fernostsuite des Weißen Torso in Schwarz-aus-dem-Meer kennen, aber fast jeder hat schon einmal einen Raum betreten, der sofort seinen Fluchtinstinkt ausgelöst hat, was in etwa auf das Gleiche hinausläuft. Den Hauptteil des Zimmers nahmen ein großes und ein kleines Bett ein. Getrennt wurden sie durch eine niedrige Kommode, die mürrisch dreinzublicken schien. Eine Tür führte ins Bad, und auf dem kleinen Tisch in der Ecke stand eine Metallplatte mit Stecker, auf der man sich vermutlich sein Essen aufwärmen konnte. An der Decke war eine Leuchte in der Form eines leicht verunglückten Sterns, und an der Wand, über dem kleineren Bett, hing ein einsames Gemälde von einem kleinen Mädchen, das einen Hund mit verbundener Pfote hielt. Es war dunkel in dem Zimmer, aber auch als ich die Läden des einzigen Fensters zurückgestoßen hatte, fiel in die Fernostsuite kaum mehr Licht als zuvor.

»Wir wohnen im Doppelzimmer?«, fragte ich.

»Immer mit der Ruhe, Snicket«, erwiderte Theodora. »Wir können uns schließlich im Bad umziehen. So, warum schiebst du deinen Koffer nicht unters Bett und gehst ein bisschen spielen oder so? Ich packe solange aus und mache ein Nickerchen. Das hilft mir immer beim Denken, und ich muss mir etwas einfallen lassen, wie wir an die Statue kommen.«

»Es gibt eine Trosse«, sagte ich, »die vom Leuchtturm bis hinunter zum Haus von Mrs Sallis führt.«

»Trosse?«

»Eine Trosse ist ein Kabel«, sagte ich.

»Das weiß ich.«

»Ja?« Ich konnte es mir nicht verkneifen. »Ich musste es von einem kleinen Mädchen lernen.«

Theodora setzte sich mit einem tiefen Seufzer auf das große Bett und fuhr sich mit den Händen durch ihr endloses Haar. »Lass mich entspannen, Snicket«, sagte sie. »Sei pünktlich zum Abendessen wieder hier. Ich denke, wir essen heute später.«

»Später als was?«

»Später als sonst.«

»Wir haben doch noch nie zusammen gegessen.«

»So kann ich nicht entspannen, Snicket.«

Unentspannt war ich selbst, also schob ich meinen Koffer unters Bett, verließ das Zimmer und schloss die Tür hinter mir. Eine Minute später stand ich wieder auf dem Bürgersteig und sah die leere Straße entlang, beide Hände voller Erdnüsse, die ich in der Hotelhalle hatte mitgehen lassen. Hier draußen vor dem Weißen Torso hatte ich mehr Privatsphäre als in der Fernostsuite. Privatsphäre war mir wichtig, aber ich wusste nicht, womit ich die Zeit bis zum Abendessen füllen sollte, deshalb drehte ich mich um und ging die Häuserzeile entlang bis zu dem Steinbau mit den Säulen, der mir noch am vielversprechendsten aussah.

Da war ich also, ein Junge von fast dreizehn, der allein die leere Straße einer zerfallenden Stadt entlangging. Ich war dieser junge Mensch, der alte Erdnüsse aß und über einen seltsamen, verstaubten Gegenstand nachgrübelte, der gestohlen oder einfach nur vergessen worden war und entweder einer Familie oder einer anderen gehörte oder deren Feinden oder Freunden. Und davor war ich ein Kind gewesen, das eine unorthodoxe Erziehung genoss, und davor ein Säugling, der sich, wie man mir erzählt, gern im Spiegel betrachtete und seine Zehen in den Mund nahm. Ich war einst dieser Junge und dieses Kind und dieser Säugling, und das Gebäude, vor dem ich stand, war einst ein Rathaus gewesen. Vor mir erstreckte sich meine Zeit als Erwachsener und danach als Skelett und danach als gar nichts mehr außer vielleicht ein paar Bücher in ein paar Regalen.

