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Siebtes Kapitel

Pechschwarze Finsternis umschloss mich, und ich hatte das Gefühl, als hätte sich ein riesiger Schatten über mich gelegt. Ich wusste, wie es ging, es war ja Teil meines Trainings gewesen, aber das heißt nicht, dass es nicht schwierig oder unheimlich war, so zu fallen. Es war schwierig. Und unheimlich war es auch. Der Sturz war schnell und dunkel. Ich landete mit dem Rücken in dem Baum, und viele aufgebrachte Blätter und Zweige stachen mich. Das Gefühl blieb. Ich entspannte mich, wie ich es in den Übungen gelernt hatte, ich ließ mich von dem Baum tragen, aber den riesigen Schatten spürte ich trotzdem noch. Er kam nicht von der Trosse oder einem der umstehenden Bäume. Er kam von dem Gesicht, das neben mir aufgetaucht war, dem Gesicht eines Mädchens etwa in meinem Alter. Ich sah auch die Hände des Mädchens. Sie lagen um die Enden einer Leiter, die sie an den Baum gelehnt haben musste. Und schon jetzt, während sie von der obersten Sprosse auf mich herabblinzelte, sagte mir etwas, dass der Schatten, den dieses Mädchen warf, auf mein ganzes Leben abfärben würde.

»Alle Achtung«, sagte sie. »Wo hast du gelernt, so in einen Baum zu fallen?«

»Ich habe eine unorthodoxe Erziehung genossen«, sagte ich.

»Und hast du auch gelernt, wie du vom Baum herunterkommst?«

»Ich dachte, ich warte auf jemanden mit einer Leiter.«

»Jemanden?«, wiederholte sie. »Wen genau?«

»Schwer zu sagen«, sagte ich. »Ich weiß ihren Namen nicht.«

»Tag«, sagte sie, »ich bin Ellington Feint«, und ich setzte mich auf, um bessere Sicht auf sie zu haben. Trotz der Dunkelheit konnte ich ihre seltsam geschwungenen Augenbrauen sehen, die sich hochbogen wie Fragezeichen. Die Augen darunter grün. Haare so schwarz, dass die Nacht dagegen fahl schien. Ihre sehr langen Finger mit Nägeln von demselben tiefen Schwarz schauten aus einem schwarzen Hemd mit langen glatten Ärmeln hervor. Und in dem Moment, als sie sich an den Abstieg machte, sah ich sie lächeln, schattenhaft im Mondlicht. Es war ein Lächeln, das alles hätte bedeuten können. Sie war ein Stück älter als ich oder vielleicht auch nur ein Stück größer. Ich folgte ihr hinunter.

Auf dem Boden angekommen musterte Ellington Feint mich prüfend und zupfte mir ein paar Blätter vom Kragen, bevor sie mir die Hand hinstreckte. Die Statue drückte mir gegen das Brustbein, und meine Handflächen brannten von der Trosse. Von Theodora war nichts mehr zu sehen. Möglicherweise war ihr nicht einmal aufgefallen, dass ich weg war. »Du hast mir noch nicht gesagt, wie du heißt«, sagte Ellington.

Ich nahm die Hand und sagte es ihr.

»Lemony Snicket, aha«, wiederholte sie. »Dann komm mit, Junker Snicket. Ich wohne in dem weißen Häuschen, an dem du vorhin vorbeigeturnt bist. Da kannst du dich von deinem Höhenflug erholen.«

Sie führte mich durch die Bäume zu dem Häuschen, das ich schon von der Straße und der Trosse aus bemerkt hatte. Eigenartigerweise wirkte es aus der Nähe noch kleiner mit ein paar Fenstern hier und dort und einer Tür, die aussah, als müsste sie knarzen, und einem weißen Ziegelschornstein, der grauen Rauch in die Nacht hinausblies. Auf einem schmalen Mauerbogen über der Tür stand in ausgeblichenen Buchstaben Weisswimpelhöhe. »Angeblich hat hier früher eine Wäscherin gewohnt«, sagte Ellington, als sie meinen Blick sah. »Sie hat hinten im Garten immer das Weißzeug flattern lassen, und das hat dem Haus seinen Namen gegeben.«

»Wer wohnt hier jetzt?«, fragte ich.

