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Erstes Kapitel

Eine Stadt war im Spiel, und ein Mädchen war im Spiel und ein Diebstahl. Ich war neu in der Stadt, und ich sollte den Diebstahl aufklären, und ich dachte, das Mädchen hätte nichts damit zu tun. Ich war fast dreizehn, und ich lag falsch. Ich lag auf der ganzen Linie falsch. Die richtige Frage wäre gewesen: »Warum meldet jemand etwas als gestohlen, das ihm gar nicht gehört?« Stattdessen stellte ich die falsche Frage – vier falsche Fragen, um genau zu sein. Hier ist der Bericht über die erste.

Schierlings Schreibwaren & Café ist die Sorte Laden, wo der Boden sich selbst dann klebrig anfühlt, wenn gewischt ist. An dem Tag war nicht gewischt. Das Essen im Schierling schmeckt schauderhaft, besonders die Eier, die mit Abstand die schlechtesten der ganzen Stadt sind, einschließlich der Eier im Museum für Frühstückssünden, das den Besuchern all die Verbrechen vorführt, die man an Eiern begehen kann. Die Blöcke und Stifte in der Auslage sind verknickt und kaputt, aber der Tee ist trinkbar, und das Schierling liegt gleich gegenüber dem Bahnhof – sehr praktisch also, wenn man mit seinen Eltern wartet, bevor man den Zug in ein neues Leben besteigt. Ich trug den Anzug, den ich zu meinem bestandenen Abschluss geschenkt bekommen hatte. Er hatte wochenlang bei mir im Schrank gehangen wie ein hohler Mensch. Ich war bedrückt und durstig. Als der Tee kam, konnte ich im ersten Moment nur Dampf sehen. Ich hatte mich in aller Schnelle von jemandem verabschiedet und wünschte, ich hätte es weniger eilig gehabt. Macht nichts, sagte ich mir, jetzt ist keine Zeit für lange Gesichter. Die Arbeit ruft, Snicket, sagte ich mir. Da wird nicht Trübsal geblasen.

Du siehst sie ja bald genug wieder, dachte ich irrigerweise.

Dann verzog sich der Dampf, und ich betrachtete die beiden Menschen an meinem Tisch. Es ist immer seltsam, sich vorzustellen, wie die eigene Familie in den Augen eines Fremden wirken mag. Vor mir saßen ein breitschultriger Mann in einem braunen, flusenbedeckten Anzug, in dem er sich unbehaglich zu fühlen schien, und eine Frau, die mit zwei Fingernägeln auf der Tischplatte trommelte, so gleichmäßig, dass es wie ein winziges galoppierendes Pferd klang. In ihrem Haar steckte interessanterweise eine Blume. Sie lächelten beide, besonders der Mann.

»Du hast noch massenhaft Zeit, bevor dein Zug geht, Junge«, sagte er. »Möchtest du dir was zu essen bestellen? Eier?«

»Nein danke«, sagte ich.

»Wir sind so stolz auf unseren großen Sohn«, sagte die Frau, die einem aufmerksamen Beobachter vielleicht nervös vorgekommen wäre, vielleicht aber auch nicht. Sie unterbrach ihr Getrommel, um mir durchs Haar zu fahren. Es gehörte dringend geschnitten. »Du bist sicher schon ganz kribbelig vor Aufregung.«

»Hm«, sagte ich, dabei war ich keineswegs kribbelig. Weder vor Aufregung noch vor sonst etwas.

»Leg dir die Serviette auf den Schoß«, ermahnte sie mich.

»Hab ich schon.«

»Dann trink deinen Tee«, sagte sie, als eine Frau das Schierling betrat. Sie verschwendete keinen Blick an mich, meine Familie oder irgendjemand anderen. Sie fegte an unserem Tisch vorbei, eine sehr große Frau mit einer wilden, wallenden Haarmähne. Ihre Schuhe klackten laut über den Boden. Sie blieb vor einem Ständer mit Briefkuverts stehen, griff sich das erstbeste, warf der Kassiererin ein Geldstück zu, das diese fast ohne hinzuschauen auffing, und fegte wieder nach draußen. Bei all dem Tee auf den Tischen hätte man meinen können, aus einer ihrer Taschen würde es dampfen. Außer mir schien keiner sie bemerkt zu haben. Sie sah nicht zurück.