Aber im Moment erstreckte sich vor mir erst einmal ein räudiger Rasen mit einer hohen Bronzestatue darauf, die so verwittert von Regen und Alter war, dass ich nicht erkennen konnte, was sie darstellte, auch aus allernächster Nähe nicht. Die Schatten der beiden Eingangssäulen waren zwei verwackelte Striche, und das Gebäude selbst sah aus, als hätte es ein paar Ohrfeigen von einem jähzornigen Riesen kassiert. Die Säulen trugen einen Rundbogen, auf dem in verblassten Lettern Schwarz-aus-dem-Meer stand, und in die Mauer waren die Wörter Rat und haus gemeißelt, aber sie waren schwer zu lesen, da jemand zwei behelfsmäßige Schilder darüber angebracht hatte. Über Rat hing ein Schild mit der Aufschrift Polizeiwache, und über haus hing ein Schild mit der Aufschrift Bibliothek. Ich stieg die Stufen hinauf und traf die auf der Hand liegende Wahl.

Die Bibliothek bestand aus einem einzigen großen Saal mit langen, hohen Metallregalen, und es herrschte diese vollkommene Stille, mit der eine Bibliothek alle Antwortsuchenden empfängt. Zu jedem Rätsel gibt es eine Geschichte. Eine solche Geschichte beginnt für gewöhnlich mit einer Spur, aber das Dumme ist, dass man nicht immer weiß, welcher Fährte man folgen soll. Mir schien die tauglichste Spur die Bordunbestie unter ihrem Laken in einem vergessenen Turmzimmer zu sein, und ich überlegte, wie ich mehr erfahren konnte. Ich durchquerte den Raum auf der Suche nach dem Bibliothekar, den ich hinter seinem Schreibtisch antraf, wo er mit einem karierten Taschentuch nach ein paar Motten schlug. Die Motten umflatterten ein kleines Schild mit dem Aufdruck: Dashiell Qwertz, Unter-Bibliothekar. Er war jünger, als ich mir Bibliothekare im Allgemeinen vorstelle, zu jung, um der Vater von irgendwem zu sein, den ich kannte, und seine Frisur sah aus, als hätte er die Scherenattacke eines Geisteskranken überlebt. Die Ärmel seiner schwarzen Lederjacke waren mit allen möglichen Metallgegenständen behängt, die jedesmal leise klirrten, wenn er nach den Motten schlug.

»Entschuldigung«, sagte ich, »sind Sie der Bibliothekar?«

Qwertz wedelte ein letztes Mal mit seinem Taschentuch und gab dann auf. »Unter-Bibliothekar«, sagte er mit so tiefer Stimme, dass ich einen Augenblick lang glaubte, wir beide säßen in einem Brunnenschacht. »Schwarz-aus-dem-Meer kann sich keinen festen Bibliothekar leisten, also bin ich hier.«

»Und wie lange sind Sie hier schon?«

»Seit ich den anderen abgelöst habe«, erwiderte er. »Kann ich dir helfen?«

»Ich wüsste gern mehr über die lokalen Legenden«, sagte ich.

»Die berühmteste Schauspielerin von Schwarz-aus-dem-Meer ist Dame Sally Murphy«, sagte Qwertz. »Unter ›Theater & Film‹ müsste ein Buch über ihre Laufbahn stehen.«

»Nicht diese Art von Legende«, sagte ich. »Ich meinte eher alte Geschichten über seltsame Fabelwesen.«

Qwertz kam um seinen Tisch herum. »Ich bringe dich in die Mythologie-Abteilung«, sagte er und führte mich auch schon zu einer Regalreihe in der Saalmitte. »Wir haben auch eine gute Zoologie- und Ozeanologie-Abteilung, falls dich echte Tiere interessieren.«

»Nicht heute, vielen Dank.«

»Man kann nie wissen. Es heißt ja, in jeder Bibliothek stünde das eine Buch, das Antwort auf die Frage gibt, die uns wie Feuer auf der Seele brennt.«

»Vielleicht. Aber nicht heute.«

»Auch gut. Kann ich sonst noch etwas für dich tun, oder möchtest du allein weiterschauen?«

»Allein weiterschauen, bitte«, sagte ich, und Qwertz nickte und ließ mich stehen. Die Mythologie-Abteilung enthielt mehrere Bücher, die interessant aussahen, und eins, das aussah, als könnte es nützlich sein. Leider war es keins von den interessant aussehenden. Ich suchte mir einen Tisch in einer abgelegenen Ecke, wo ich ungestört lesen konnte, und schlug Schwarze Mythen auf.

