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Drittes Kapitel

Nach dem sechsten Klingeln näherten sich von drinnen gedämpfte Schritte, aber meine Gedanken waren abgeschweift. Statt vor der Tür eines Herrenhauses an diesem fremden, fernen Ort sah ich mich an einer Baugrube in der Hauptstadt mit meinem Maßband und meiner treuen Verbündeten. Ich sah mich im Besitz sämtlicher Habseligkeiten, die ich in meinen Koffer gepackt hatte. Ich sah mich an einem Ort, wo mir niemand eine komische glänzende Atemmaske aufzwang. Und vor allem sah ich mich an einem Ort, wo ich nicht so fürchterlich hungrig war. Ich hatte mich auf einen Imbiss im Zug gefreut und war stattdessen in Theodoras Roadster eine endlose Strecke ohne auch nur die winzigste Erfrischung gefahren, und während ich im Geist angenehm gesättigt von einem ausgezeichneten Mahl war, knurrte in Schwarz-aus-dem-Meer mein Magen ganz erbärmlich.

Deshalb achtete ich auch nicht weiter auf den Butler, der uns öffnete, oder auf den Flur, durch den er uns führte, ehe er uns eine Flügeltür aufhielt und uns bat, in der Bibliothek zu warten. Ich hätte darauf achten sollen. Ein Praktikant sollte an einem neuen Ort peinlich genau auf alle Einzelheiten achten, besonders wenn das Mobiliar nicht recht zum Raum passen will oder die sogenannte Bibliothek nur aus einer Handvoll Büchern besteht. Aber ich drehte mich nicht einmal um, als der Butler die Tür hinter uns schloss, sondern hatte nur Augen für einen kleinen, hellen Tisch an der Rückwand des großen, düsteren Raumes, wo auf einem Tablett Teetassen und ein Teller mit exakt einem Dutzend Keksen bereitstanden. Ich ging näher heran. Es waren Mandelkekse, aber meinetwegen hätten sie auch aus Spinat und Schuhsohlen sein dürfen. Ich aß elf Stück, einen nach dem anderen. Es ist unhöflich, den letzten Keks aufzuessen.

Theodora hatte auf einem kleinen Sofa Platz genommen und betrachtete mich angeekelt. »Unfein, Snicket«, sagte sie kopfschüttelnd. »Sehr unfein.«

»Ich hab Ihnen einen aufgehoben«, sagte ich.

»Setz dich neben mich und sei still.« Theodora klopfte mit dem Handschuh auf das Sofa. »Der Butler hat uns zu warten gebeten, also warten wir.«

In der Tat. Wir warteten so lange, dass ich mir etwas zu lesen suchte. Die wenigen Bücher in den Regalen schienen eher von der Sorte zu sein, die man nach der Lektüre irgendwo zurückließ, statt sie aufzubewahren. Ich las fünf Kapitel in einem Buch über einen Jungen namens Johnny. Er lebte in Amerika, als Amerika noch England war. Eines Tages verbrannte er sich die Hand und konnte nicht mehr als Silberschmied arbeiten, was aber ohnehin ein freudloser Broterwerb zu sein schien, also begann er sich für die Lokalpolitik zu interessieren. Der arme Johnny tat mir leid, aber ich hatte Wichtigeres im Kopf und stellte das Buch gerade ins Regal zurück, da öffnete sich die Flügeltür, und hereingehumpelt kam eine alte Frau mit einem Krückstock.

»Danke, dass Sie gewartet haben«, sagte sie noch krächzender, als ich mir vorzustellen gewagt hatte. »Ich bin Mrs Murphy Sallis.«

»S. Theodora Markson«, sagte S. Theodora Markson und stand rasch auf, wobei sie mich am Arm mitzerrte. »Laut meinen Informationen sollte mein Klient ein Mann sein.«

»Ich bin kein Mann«, sagte die Frau ungnädig.

»Das sehe ich auch«, sagte Theodora.

»Sehr erfreut, Sie kennenzulernen«, beeilte ich mich einzuschieben. Theodora funkelte mich an, aber Mrs Murphy Sallis lächelte kurz und gab mir die Hand, die so glatt und schlaff wie ein altes Salatblatt war.