Es gibt zwei gute Gründe, sich eine Serviette auf den Schoß zu legen. Der eine ist, dass man kleckern könnte und es um die Serviette weniger schade ist als um die Hose. Und der andere ist, dass Servietten ein hervorragendes Versteck abgeben. Wohl kein Mensch ist so indiskret, eine Serviette von einem fremden Schoß zu lüpfen, um nachzuschauen, was sich darunter verbirgt. Ich seufzte und starrte auf meinen Schoß, als wäre ich tief in Gedanken, und dabei faltete ich schnell und lautlos den Zettel auf, den die Frau dorthin geworfen hatte:

Kletter aus dem Klofenster und komm in die Gasse hinter dem Laden. Ich warte in dem grünen Roadster. Du hast fünf Minuten.

S.

»Roadster«, das wusste ich, war ein hochgestochenes Wort für Auto, und ich fragte mich unwillkürlich, welcher normale Mensch sich die Mühe machte, »Roadster« zu schreiben, wenn das Wort »Auto« vollkommen ausreichte. Ich fragte mich auch, welcher normale Mensch eine Geheimbotschaft signierte, und sei es nur mit einem S. Eine Geheimbotschaft war geheim. Wozu also die Unterschrift?

»Alles in Ordnung, Junge?«

»Ich muss mal kurz wohin«, sagte ich und schob meinen Stuhl zurück. Die Serviette legte ich auf den Tisch, den Zettel verbarg ich in meiner Faust.

»Trink deinen Tee.«

»Mutter«, sagte ich.

»Lass ihn, Liebes«, sagte der Mann im braunen Anzug. »Er wird bald dreizehn. Das ist ein schwieriges Alter.«

Ich stand auf und ging in den rückwärtigen Teil des Schierling. Eine Minute von den fünfen war wahrscheinlich schon um. Die Kassiererin schaute zu, wie ich hin und her sah. Immer zwingen sie einen im Lokal, nach der Toilette zu fragen, selbst wenn es gar nichts anderes gibt, was man suchen könnte. Keine falsche Scham jetzt, befahl ich mir.

»Wenn ich eine Toilette wäre«, sagte ich zu der Frau, »wo befände ich mich dann?«

Sie deutete auf einen schmalen Durchgang. Zwischen ihren Fingern blitzte immer noch das Geldstück. Ich folgte dem Gang, ohne zurückzuschauen. Es sollte Jahre dauern, bis ich Schierlings Schreibwaren & Café wiedersah.

Ich war nicht allein in der Toilette, stellte ich fest. Mit fielen nur zwei Dinge ein, mit denen man sich in einer öffentlichen Toilette die Zeit vertreibt, während man wartet, und eins davon tat ich: Ich spritzte mir kaltes Wasser ins Gesicht. Dann wickelte ich meinen Zettel in ein Papierhandtuch und manschte das Ganze unter dem Hahn zu einem nassen Knäuel zusammen, das ich wegwarf. Danach würde bestimmt niemand suchen.

Ein Mann kam aus der Kabine. Unsere Blicke begegneten sich im Spiegel. »Alles in Ordnung?«, fragte er mich. Anscheinend wirkte ich nervös.

»Ich hatte die Eier«, sagte ich, und er wusch sich mitfühlend die Hände und ging. Ich stellte das Wasser ab und besah mir das eine Fenster im Raum. Es war klein und quadratisch und mit einem einfachen Riegel gesichert. Ein Kind hätte ihn zurückschieben können, was sich gut traf, denn ich war eins. Dummerweise befand sich das Fenster drei Meter über mir, knapp unter der Decke. Selbst auf Zehenspitzen konnte ich mit der Hand nicht so hoch reichen, wie ich hätte stehen müssen, um an den Riegel zu kommen. Jedes Alter war ein schwieriges Alter für jemanden, der durch dieses Fenster klettern sollte.

