Elftes Kapitel
»Hallo?«
»Hier ist Ellington«, sagte die Stimme aus dem Hörer. Sie klang belegt und verzagt, aber vielleicht lag das auch an der Verbindung. »Ich bin in großen Schwierigkeiten.«
»Wo steckst du?«
»Er hat mich in seiner Gewalt«, sagte die Stimme. »Du musst mir helfen.«
»Brandhorst?«
»Brandhorst.« Ich bin kein sehr behaarter Mensch, aber jedes einzelne meiner Haare richtete sich beim Klang dieses Namens auf und stand zu Berge. Der Klang wirkte anscheinend auch auf Prosper Weiss, der wieder hinter seinem Tresen hervorkam und angelegentlich den Staub aus den Sofakissen zu klopfen begann. Ich wünschte, mein Belauschen-für-Anfänger-Lehrer wäre mit in der Hotelhalle gewesen, um ihn mit Pauken und Trompeten durchrasseln zu lassen.
»Er stand plötzlich vor mir und hat mich aus der Weißwimpelhöhe gezerrt und in dieses Verlies gesperrt. Ich komme um vor Angst.«
»Wie gut, dass du wenigstens ein Telefon gefunden hast«, sagte ich.
»Hast du die Statue?«
»Die Bordunbestie?«, fragte ich, und richtig, Prosper Weiss rückte noch ein Kissen näher an mich heran. Staub, Staub, nichts als Staub, Mr Weiss, dachte ich.
»Hast du sie bei dir, Lemony?«
Sie hatte mir besser gefallen, als sie mich noch Junker Snicket genannt hatte. Aber sie hatte mir natürlich auch besser gefallen, als sie noch sie selbst gewesen war. »Ich halte es für unklug, diese Frage am Telefon zu beantworten«, sagte ich.
»Sicher«, erwiderte die Stimme. »Aber wenn du sie hast, bring sie schnellstmöglich zum Bottrop Boulevard 1300.«
»Wenn ich sie habe«, sagte ich, »soll ich sie also lieber in tiefer Nacht bei einer fremden Adresse abliefern, als sie hierzubehalten, wo sie in Sicherheit ist?«
»Wenn er die Statue bekommt, lässt er mich frei. Bitte beeil dich, Lemony!«
»Immerhin war es nett von ihm, dass du noch deine Sachen packen durftest, bevor er dich aus dem Haus gezerrt hat«, sagte ich. »Sogar dein Plattenspieler war weg. Wie hieß dieses Stück gleich wieder?«
»Beeil dich«, hörte ich noch einmal, und dann brach das Gespräch ab. Ich musste zugeben, dass die Stimme tatsächlich wie die von Ellington Feint geklungen hatte, so wie sie davor wie die von Mr Mallahan geklungen haben musste und davor, bei Moxie, wie meine Stimme. Ich sah auf das Paket in meinen Händen.
»Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein?«, fragte Prosper Weiss und knetete die verstaubten Hände ineinander. Mir lagen plötzlich noch ein paar andere Ausdrücke für »servil« auf der Zunge, einer unfreundlicher als der nächste.
»Ja«, sagte ich und gab ihm mein Bücherpaket. »Könnten Sie wohl dieses Päckchen für mich aufbewahren?«
»Aber gern«, sagte er. Devot.
»Danke«, sagte ich. »Es kann sein, dass schon sehr bald jemand danach fragt.«
»Um diese Zeit?«, fragte er. Hündisch.
»Sie würden sich wundern, was um diese Zeit noch alles passieren kann«, sagte ich, ging zur Tür hinaus und klopfte an das Fenster des Bellerophon-Taxis. Boing schlug die Augen auf und kurbelte das Fenster herunter.
»Gott, Snicket, schläfst du auch mal?«, fragte er.