»Netter Junge«, bemerkte sie, bevor sie sich ungnädig wieder an Theodora wandte. »Wofür steht das S?«

»Snicket ist nur mein Praktikant«, sagte Theodora und überreichte der alten Frau einen Umschlag. Mrs Sallis riss ihn auf und ließ sich damit in dem breitesten Sessel nieder, ohne zu fragen, ob sie mehr Kekse bringen lassen sollte. Selbst in dem trüben Licht konnte ich das Emblem auf dem Briefkopf sehen, das das gleiche war wie das auf meinem Empfehlungsschreiben. Ich hatte es nie sonderlich gemocht. Die alte Frau schien von dem Brief ungefähr so gefesselt wie ich von Johnnys Karriere als Silberschmied. »Schön, schön«, sagte sie und legte den Brief auf das Tablett, wobei ihr Blick den krümelbedeckten Teller streifte. Dann seufzte sie tief, als machte sie sich für einen großen Auftritt bereit, wandte sich an Theodora und fing zu sprechen an.

»Ich kann nur beten, dass Sie mir helfen können«, begann sie. »Ein Gegenstand von unermesslichem Wert wurde aus meinem Haus entwendet, und ich muss ihn zurückbekommen.«

»Als Allererstes«, unterbrach Theodora sie, »müssen wir wissen, um was für einen Gegenstand es sich handelt.«

»Das weiß ich«, sagte die Frau scharf. »Ich wollte es Ihnen gerade sagen. Es ist eine kleine Statue, ungefähr so hoch wie eine Milchflasche. Sie ist aus einem außerordentlich seltenen Holz geschnitzt, das tiefschwarz und glänzend ist. Die Statue befindet sich seit Generationen in meiner Familie, und ihr Wert wird auf eine mehr als astronomische Summe geschätzt.«

»Eine mehr als astronomische Summe«, wiederholte Theodora grübelnd. »Wann wurde sie entwendet?«

»Da bin ich überfragt«, sagte Mrs Sallis. »Ich habe die Bibliothek seit geraumer Zeit nicht mehr betreten, und für gewöhnlich stand die Statue immer dort drüben auf dem Kaminsims.«

Wir sahen zum Kamin. Richtig, da stand nichts.

»Vor zwei Tagen wollte ich hier etwas suchen, und da war sie verschwunden. Ich hatte seitdem keine ruhige Minute.«

»Hmm.« Theodora ging mit schnellen Schritten zu den Fenstern der Bibliothek, die von schweren Vorhängen verdeckt wurden. Sie riss sie zur Seite und fingerte erst an dem einen Fenster herum und dann am anderen. »Die sind fest verriegelt.«

»Das sind sie immer«, erwiderte Mrs Sallis.

»Hmm.« Theodora näherte sich langsam dem Kaminsims und beugte sich vor, um ihn aus nächster Nähe zu begutachten. Er war immer noch leer. Sie machte zwei große, bedächtige Rückwärtsschritte und sah zur Decke hinauf. »Was befindet sich über diesem Zimmer?«

»Ein kleiner Salon, glaube ich«, sagte die alte Frau.

»Dann könnte der Einbrecher vom Salon aus hier hereingelangt sein«, sagte Theodora. »Er oder sie hätte dazu natürlich ein Loch in die Decke sägen müssen, aber den Rest hätte die Schwerkraft erledigt und sie oder ihn direkt vor dem Kaminsims abgesetzt.«

Alle im Zimmer schauten zur Decke empor, die so rot und blank war wie ein Apfel.

»Leim«, sagte Theodora. »Leim und Gips, dann sieht keiner mehr was.«

Die alte Frau fasste sich an den Kopf. »Ich weiß, wer sie hat«, sagte sie.

Theodora hüstelte. »Das muss nicht zwingend heißen, dass er oder sie nicht durch die Decke hereingelangt ist.«

»Wer hat sie?«, fragte ich.

Die alte Frau stand auf und hinkte zu einem der Fenster. Sie zeigte zu dem Leuchtturm hinüber, an dem wir auf der Herfahrt vorbeigekommen waren. »Die Mallahans«, sagte sie. »Sie liegen schon seit Generationen mit meiner Familie im Krieg. Sie haben immer damit gedroht, die Statue zu stehlen, und jetzt haben sie ihre Drohung wahrgemacht.«

»Warum sind Sie nicht zur Polizei gegangen?«, fragte ich.