Kapitel 7 zufolge war die Bordunbestie ein Mischwesen aus Pferd und Hai – oder aus Alligator und Bär, je nachdem welcher Legende man Glauben schenkte –, das in den Wassern vor Schwarz-aus-dem-Meer lauerte. Es verspeiste mit Vorliebe Menschen und gab die beängstigendsten Bordunlaute von sich – ich musste von meinem Tisch aufstehen und ein Wörterbuch suchen, um festzustellen, dass »Bordun« hier im Grunde nichts anderes als Brummen bedeutete –, wenn es Jagd auf seine Beute machte. Moxie war mir als unkonventionell erschienen, aber nicht als Lügnerin, und so stieß ich denn auch auf eine Geschichte, nach der die Bordunbestie vor Jahrhunderten von Lady Mallahan getötet worden war, wobei der Verfasser hinzusetzte, aller Wahrscheinlichkeit nach habe Lady Mallahan lediglich ein totes Walross am Fuß des Leuchtturmfelsens gefunden, und die Einheimischen hätten die Geschichte im Nachhinein aufgebauscht. Andere Quellen besagten, manche Menschen verstünden, die Bordunbestie einzufangen und zu zähmen, indem sie ihr grauenvolles Brummen nachahmten, und es gab eine Sage über einen Zauberer, dem das Untier aus der Hand fraß, zumindest solange es satt wurde. In alten Zeiten wurde auf dem Marktplatz in mondlosen Nächten ein Gong geschlagen, um das Ungeheuer zu verscheuchen. Der Gong war längst dahin, aber die Legende hielt sich. Die Mütter erzählten ihren Kindern und Ehemännern auch heute noch, dass die Bordunbestie kommen und sie holen würde, wenn sie ihr Gemüse nicht aufaßen, und die Einheimischen verkleideten sich an Halloween und Purim auch heute noch als Bordunbestien mit Masken, die, soweit man den Illustrationen trauen konnte, nicht viel anders aussahen als die, die ich im Roadster appliziert hatte. Angeblich sichteten Seeleute die Bordunbestie nach wie vor, wie sie vor ihnen im Wasser schwamm, sich schlängelnd wie ein unterseeisches Fragezeichen, obwohl mir dieses Letzte nun, nach der Dränierung, nicht ganz dem aktuellen Stand zu entsprechen schien.

Über eine Statue, wertvoll oder Plunder, berichtete das Buch nichts, und so stellte ich meine Recherchen über die Bordunbestie ein und vertiefte mich in das Kapitel über die schwarzen Hexen, in deren Adern statt Blut Tinte floss. Ich fragte mich, was sie dann wohl in ihren Füllern hatten.

Ich las eine ganze Weile, bevor ich von einem Geräusch abgelenkt wurde. Es klang, als würde jemand einen Stein an die Wand gleich über meinem Kopf werfen. Ich blickte gerade rechtzeitig auf, um einen kleinen Gegenstand über den Tisch kullern zu sehen. Es war ein Stein, den jemand gegen die Wand gleich über meinem Kopf geworfen hatte. Es wäre schön, in so einem Fall eine flotte Bemerkung parat zu haben, aber mir fiel nur dasselbe ein wie sonst auch immer.

»He!«, sagte ich.

»He!«, äffte eine Stimme mich nach, und ein Junge etwa in meinem Alter streckte den Kopf hinter einem Regal hervor. Er sah aus wie eine Kreuzung aus einem Menschen und einem Holzklotz, mit langem dickem Hals und einem brutalen Topfschnitt. Er hatte eine Steinschleuder in der Tasche und einen aufreizenden Blick in den Augen.

»Das war knapp!«, sagte ich.

»’tschuldige, soll nicht wieder vorkommen.« Er pflanzte sich vor mir auf. Es sollte furchterregend wirken, aber dazu reichte seine Körpergröße nicht aus. »Nächstes Mal treff ich richtig, versprochen.«

»Ist das dein Freizeitspaß?«, fragte ich. »Auf Leute in der Bibliothek schießen?«

»Eigentlich schieß ich lieber auf Vögel«, sagte er, »aber davon gibt’s hier nicht mehr viele.«

»Tja, komisch, dass sie auf so jemand Netten wie dich nicht fliegen«, sagte ich.

»Halt mal kurz still«, erwiderte der Junge und zückte wieder die Steinschleuder, »dann schieß ich dir dein Deppenlächeln aus der Fresse.«

Plötzlich stand Qwertz vor uns. »Stew«, sagte er, ein Wort, das in einer so tiefen Tonlage gleich viel bedrohlicher klang. »Verlass sofort die Bibliothek.«

»Ich darf hier drin sein«, sagte Stew und schnitt dem Bibliothekar eine Fratze. »Das ist ein öffentliches Gebäude.«

»Und du bist ein öffentliches Ärgernis«, gab Qwertz zurück, fasste Stew am Arm und schubste ihn in Richtung Tür. »Raus.«

»Bis bald«, rief Stew mir herausfordernd zu, zog aber ohne weitere Schmähungen ab, und Qwertz beugte sich vor, um die Wand zu inspizieren.