»Und euer Vater«, fragte ich zurück, »fährt der diese Klapperkiste auch mal?«
»Er ist krank, das weißt du doch«, sagte Boing. »Brauchst du ein Taxi?«
»Braucht ihr einen Buchtipp?«
»Immer.«
»Ich glaube, mit dem Buch über den Stepptänzer habt ihr doch recht.«
»Das soll ein Tipp sein?«
»Tut mir leid«, sagte ich. »Ist schon ein bisschen spät. Dafür gibt’s beim nächstem Mal zwei.«
Boing sah nach unten und stupste seinen Bruder an. »Wach auf, Quietsch. Wir haben einen Fahrgast.«
»Wohin geht’s?«, rief Quietsch vom Bremspedal hoch.
»Bottrop Boulevard 1300«, sagte ich.
»Da ist nichts, Snicket«, sagte Boing. »Von allen leeren Vierteln in Schwarz-aus-dem-Meer ist das wahrscheinlich das leerste.«
»Da steht kein einziges Haus mehr«, bestätigte Quietsch, während ich hinten einstieg.
»Kennt ihr das, wenn jemand euch sagt, unter seinem Bett ist ein Ungeheuer?«, fragte ich. »Und ihr wisst genau, dass da nichts sein kann, aber ihr müsst trotzdem unterm Bett nachschauen? So ähnlich ist das jetzt auch.«
»Klingt nach Abenteuerausflug«, meinte Boing und ließ den Motor an.
»Apropos Abenteuerausflug, habt ihr Der Wind in den Weiden gelesen?«, sagte ich. »Müsst ihr sonst unbedingt.«
»Das ist schon eher ein Tipp«, sagte Boing. »Also, dann wollen wir mal.«
Mit röhrendem Motor und quietschenden Bremsen ließen die Bellerophon-Brüder die weniger zerfallenen Viertel von Schwarz-aus-dem-Meer hinter sich, und bald fuhren wir durch Straßen, in denen es kein einziges offenes Geschäft mehr gab. Als Nächstes fuhren wir durch Straßen, in denen es kein einziges Licht mehr gab – sogar die Ampeln an den Kreuzungen fehlten. Und dann fuhren wir den Bottrop Boulevard entlang, an dem, wie Quietsch vorausgesagt hatte, weit und breit nicht ein einziges Haus stand. Das Taxi bremste an der ersten Straßenkreuzung, und beidseits des Boulevards erstreckte sich über dreizehn Querstraßen hinweg flaches, leeres Gelände, aus dem nur hier und da ein kleiner Geröllhaufen aufragte.
Ellington Feint saß nirgendwo am Bottrop Boulevard 1300 gefangen, aber ich ließ mich von Boing und Quietsch trotzdem bis ans Ende der Straße fahren, wo wir vor einem besonders flachen, besonders leeren Grundstück anhielten. In der Hauptstadt gingen unter manchen Gebäuden unterirdische Geheimgänge weg, aber ich sah auf einen Blick, dass es hier weder eine Tür noch sonst eine Öffnung gab, hinter der sich ein Gang, geheim oder nicht, hätte befinden können. Hier war ganz einfach nichts.
»Was hab ich dir gesagt?«, quietschte Quietsch.
»Du hattest recht«, sagte ich. »Tut mir leid, dass ich eure Zeit verschwendet habe. Fahren wir zurück.«
»Du verschwendest unsere Zeit nicht, Snicket«, sagte Boing mit einem müden Grinsen. »Du und deine Mentorin seid das Interessanteste, was diese Stadt seit langem gesehen hat.«
Ich grinste zurück, und nach dem Bremsenquietschen zu urteilen, grinste Quietsch ebenfalls. »Gute Nacht«, sagte ich, als wir den Weißen Torso erreichten. Prosper Weiss stand auf der morschen Veranda und sah uns entgegen.
»Guten Abend«, sagte er mit seiner dünnen Stimme. »Schön, Sie wiederzusehen.«
»Danke«, erwiderte ich. »Hat jemand nach dem Paket gefragt?«
»Ein Herr kam, gleich nachdem Sie gegangen waren«, sagte er. »Er hat das Paket an sich genommen, schien aber recht erzürnt, deshalb habe ich ihn zur Fernostsuite hochgeschickt.«
»Sie haben was?«
»Ihn hoch in Ihr Zimmer geschickt, damit er sich mit Miss Markson unterhalten kann«, sagte Prosper Weiss mit kaum wahrnehmbarem Lächeln.