»Nur ich«, sagte sie und öffnete die Tür. Das Haus bestand aus einem einzigen kleinen Zimmer, und dieses Zimmer schien zum größten Teil aus einem Kamin zu bestehen, dessen bunte Flammen alle Winkel erleuchteten. Das Feuerprasseln vermischte sich mit der Musik im Zimmer, einer Musik, wie ich sie noch nie gehört hatte, die mir aber auf Anhieb gefiel. In der hinteren Ecke stand ein Feldbett mit ein paar zerwühlten Decken und Kissen, und auf dem Fußboden davor lag aufgeklappt ein großer gestreifter Koffer, aus dem Kleidungsstücke aller Art quollen. Mein Blick fiel auf ein langes, extravagantes Abendkleid, klobige Wanderschuhe, eine Schürze wie von einem Koch, eine rote Perücke, ein wurstförmiges grünes Reißverschlussgebilde, das wahrscheinlich als Handtasche diente, und zwei schmutzige, abgestoßene, himbeerrote kleine Hüte, wie ich sie Franzosen auf alten Fotografien hatte tragen sehen. In der Ecke gegenüber waren ein kleines Spülbecken und ein niedriger, vollständig leer geräumter Holztisch mit einem einzelnen Schemel darunter. Auf einem Fensterbrett lag ein verkratzter Feldstecher, und auf dem Boden in der Zimmermitte stand ein Kasten mit einer Kurbel an der Seite und einem Trichter obendrauf. Es dauerte ein bisschen, bis ich begriff, dass das ein altmodischer Plattenspieler war und dass aus dem Trichter die ungewohnte Musik kam. Die Musik klang schwierig und reizvoll, und ich hätte gern gewusst, wie das Stück hieß. Bücher gab es in dem Raum keine, soweit ich sehen konnte. Das hätte mir zu denken geben müssen.

»Setz dich«, sagte Ellington und zeigte auf den Schemel. »Ich koche uns einen Kaffee. Das dürfte aufbauend wirken.«

»Kaffee?«, fragte ich mit lauterer, höherer Stimme als beabsichtigt. »Ich trinke keinen Kaffee.«

»Was trinkst du dann?«

»Wasser«, sagte ich. »Tee. Manchmal Milch. In der Früh Orangensaft. Wurzelbier, wenn ich welches kriege.«

»Aber keinen Kaffee?«

»Leute in unserem Alter trinken normalerweise keinen Kaffee«, sagte ich.

»Leute in unserem Alter lassen sich auch nicht in Bäume fallen«, sagte Ellington. »Wir haben wohl beide eine unorthodoxe Erziehung genossen.«

Ich zog mir den Schemel heran und setzte mich darauf, während Ellington am Spülbecken mit einer metallenen Kaffeekanne hantierte – sie ausschwenkte und dann mit Wasser füllte, bevor sie aus einer Papiertüte, die mit einer schwarzen Katzensilhouette bedruckt war, mehrere Messlöffel gemahlenen Kaffee dazugab. »Gatto Nero Caffè«, erklärte sie. »Ecke Caravan und Parfait. Das ist eines der letzten Geschäfte, die es in Schwarz-aus-dem-Meer noch gibt, und fast der einzige Grund, warum ich überhaupt noch in die Stadt gehe.« Sie seufzte. »Die meiste Zeit sitze ich einfach hier.«

»Und was macht du hier?«, wollte ich wissen.

Sie lächelte kurz. »Erst du«, sagte sie. »Warum fliegst du mitten in der Nacht durch die Luft?«

Ich langte unter mein Hemd und stellte die Bordunbestie auf den Tisch, fester als nötig, so dass es dumpf klack machte. Ellington sah flüchtig hin und griff nach einer rostigen Eisenzange, wie man sie zum Scheitewenden verwendet. Sie hob damit die Kaffeekanne auf und stellte sie zwischen die Flammen, ehe sie wieder zu mir sah.