Mrs Murphy Sallis schaute verdutzt und stammelte mehrere Sekunden lang herum, bis Theodora sich einschaltete. »Weil sie uns gerufen hat«, sagte sie. »Seien Sie sicher, Mrs Sallis, wir finden die Statue und führen die Diebe ihrer gerechten Strafe zu.«

»Die Statue soll einfach nur zu ihrem rechtmäßigen Besitzer zurückkehren«, sagte die alte Frau hastig. »Niemand darf wissen, dass Sie für mich arbeiten, und den Mallahans darf nichts geschehen. Das sind nette Leute.«

Es ist eher ungewöhnlich, dass jemand Leute, mit denen er seit Generationen im Krieg liegt, als »nett« bezeichnet, aber Theodora nickte und sagte: »Verstehe.«

»Wirklich?«, wollte die Frau wissen. »Versprechen Sie, die Statue ihrem rechtmäßigen Besitzer zurückzugeben, und versprechen Sie, den Namen Sallis aus der Sache herauszuhalten?«

Meine Mentorin wedelte mit der Hand, als wollte sie ein Insekt verscheuchen. »Ja, ja, sicher.«

Mrs Sallis richtete den Blick auf mich. »Was ist mit dir, Junge? Versprichst du es?«

Ich sah ihr in die Augen. Für mich ist ein Versprechen kein Insekt, das man verscheucht. Es ist ein Versprechen. »Ja«, sagte ich. »Ich verspreche, die Statue ihrem rechtmäßigen Besitzer zurückzugeben, und ich verspreche, niemandem zu sagen, wer uns beauftragt hat.«

»Wer mich beauftragt hat«, korrigierte Theodora mich streng. »Du bist nur mein Praktikant. Nun, Mrs Sallis, ich denke, wir wissen fürs Erste genug.«

»Vielleicht könnte Mrs Sallis uns noch sagen, wie die Statue aussieht?«, schlug ich vor.

»Bitte entschuldigen Sie«, sagte Theodora zu Mrs Sallis. »Mein Praktikant hat offenbar nicht zugehört. Aber ich erinnere mich sehr gut. Sie ist so groß wie eine Milchflasche und aus glänzendem schwarzem Holz.«

»Aber was stellt sie dar?«

Mrs Murphy Sallis hinkte einen Schritt näher und fasste uns beide düster ins Auge. »Die Bordunbestie«, sagte sie. »Das ist ein Fabelwesen, das einem Seepferd ähnelt. Sein Kopf sieht so aus.«

Und sie hob eine schlaffe Hand von ihrem Krückstock, in dessen Knauf der Kopf einer seltsamen Kreatur geschnitzt war. Die Kreatur hatte etwa so viel Ähnlichkeit mit einem Seepferd wie ein Falke mit einem Huhn. Ihre Augen waren schmal und wild, und ihre Lefzen waren zurückgezogen und entblößten Reihen winziger, spitzer Zähne. Selbst am Knauf eines Krückstocks wirkte sie wie etwas, um das man lieber einen großen Bogen macht, aber schließlich stellen sich viele Menschen Scheußlichkeiten auf den Kaminsims.

»Danke«, sagte Theodora knapp. »Sie hören von uns, Mrs Sallis. Wir finden allein hinaus.«

»Danke«, sagte die alte Frau mit einem neuerlichen schweren Seufzer, während wir den Gang zurück zur Haustür und ins Freie gingen. Der Butler stand mit dem Rücken zu uns auf dem Rasen, in der Hand ein Schälchen mit Samenkörnern, die er einer Schar lärmender Vögel hinwarf. Sie pfiffen ihm etwas vor, und er pfiff zurück, täuschend ähnlich. Es wäre hübsch gewesen, noch ein paar Minuten länger zuzuschauen, und ich wünschte, ich hätte es getan. Aber stattdessen ließ Theodora den Motor an, stülpte sich ihre Kappe wieder auf den Kopf und brauste die Auffahrt hinunter, ehe ich noch die Tür richtig zuschlagen konnte.

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»Der Fall ist leicht zu lösen«, verkündete sie aufgeräumt. »Es passiert nicht oft, dass ein Klient den Namen des Schuldigen gleich mitliefert. Du bringst mir Glück, Snicket.«

»Wenn Mrs Sallis wusste, wer der Einbrecher war«, fragte ich, »warum wollte sie dann nicht zur Polizei gehen?«

»Das tut nichts zur Sache«, sagte Theodora. »Viel wichtiger ist es herauszufinden, wie die Mallahans durch die Decke gelangt sind.«

»Wir wissen doch gar nicht, ob sie durch die Decke gelangt sind«, wandte ich ein.