Ich eilte an ihm vorbei durch die Hotelhalle. Der Besitzer des Weißen Torso folgte mir, ohne auch nur eine Sekunde lang so zu tun, als wollte er etwas abstauben. Schon am Fuß der Treppe konnte ich die Schreie hören.
»Soll ich die Polizei holen?«, erkundigte sich Prosper.
»Nein«, sagte ich. »Suchen Sie ein sauberes Papier und einen spitzen Bleistift und malen Sie darauf neun Reihen von jeweils vierzehn Kästchen«, und ich rannte die Stufen hinauf, während er mir mit offenem Mund nachsah. Die Tür zur Fernostsuite stand sperrangelweit offen. Am Türknauf klebte etwas, was grün und zäh aussah. Fürchten kannst du dich später, befahl ich mir.
An S. Theodora Markson war eine Opernsängerin verloren gegangen. Ihre Schreie wurden durch das Taschentuch, mit dem sie geknebelt war, kaum gedämpft. Das Tuch war Ton in Ton mit den weißen Stoffstreifen, mit denen man ihr Arme und Beine gefesselt hatte, so dass sie auf dem Bett hin und her zappelte wie ein Schmetterling, dessen Kokon sich als zäher erweist als geplant. Der Rest der Suite war verheert, ein Wort für etwas, das man bei fremden Zimmern unter Umständen lustig findet, beim eigenen aber nicht. Noch das letzte von Theodoras Kleidungsstücken war aus den Schubladen gerissen, und mein Koffer war unterm Bett hervorgezerrt und auf dem Boden ausgekippt worden. Wild verstreute Kleider sind immer ein peinlicher Anblick, auch wenn es eigentlich keinen Grund dafür gibt. Der Tisch war umgestürzt, und die Fensterläden baumelten nutzlos vom offenen Fenster weg. Ich sah im Bad nach, aber dort war niemand. Brandhorst musste zum Fenster hinausgeklettert sein. Das Einzige, was er verschont hatte, war das Bild von dem kleinen Mädchen, das den Hund mit der verbundenen Pfote im Arm hielt. Ihr Blick schien darum zu bitten, dass ich Theodora losband. Ich versuchte als Erstes, den Taschentuchknebel aufzuknibbeln, aber es war irgendein Spezialknoten. Theodora zeigte kopfruckend und augenblinzelnd in Richtung Bad und bedeutete mir, dass ich dort ein Messer finden würde. Ich sah nach, aber ich fand keins. Theodora bedeutete mir, dass ich noch einmal schauen sollte. Ich schaute noch einmal, fand aber immer noch keins. Mit noch komplizierteren Kopfbewegungen und noch heftigerem Blinzeln stellte sie klar, dass sie kein Messer gemeint hatte, sondern eine Nagelschere. Ich fand sie und säbelte damit mühselig das Taschentuch vor ihrem Mund durch, damit sie mich besser anschreien konnte.
»Das ist ganz allein deine Schuld, Snicket!«
Wenn man gefesselt ist, ist das für gewöhnlich die Schuld desjenigen, der einem die Fesseln angelegt hat. Andererseits kann man, wenn man gefesselt ist, leicht ein bisschen außer sich sein und Dinge sagen, die man gar nicht meint. »Wie sah er aus?«, fragte ich, während ich die Stoffstreifen an ihren Handgelenken in Angriff nahm. Sie stammten von einem zerrissenen Bettlaken, stellte ich fest, aber die Ränder waren ungewöhnlich schartig und fransig, und an manchen Stellen fühlten sie sich feucht an. Er hatte seine Zähne benutzt. Ich mochte nicht näher über einen Menschen nachdenken, der ein Laken mit den Zähnen zerriss. Es hatte etwas zu Wildes, Tierhaftes.