»Was ist das?«, fragte sie. »Irgendein Spielzeug?«

Zum ersten Mal betrachtete ich die Statue in Ruhe. Die Bordunbestie ähnelte nach wie vor einem Seepferd, soweit man sich ein Seepferd als ein böses, tückisches Tier denken kann. Die Augen der Statue waren von nahem besehen kleine Löcher wie auch das Maul mit seinen zurückgezogenen Lefzen und den winzigen scharfen Zähnen, die sich in dünnen Reihen über leerer Luft wölbten. Die ganze Statue war hohl, merkte ich, und einen Moment lang stellte ich sie mir über eine Kerze gestülpt vor, so dass der Feuerschein schaurig zu Augen und Maul herausflackerte. Ich drehte sie um und untersuchte die Unterseite der Statue. In das Holz dort war ein seltsamer Schlitz geschnitten, den jemand mit einem kleinen, dicken Papierflicken überklebt hatte. Der Flicken fasste sich komisch an wie die Papierhüllen von Keksen in der Bäckerei. Ich schüttelte die Statue, um festzustellen, ob etwas darin war, aber es klapperte nichts. »Ich weiß nicht, was es ist«, sagte ich schließlich. »Angeblich ist es sehr viel Geld wert.«

»Und dieses Geld bekommst nun du«, sagte sie, »zum Lohn, dass du sie gestohlen hast?«

»So ungefähr.« Ich hielt mich bedeckt wie versprochen.

»Warum hast du dich dann in den Baum fallen lassen?«

»Etwas ist schiefgelaufen«, sagte ich.

»Was denn?«

»Das müsstest du besser wissen als ich«, sagte ich. »Du hast mich doch die ganze Zeit beobachtet.«

In der Kaffeekanne begann es zu gurgeln und zu blubbern, und Ellington nahm sie vom Feuer und stellte sie auf den Tisch, dann holte sie von dem Bord über der Spüle zwei Tassen und zwei Untertassen. Sie schenkte beide Tassen voll und ließ sie ein Momentchen vor uns auf dem Tisch dampfen. Der Dampf erfüllte den Raum, zusammen mit der merkwürdigen, ruckhaften Musik. Vor dem Fenster war es dunkel, aber bei Tag, das wusste ich, hätten wir über den ganzen weiten Klausterwald blicken können. Ellington zog ein Kissen vom Bett und hockte sich damit auf den Boden, ehe sie antwortete.

»Woher weißt du, dass ich dich beobachtet habe?«, fragte sie gedämpft.

»Ich habe in einem Fenster etwas blinken sehen«, sagte ich, »genau dort, wo der Feldstecher liegt. Du hast mich und meine Verbündete den ganzen Weg über beobachtet. Warum?«

»Ich beobachte dieses Areal schon seit Tagen«, sagte sie und nippte an ihrem Kaffee. Ich rührte meinen nicht an. Nicht weil ich fürchtete, sie könnte Laudanum hineingeschüttet haben, sondern einfach weil ich keinen Kaffee mochte. Nicht einmal den Geruch mochte ich, so dunkel und morastig. Ellington dagegen lächelte ein bisschen beim Trinken.

»Und was suchst du?«, fragte ich und zeigte auf die Bordunbestie. »Das hier?«

Sie setzte ihre Tasse ab und schnitt der Bestie eine Grimasse. Die Bestie fletschte die Zähne. »Ich suche etwas viel Wichtigeres als irgendwelche nutzlosen Statuen«, sagte sie. »Ich suche meinen Vater.«

»Was ist mit ihm?«

Sie stand auf. »Jemand hat ihn entführt – irgendein grauenvoller Mensch. Mein Vater und ich haben zusammen im Neuntötertal gewohnt, ein ganzes Stück weg von hier.«