»Tut mir leid«, sagte er, während er stirnrunzelnd eine kleine Delle betrachtete und mit dem Finger darüberrieb. »Stew Mitchum ist wie ein Abfallrest auf dem Grund einer Mülltonne. Jedes Mal versuche ich ihn rauszuwerfen, aber er klebt hartnäckig fest, und er wird immer älter und unappetitlicher. Hast du gefunden, wonach du gesucht hast?«

»Mehr oder weniger«, sagte ich. »Kann ich eigentlich Bücher ausleihen, wenn ich nicht hier wohne?«

»Bedauerlicherweise, nein«, sagte Qwertz. »Aber ich schließe immer schon sehr früh auf. Du kannst jederzeit kommen und nach Herzenslust lesen. Wir haben nicht oft Leute hier, die sich fürs Theater interessieren.«

Ich verzichtete darauf, ihn daran zu erinnern, dass berühmte Schauspielerinnen nicht die Art von Legende waren, über die ich forschte. »Danke«, sagte ich. »Ich muss langsam gehen.«

»Es gibt natürlich die Möglichkeit«, fuhr Qwertz fort, »vorausgesetzt, du hast einen Bibliotheksausweis, Bücher in einer Bibliothek in der Nähe deines Wohnorts zu bestellen.«

»Sie meinen, meine Bibliothek in der Hauptstadt kann Bücher hierherschicken, die ich dann ausleihen darf?«

»Nein«, sagte Qwertz, »aber du kannst die Bestellung hier aufgeben, und dann wartet das Buch bei deiner Rückkehr auf dich.«

»Ich weiß nicht, wann ich da wieder hinkomme«, sagte ich. Die Hauptstadt und meine liebsten Menschen dort schienen mir in noch unerreichbarerer Ferne, als sie tatsächlich waren.

Qwertz langte in eine seiner Jackentaschen und brachte eine frische Karteikarte zum Vorschein. »Schau, du trägst einfach deinen Namen und den Buchtitel ein, dann kann der Mitarbeiter im Archiv das Buch heraussuchen, das du anforderst.«

Meine Gedanken überschlugen sich. »Das heißt, der Mitarbeiter im Archiv sieht den Titel, den ich anfordere?«

»Ja.«

»Oder sein Praktikant?«

»Anzunehmen«, sagte Qwertz. »Hast du es dir doch anders überlegt?«

»Ja«, sagte ich. »Ich würde gern ein Buch in der Fourier-Filiale anfordern.«

»Die Fourier-Filiale?«, wiederholte Qwertz und zog einen Bleistift hinter seinem Ohr hervor. »Ist das nicht dort, wo diese neue Statue hin soll?«

»Ich bin mir nicht sicher«, sagte ich, obwohl ich mir zu hundert Prozent sicher war.

»Und dein Name?«, fragte er.

Ich sagte ihm meinen Namen und fügte hinzu, dass er sich schrieb, wie man ihn sprach. Er notierte ihn in sauberen Druckbuchstaben und ließ dann den Stift wartend über dem Papier schweben.

»Und der Autor des Buches, das du suchst?«

Einen Moment lang herrschte in meinem Kopf völlige Leere. »Zefix …«, murmelte ich.

»Zefix heißt der Autor?«

»Äh … ja«, stammelte ich. »Ein Gallier, glaube ich.«

»Ein Gallier«, sagte er und sah mich an, schrieb es auf, sah mich wieder an. »Und der Buchtitel?«, fragte er dann, eine völlig vernünftige Frage. Ich hoffte, dass meine Antwort ähnlich vernünftig klang.

»Aber ich kann nicht zum Brunnen kommen.«

Qwertz musterte mich, sein Gesicht so leer wie eine dieser Zusatzseiten am Ende mancher Bücher, auf denen Platz für Bemerkungen oder Geheimnisse ist. »Die vollständige Angabe lautet also: ›Zefix, Aber ich kann nicht zum Brunnen kommen.‹«

»Genau«, und Qwertz streifte mich noch einmal mit einem Blick, bevor er es sorgfältig hinschrieb.