»Er trug eine Maske«, sagte Theodora. »Er hat gedroht, mich umzubringen.« Ihre Augen blinzelten immer weiter. Sie hatte zu weinen begonnen. Weinen ist sozusagen das Gegenteil einer Standpauke, denn weinen darf man als Erwachsener nicht. »Er bringt uns beide um, Snicket, wenn er die Statue nicht bekommt. Er ist ein furchtbarer Mann. Er ist verabscheuenswert. Er ist Abschaum, ein Wort, das hier so viel bedeutet wie furchtbar und verabscheuenswert. Wir müssen ihm die Bordunbestie geben.«
»Das ist gegen unser Versprechen«, erinnerte ich sie, während ein Lakenstreifen von ihren Handgelenken abfiel. »Wir haben versprochen, die Bordunbestie ihrem rechtmäßigen Besitzer zurückzubringen.«
Theodora holte tief Atem und schnappte mir die Nagelschere weg, um ihre Füße zu befreien. »Und warum bringen wir sie dann nicht einfach Mrs Sallis?«
»Das war nicht Mrs Sallis«, sagte ich. »Das war eine Schauspielerin. Dieser ganze Auftrag war eine Finte, und dahinter steckt Brandhorst. Er imitiert Stimmen am Telefon. Er bedroht die Menschen. Er tut alles in seiner Macht Stehende, um die Statue in seine Gewalt zu bringen. Er darf sie auf gar keinen Fall bekommen.«
»Du bist nur ein Praktikant in der Probezeit«, sagte Theodora streng. »Du tust gefälligst, was deine Mentorin dir befiehlt. Und jetzt scher dich raus hier. Ich ertrage deinen Anblick nicht mehr.«
»Aber Theodora …«
»Raus!«, schrie sie und vergrub das Gesicht in dem verheerten Bett. Ihre Schultern unter der Haarmähne zuckten. Ich wischte den Türknauf sorgsam mit meinem Taschentuch sauber, zog leise die Tür hinter mir zu und trottete todmüde aus der Fernostsuite. Theodora war schon die Zweite, die ich heute aus Brandhorsts Fängen befreit hatte, und zum zweiten Mal erntete ich nur Undank. Auch wenn ich Kaffee nicht mochte, glaubte ich zu wissen, was Ellington mit seiner aufbauenden Wirkung gemeint hatte, und so trottete ich weiter zum Ausgang, vorbei an Prosper Weiss, der sich über ein Blatt Papier beugte und etwas an den Fingern abzählte. Mein Taschentuch warf ich in den Müll. Es roch salzig und besudelt. Boing und Quietsch in ihrem Taxi schliefen schon wieder, und ich brachte es nicht übers Herz, sie zu wecken. Ich ging zu Fuß. Bis zur Ecke Caravan und Parfait war es weniger weit, als ich gedacht hatte. Wie beim letzten Mal schienen die Räumlichkeiten leer, obwohl das Pianola seine reizvolle und schwierige Melodie spielte und die blitzenden Apparaturen nur darauf warteten, mir B oder C vorzusetzen. Aber ich starrte stattdessen auf A und die Ausziehtreppe, die einen zweiten Grund darstellte, warum eine Freundin von mir noch in die Stadt kam.
Mit etwas mehr Aufmerksamkeit hätte mir auffallen müssen, dass auf dem großen Tisch am Ende der Treppe fast keine Post mehr lag. Aber so aufmerksam war ich nicht. Ich schaute nur auf die Gestalt vor mir, die mir den Rücken zukehrte. Rechts und links von ihr standen ein großer gestreifter Koffer und ein seltsames Behältnis, das die ideale Form für einen altmodischen Plattenspieler hatte. Die Gestalt trug eine grüne Handtasche über der Schulter, die einer Wurst mit Reißverschluss ähnelte, und ließ den Blick die Regale voll bedruckter Kaffeepackungen entlangwandern. Dann drehte sie sich um, und ich sah ihr rabenschwarzes Haar und ihre Augenbrauen, die geschwungen waren wie Fragezeichen, und die grünen Augen darunter.
»Lemony Snicket«, sagte sie.
»Ellington Feint«, sagte ich, und nun bemerkte ich auch ihr Lächeln, dieses Lächeln, das alles hätte bedeuten können.