»Die Fenster waren verriegelt«, sagte Theodora. »Wie sollen sie also sonst in die Bibliothek gekommen sein?«

»Wir sind durch eine Flügeltür hereingekommen«, gab ich zu bedenken, aber Theodora schüttelte nur verächtlich den Kopf und fuhr weiter. Wir passierten wieder das kleine weiße Häuschen und hielten dann vor dem Leuchtturm, der dringend einen neuen Anstrich gebraucht hätte und ganz leicht Schlagseite zu haben schien.

»Hör zu, Snicket«, sagte sie, indem sie die Kappe wieder absetzte. »Bei einem Diebeshaus können wir nicht einfach an die Tür klopfen und herausposaunen, dass wir gestohlene Ware suchen. Wir müssen mit Finesse vorgehen, ein Wort, das hier so viel bedeutet wie ›Trick‹. Und sag jetzt nicht, dass du das weißt. Sag am besten gar nichts. Hast du gehört, Snicket?«

Das hatte ich, deshalb schwieg ich. Sie marschierte zur Tür des Leuchtturms und klingelte sechsmal hintereinander.

»Warum klingeln Sie immer …«

»Gar nichts, habe ich gesagt«, zischte Theodora, während schon die Tür aufging. Vor uns stand ein Mann mit Bademantel, Pantoffeln und einem großen, gähnenden Mund. Es wirkte nicht so, als hätte er vor, den Bademantel in absehbarer Zeit auszuziehen.

»Ja?«, sagte er, als das Gähnen mit ihm fertig war.

»Mr Mallahan?«, fragte Theodora.

»Der bin ich.«

»Sie kennen mich nicht«, sagte sie mit einer hellen, künstlichen Stimme. »Ich bin eine junge Frau, und das ist mein Mann, und wir sind auf Hochzeitsreise, und wir haben beide einen Leuchtturmfimmel. Dürften wir vielleicht reinkommen und uns mit Ihnen unterhalten?«

Mallahan kratzte sich am Kopf. Ich wollte schon die Hände hinterm Rücken verstecken, weil ich keinen Ehering trug, aber dann wurde mir klar, dass es noch mehr Gründe gab, daran zu zweifeln, dass ein Junge von fast dreizehn mit einer Frau in Theodoras Alter verheiratet war, also ließ ich meine Hände, wo sie waren. »Von mir aus«, sagte der Mann, und wir traten in einen kleinen Raum, von dem eine breite Wendeltreppe abging. Die Treppe führte allem Anschein nach zur Spitze des Leuchtturms hinauf, aber um dorthin zu gelangen, hätte man erst über das Mädchen steigen müssen, das mit einer Schreibmaschine auf den Knien auf den Stufen saß. Ich schätzte sie auf etwa mein Alter; die Schreibmaschine war mindestens eine Generation älter. Das Mädchen hackte ein paar Sätze in die Tasten, hielt dann inne und lächelte mich an. Sie sah nett aus mit diesem Lächeln und dazu dem Hut, den sie trug, einem braunen Hut, der oben gerundet war wie ein kleines a. Sie hob den Blick von ihrer Arbeit, und ich sah, dass ihre Augen voller Fragen waren. »Ich wollte grade den Kaffee suchen«, sagte Mallahan und zeigte auf eine offene Tür, durch die ich in eine kleine Küche voller Geschirrberge sehen konnte. »Möchten Sie auch einen?«

»Nein«, sagte Theodora, »aber ich komme mit und schwatze mit Ihnen, dann können die Kinder spielen.«

Mallahan zuckte die Achseln und schlurfte voran in die Küche, während Theodora hastige Scheuchbewegungen in meine Richtung machte. Es gibt nichts Grässlicheres, als zum Spielen geschickt zu werden, noch dazu mit Menschen, die man nicht kennt. Trotzdem stieg ich die Stufen hinauf, bis ich vor dem tippenden Mädchen stand.

»Ich heiße Lemony Snicket«, sagte ich.

Sie hörte zu tippen auf und zog ein Kärtchen aus ihrem Hutband, das sie mir hinstreckte.