»Ich habe davon gehört.«

»An sich kein schlechter Ort«, sagte Ellington, »aber irgendetwas war im Gange, was meinen Vater beunruhigte, das habe ich gemerkt. Und dann kam ich eines Tages von der Schule nach Hause, und mein Vater war nicht da. Er kam auch nicht zum Abendessen, und er kam nicht zur Schlafenszeit, und am Morgen rief ein Mann an. Er sprach mit furchtbar unheimlicher Stimme. Er sagte, sein Name sei Brandhorst, und ich würde meinen Vater nie wiedersehen. Das ist jetzt ein halbes Jahr her. Ich habe ununterbrochen nach ihm gesucht, und langsam glaube ich, dass Brandhorst die Wahrheit gesagt hat.« Sie ging zum Bett und zog einen chaotischen Packen von Notizblöcken, Zeitungen, Kuverts und Paketen darunter hervor. »Ich tue nichts anderes mehr«, sagte sie. »Ich bin jeder Fährte gefolgt, die ich nur finden konnte. Ich habe Dutzende von Leuten befragt. Ich bin Hunderten von Gerüchten nachgegangen. Ich habe Briefe und Telegramme geschrieben, Telefonate geführt und Besuche gemacht. Ich habe unzählige Pakete an Leute geschickt, die er kannte – die meisten haben das Neuntötertal nach dem Hochwasser verlassen. Ich schicke ihnen Fotos von meinem Vater, Kopien von Artikeln, die er geschrieben hat, alles, was für einen Anhaltspunkt gut sein könnte. Und jetzt habe ich gehört, Brandhorst soll sich hier in Schwarz-aus-dem-Meer versteckt halten.«

»Da wäre er am richtigen Platz. Mehr Verstecke als in diesen verlassenen Gebäuden hier findet er nirgends.«

»Genau. Und deshalb wohne ich seitdem in diesem Häuschen und hoffe auf irgendeine Spur von ihm. Denn wenn ich Brandhorst finde, dann finde ich auch meinen Vater, das weiß ich.«

»Aber dieser Brandhorst wird ihn nicht einfach herausrücken, oder?«

»Nein.«

»Was willst du also tun?«

»Was immer es erfordert«, sagte sie, und mich schauderte ein bisschen, als ich es hörte. Es war eine überlegte Antwort. Es war nicht einfach nur dahingesagt wie die meisten Äußerungen der meisten Menschen.

»Und warum sollte Brandhorst deinen Vater entführen?«, fragte ich sie.

»Das ist ja das Rätselhafte an der Sache«, sagte Ellington und schenkte sich Kaffee nach. »Mein Vater hat niemandem etwas zuleide getan. Er ist die Ruhe und Freundlichkeit in Person.« Zwei Tränen rollte aus ihren Augen, die sie mit dem glatten schwarzen Ärmel wegwischte. »Und er ist ein wunderbarer Vater. Ich muss ihn unbedingt finden. Hilfst du mir dabei, Junker Snicket?«

Ich war aus einem Rätsel geradewegs in das nächste gestürzt, was vielleicht der Grund war, warum ich schon wieder ein Versprechen abgab, ein genauso törichtes und falsches wie all die anderen. »Ich helfe dir«, sagte ich. »Versprochen. Aber nicht jetzt. Jetzt muss ich dringend weiter. Danke für den Kaffee.«

»Du hast ja gar nicht getrunken.«

»Ich habe dir doch gesagt, dass ich keinen Kaffee trinke«, sagte ich. »Aber komm morgen zu mir, dann können wir uns gegenseitig helfen. Ich und meine Verbündete S. Theodora Markson wohnen im Weißen Torso.«

»Wofür steht das S?«, fragte sie, aber in dem Moment klopfte es an der Tür. Auf der Wanduhr war es fast zwei Uhr morgens. Ellington sah mich an und stellte die Frage, die auf dem hinteren Buchdeckel gedruckt steht. Es war die falsche Frage, sowohl jetzt, als Ellington sie stellte, wie auch später, als ich selbst sie stellte. Die richtige Frage hätte in diesem Fall lauten müssen: »Was ist passiert, während ich an der Tür war?«, aber als die Angeln fertig geknarzt hatten, konnte ich nur an die Wachtmeister Mitchum denken, die mit tadelnd gerunzelter Stirn vor mir standen.

»Du bist doch der junge Snicket, oder?«, herrschte mich Harvey Mitchum an, und Mimi Mitchum: »Was tust du hier?«

Ich antwortete »Ja« auf die erste Frage und »Eine Freundin besuchen« auf die zweite.

»Was für ein junger Mann geht mitten in der Nacht Besuche machen?«, fragte der männliche Wachtmeister und sog misstrauisch die Luft ein.

»Was munkelst du hier im Dunkeln?«, wollte seine Frau wissen.

Ich erwiderte »Ein freundlicher« und »Ich habe keine Ahnung, wovon Sie sprechen«, aber das waren eindeutig die falschen Antworten.

»Wir müssen uns unterhalten, Snicket«, sagte Harvey Mitchum. »Uns ist ein Einbruch gemeldet worden. Jemand hat eine extrem wertvolle Statue in Gestalt eines legendären Fabelwesens gestohlen. Kannst du dazu etwas sagen?«

»Für Fabeln hatte ich schon immer ein Faible«, sagte ich.

»Das meine ich nicht!«, blaffte er. »Deine Mentorin hing an der Trosse und will uns nicht sagen, warum.«

»Wir sollten keine voreiligen Schlüsse ziehen«, setzte Mimi Mitchum hinzu, »aber es würde mich nicht überraschen, wenn sie sich als genauso kriminell herausstellen würde wie du, Snicket.«

»Als noch krimineller, würde ich sagen«, sagte ihr Mann.

»So kriminell auch wieder nicht.«

»Aber mindestens!«

»Aber nie im Leben!«

»Das können wir später klären«, sagte Harvey Mitchum verärgert. »Zunächst einmal durchsuchen wir diese Räumlichkeiten nach wertvollen Statuen.«

»Brauchen Sie dafür keinen Durchsuchungsbefehl?«, fragte ich.

»Wir sind schließlich nicht im Klausterwald.« Mimi Mitchum wies hinter sich. »Wir sind hier in Schwarz-aus-dem-Meer, und in Schwarz-aus-dem-Meer sind wir das Gesetz. Gib die Tür frei, Snicket.«

Ich gab die Tür frei, aber nicht, ehe mich ein Blick über die Schulter zu meiner Erleichterung davon überzeugt hatte, dass die Bordunbestie nicht für jedermann zu sehen auf dem Tisch stand. Für jedermann zu sehen war nur Ellington Feint, die ihre Kuverts und Päckchen in einem sperrigen Haufen an die Brust gedrückt hielt.

»Guten Abend, Herr und Frau Wachtmeister«, sagte sie.

»Was heißt hier gut?«, sagte Harvey Mitchum tadelnd. »Ungeheuerlich ist das. Ihr solltet euch eine Scheibe von meinem Sohn Stewie abschneiden. Der kommt nicht auf die Idee, sich die Nacht um die Ohren zu schlagen. Nein, der liegt brav draußen im Auto und schläft.«

»Das macht ihn ausgeglichen«, sagte Mimi.

»Und leistungsfähig«, sagte Harvey.

»Und attraktiv«, ergänzte seine Mutter.

»Das stimmt«, sagte der Wachtmeister. »Stew Mitchum ist ein richtiger kleiner Wonneproppen.«

Ich fragte mich, ob die einheimische Vogelwelt das wohl auch so sah.

»Junker Snicket«, sagte Ellington hastig, »wolltest du mir nicht mit diesen Päckchen helfen?«

Ich machte einen Schritt auf sie zu. »Aber gern, Miss Feint.«

Sie lächelte die Mitchums an. »Mr Snicket und ich wollten gerade einen kleinen Spaziergang zum Briefkasten machen, um diese Sendungen einzuwerfen.«

»Wartet, bis wir mit der Haussuchung fertig sind«, sagte der Wachtmeister, »dann könnt ihr mit uns mitfahren.«

»Junge Leute sollten nicht so spät unterwegs sein«, warnte die Wachtmeisterin. »Nicht dass euch noch die Bordunbestie holt.«

»Das ist eine Legende«, sagte ich.

»Überhört die Glocke, dann werdet ihr schon sehen«, sagte der Wachtmeister und rempelte sich an mir vorbei, um sich drinnen umzuschauen. Ellington drückte mir ein Päckchen in die Hand, das in etwa die Größe einer Milchflasche hatte. Es war in Zeitungspapier gewickelt, und sie hatte es eilig frankiert und eine Adresse daraufgekritzelt:

An S. Theodora Markson

Zum weissen Torso

Schwarz-aus-dem-Meer

Die Mitchums begannen Ellingtons Sachen zu durchwühlen, und Ellington und ich warteten auf der Schwelle des Häuschens. »Warum hast du das Paket nicht an mich adressiert?«, fragte ich sie flüsternd.