Moxie Mallahan

Neueste Nachrichten

»Neueste Nachrichten«, wiederholte ich. »Was gibt’s denn an Neuem, Moxie?«

»Das versuche ich gerade herauszufinden«, erwiderte sie und tippte noch ein paar Worte. »Wer ist diese Frau, die an der Tür geläutet hat? Wie kann sie mit dir verheiratet sein? Wo kommt ihr her? Wieso habt ihr einen Leuchtturmfimmel? Warum hat sie dich weggescheucht? Und schreibt man Snicket so, wie man es spricht?«

»Ja.« Ich beantwortete die letzte Frage als Erstes. »Bist du Reporterin?«

»Ich bin die einzige Reporterin, die es in Schwarz-aus-dem-Meer noch gibt«, sagte Moxie. »Das Schreiben liegt mir im Blut. Meine Eltern waren beide Reporter, als das hier kein bloßer Leuchtturm war, sondern gleichzeitig auch eine Zeitung, der Schwarze Leuchtturm. Vielleicht hast du ja davon gehört?«

»Leider nein«, sagte ich, »aber ich bin auch nicht von hier.«

»Tja, die Zeitung ist eingegangen, aber ich versuche immer noch, über alles auf dem Laufenden sein, was hier in der Stadt los ist. Also?«

»Was, also?«

»Was ist los, Snicket? Sag mir, was hier vorgeht.«

Sie legte die Hände auf die Tasten, wie um jede meiner Aussagen sofort mitzutippen. Ihre Finger schienen es kaum erwarten zu können.

»Heißt das, du weißt Bescheid über alles, was bei euch in der Stadt passiert?«, fragte ich.

»Natürlich.«

»Ganz im Ernst, Moxie?«

»Ganz im Ernst, Snicket. Sag mir, was hier gespielt wird, dann kann ich dir vielleicht helfen.«

Ich hörte auf, ihre Schreibmaschine anzustarren, und betrachtete stattdessen ihre Augen. Sie hatten eine interessante Farbe – ein Dunkelgrau, als wären sie ursprünglich einmal schwarz gewesen, und jemand hätte sie gewaschen, oder als hätte Moxie lange Zeit geweint. »Kann ich dir etwas erzählen, ohne dass du es aufschreibst?«, fragte ich.

»Eine vertrauliche Information, meinst du?«

»Eine vertrauliche Information, genau.«

Sie griff unter die Schreibmaschine und zog einen Hebel, und das Gerät faltete sich zu einem Kasten mit Henkel zusammen, einer Art schwarzem Metallkoffer. Kein schlechter Trick. »Nämlich?«

Ich sah die Stufen hinunter, ob auch wirklich niemand mithörte. »Ich versuche ein Rätsel zu lösen«, sagte ich, »das mit der Bordunbestie zu tun hat.«

»Dem Fabelwesen?«

»Nein, einer Statue davon.«

»Dieser olle Plunder?«, sagte sie mit einem Lachen. »Komm mit.«

Sie stand auf und lief die Wendeltreppe hoch, wobei ihre Schuhe die Art Gepolter veranstalteten, das Mütter mit Migräne ins Bett treibt. Ich folgte ihr ein paar Windungen hinauf in einen großen Raum mit hohen Wänden und fast ebenso hohen Bergen von Gerümpel. Hier und da standen große, verstaubte Maschinen, deren Kurbeln zottlig waren von Spinnweben und deren Knöpfe seit Jahren niemand mehr gedrückt hatte. Auf Tischen waren Stühle übereinandergestapelt, unter Schreibpulten türmten sich Papierbündel. Alles zeugte davon, dass hier einmal reger Betrieb geherrscht hatte, aber jetzt waren Moxie und ich ganz allein da, und all die Betriebsamkeit war nur noch ein Geist.

»Das ist die Nachrichtenredaktion«, sagte sie. »Der Schwarze Leuchtturm arbeitete an vorderster Front, Tag und Nacht wurden Artikel verfasst, und hier schlug das Herz des Ganzen. Wir haben die Fotos im Keller entwickelt, und die Reporter haben ihre Artikel oben im Funkraum getippt. Gedruckt wurde mit fangfrisch gewonnener Tinte, und zum Trocknen hängten wir die Seiten an der langen Trosse auf, die gleich hier beim Fenster losgeht.«

»Trosse?«, fragte ich, und sie polterte zum Fenster und öffnete es. Draußen, hoch über den Baumwipfeln, zog sich ein langes, dickes Kabel hügelabwärts bis zu den erleuchteten Fenstern des Herrenhauses, von dem wir eben kamen.

»Sieht aus, als würde es direkt zu dem Haus von Mrs Sallis gehen«, sagte ich.

»Die Mallahans und die Sallis’ sind seit Generationen befreundet«, sagte Moxie. »Unser Wasser kam aus ihrem Brunnen, und unsere Wissenschafts- und Gartenreporter haben auf ihrem Gelände ihre Studien durchgeführt. Unser Redakteur hatte sich bei ihnen im Gästehaus eingemietet, und wir haben für ihre Mitternachts-Federball-Partys das Leuchtfeuer angeknipst. Das ist jetzt natürlich alles vorbei.«

»Warum?«

»Nicht genug Tinte«, sagte Moxie. »Die Tintenfische sind bis auf ein paar letzte Schwärme aufgebraucht. Die Stadt ist am Zerfallen, Snicket. Eine Bibliothek und eine Polizeiwache gibt es noch, und ein paar Geschäfte haben noch geöffnet, aber die Hälfte der Gebäude ist unbewohnt. Der Schwarze Leuchtturm hat den Betrieb eingestellt. Fast alle Tintenarbeiter sind entlassen worden. Der Zug verkehrt vielleicht einmal im Monat. Bald wird von Schwarz-aus-dem-Meer nichts mehr übrig sein. Meine Mutter hat einen Brief aus der Hauptstadt bekommen und eine Stelle bei einer dortigen Zeitung angenommen.«

»Wann holt sie dich nach?«, fragte ich.

Moxie sah schweigend aus dem Fenster, und ich begann zu ahnen, um wen sie geweint haben mochte. »Bald«, sagte sie mit einem Seufzer, der mir klarmachte, dass ich besser nicht gefragt hätte.

»Die Bordunbestie«, erinnerte ich sie.

»Ach, richtig«, sagte sie und ging hinüber zu einem Tisch, der mit einem Laken verdeckt war. »Die Bordunbestie war sozusagen das Maskottchen der Zeitung. Ihr Körper bildete das S von Schwarz. Der Legende nach hat Lady Mallahan vor Jahrhunderten die Bestie auf einer ihrer Entdeckerreisen getötet. Deshalb hat meine Familie auch jede Menge Bordunbestien-Souvenirs, aber niemand hat sich je dafür interessiert außer …«

»Snicket!«, kam Theodoras Stimme vom Fuß der Treppe. »Wir gehen!«

»Gleich!«, rief ich zurück.

»Jetzt in dieser Sekunde, Snicket!«, rief Theodora, aber ich folgte nicht jetzt in dieser Sekunde. Ich blieb und sah Moxie zu, wie sie das Laken von einem weiteren Haufen Zeug wegzog, das keiner brauchte. Das Seepferdgesicht der Bordunbestie wurde um nichts weniger abstoßend, je öfter ich es sah. Drei Plüsch-Bordunbestien gab es, falls jemand einem Baby einen Schreck fürs Leben einjagen wollte, und einen Satz Spielkarten mit dem Bild der Bordunbestie auf der Rückseite. Es gab Bordunbestien-Kaffeebecher und Bordunbestien-Müslischalen, dazu Bordunbestien-Sets samt passenden Servietten. Aber inmitten all dieser bestialischen Gerätschaften, zwischen dem Bordunbestien-Aschenbecher und den Bordunbestien-Kerzenhaltern, stand ein Objekt von tiefem, glänzendem Schwarz. Laut Moxie war es oller Plunder, laut Mrs Murphy Sallis war es alles andere als das. Es war etwa so hoch wie eine Milchflasche, und sein Schätzwert belief sich auf eine mehr als astronomische Summe. Es war die Bordunbestie, die Statue, nach der wir suchten, so staubig und vergessen wie alles andere in diesem Raum.

»Snicket!«, rief Theodora wieder, aber ich antwortete ihr nicht. Stattdessen redete ich mit der Statue. »Hallo«, sagte ich. »Was machst du denn hier?«

Moxie sah mich an und lächelte. »Damit ist dein Rätsel wohl gelöst, oder, Snicket?«, fragte sie, aber auch das hätte sie besser nicht gesagt.