»Ich dachte, es wäre verdächtig, wenn ich ein Paket an jemanden schicke, der direkt neben mir steht«, sagte sie.

»Ist die Post zuverlässig?«, fragte ich.

»Ja«, sagte sie. »Du müsstest es morgen früh haben. Man sollte es nicht meinen, aber die Zustellung ist hier sehr prompt.«

Ich klemmte mir die eingewickelte Statue unter den Arm. Wenn ich während meiner Praktikumszeit jemand Geeigneten fand, so war mir gesagt worden, dann konnte ich ihn unserer Organisation als neues Mitglied empfehlen. Es schien mir noch zu früh, um eine solche Entscheidung zu treffen, aber nicht zu früh, um Ellington zuzulächeln, während sich die Wachtmeister durch das Innenleben des Häuschens brummelten und grummelten und zu guter Letzt aufgaben.

»Wir geben auf«, verkündete Harvey Mitchum. »In diesem Haus befindet sich keine Statue.«

Ich machte einen Schritt, so dass ich im Freien stand. »Sehr wahr«, sagte ich. »Trotzdem danke, dass Sie vorbeigeschaut haben.«

»Halt, halt, halt!«, sagte Mimi Mitchum. »Wir bringen euch zwei zum Briefkasten und dann nach Hause. Ich weiß ja nicht, was ihr Strolche im Schilde führt, aber für heute ist jedenfalls Schluss damit. Steigt ins Auto und begrüßt unseren bezaubernden Sohn.«

Ellington und ich folgten den Wachtmeistern Mitchum zu ihrem klapprigen Kombi und zwängten uns auf den Rücksitz, wo uns mit einem schläfrigen Gähnen und einem grausamen Lächeln Stew erwartete. »Lemony!«, sagte er mit der zuckersüßen Stimme, die er machte, um seine Eltern zu täuschen. »Wie schön, dich wiederzusehen!«

Ich nickte ihm zu, und er streckte die Hand aus und kniff mich fest in den Arm, ohne dass die Wachtmeister Mitchum es sahen. Aber Ellington sah es, und sie beugte sich ihrerseits vor und packte sein Handgelenk. Stews Gesicht verzog sich, und ich sah, wie sich ihre Fingernägel in seine Haut gruben. »Freut mich, dich kennenzulernen, Stew«, sagte sie. »Ich weiß jetzt schon, dass du und ich lebenslange Freunde werden.«

Stew stieß einen fiependen Laut aus, der vielen Jungen überaus peinlich gewesen wäre, und die restliche Strecke schwiegen wir. Als wir die Stadt erreicht hatten, hielt Mimi Mitchum unter lautem Scheppern an und wartete, während Ellington und ich unsere Päckchen in einen einsamen, verschrammten Briefkasten warfen. Die Klappe des Briefkastens öffnete sich mit einem hässlichen Scharren, und es widerstrebte mir, mein Päckchen hineinzuwerfen. Gut, es widerstrebt dir, Snicket, sagte ich zu mir. Vielen Leuten widerstrebt das, was sie tun müssen. Das ist wie Füße haben. Darauf brauchst du dir nichts einzubilden. Das Päckchen landete mit einem gedämpften Plumps im Innern des Kastens, und dann kletterten wir wieder in den Kombi und fuhren die kurze, öde Strecke bis zum Weißen Torso. Ich dankte den Wachtmeistern fürs Mitnehmen, winkte Ellington mit heimlichen Lächeln zu und sah durch Stew einfach hindurch.

Die Hotelhalle war leer bis auf Prosper Weiss, der ins Telefon murmelte. Ich blieb einen Augenblick lang vor der Gipsstatue der Frau ohne Arme oder Kleider stehen und spürte plötzlich, wie müde ich war.

»Ich weiß«, sagte ich zu ihr, »ich bin für eine Abreibung fällig«, und stieg die Treppe hinauf, um sie mir abzuholen.