Ich betrat die Kabine. Hinter der Toilette lag ein großes Paket in braunes Packpapier eingeschlagen und mit Schnur umwickelt, aber nur lose, so als sei es gleichgültig, ob jemand es öffnete oder nicht. So gegen die Wand geschoben sah es nicht sonderlich interessant aus. Es sah aus wie etwas, das zum Café gehörte, oder wie Werkzeug, das der Klempner vergessen hatte. Es sah aus wie etwas, das man übersieht. Ich zog es in die Mitte der Kabine und drückte die Tür hinter mir zu, während ich das Papier abriss. Auf das Absperren verzichtete ich. Für einen breitschultrigen Mann, der hereinwollte, stellte so eine Tür kein Hindernis dar.

Es war eine Klappleiter. Ich wusste, dass sie da war. Ich hatte sie selbst dort versteckt.

Ich hatte schätzungsweise eine Minute gebraucht, um den Zettel zu lesen, eine, um die Toilette zu finden; eine weitere Minute hatte es gedauert, bis der Mann gegangen war, und zwei, bis die Leiter aufgestellt, das Fenster geöffnet und ich halb rutschend, halb plumpsend in einer kleinen Pfütze draußen in der Seitengasse gelandet war. Machte fünf Minuten. Ich wischte mir Schlammwasser von der Hose. Der Roadster war klein und grün, ein ehemaliger Rennwagen, so wie es aussah, aber jetzt war die ganze schnittige Karosserie mit Schrammen und Dellen bedeckt. Der Roadster bot ein Bild der Verwahrlosung. Niemand hatte ihn gepflegt, und nun war es zu spät. Die Frau starrte vorwurfsvoll hinterm Steuer hervor, als ich einstieg. Ihre wilde Mähne hatte sie unter eine kleine Lederkappe gestopft. Die Fenster waren heruntergekurbelt, und die Regenluft passte zu der Stimmung im Auto.

»S. Theodora Markson«, sagte sie.

»Lemony Snicket«, sagte ich und überreichte ihr einen Umschlag, der in meiner Tasche gesteckt hatte. Darin befand sich mein sogenanntes Empfehlungsschreiben – ein paar wenige Zeilen, die mich als einen herausragenden Leser, einen guten Koch, einen mittelmäßigen Musiker und einen miserablen Zänker auswiesen. Mir war verboten worden, mein Empfehlungsschreiben zu lesen, und ich hatte ziemlich lange gebraucht, um die Klebelasche zu lösen und neu zu versiegeln.

»Ich weiß, wer du bist.« S. Theodora Markson warf den Umschlag auf den Rücksitz. Sie starrte durch die Windschutzscheibe, als würden wir bereits fahren. »Es hat eine Planänderung gegeben. Wir stehen unter außerordentlichem Zeitdruck. Die Situation ist verzwickter, als du ahnst und als ich dir unter den gegenwärtigen Umständen zu enthüllen imstande bin.«

»Unter den gegenwärtigen Umständen?«, wiederholte ich. »Sie meinen, jetzt?«

»Natürlich, was denn sonst?«

»Wenn wir unter solchem Zeitdruck stehen, warum haben Sie dann nicht einfach ›jetzt‹ gesagt?«

Sie griff über meinen Schoß hinweg und stieß die Tür auf. »Raus«, sagte sie.

»Was?«

»So einen Ton dulde ich nicht. Dein Vorgänger, der junge Mann, der vor dir unter mir gearbeitet hat, hat sich nie so einen Ton erlaubt. Nie. Also raus.«

»Entschuldigung«, sagte ich.

»Raus.«

»Entschuldigung«, sagte ich.

»Willst du unter mir arbeiten, Snicket? Willst du mich zur Mentorin?«

Ich sah hinaus in die Gasse. »Ja«, sagte ich.

»Dann lass dir Folgendes gesagt sein: Ich bin nicht deine Freundin. Ich bin nicht deine Lehrerin. Ich bin weder deine Mutter noch dein Vormund noch sonst jemand, der dich an die Hand nimmt. Ich bin deine Mentorin, und du bist mein Praktikant, ein Wort, das hier so viel bedeutet wie ›Person, die unter mir arbeitet und absolut alles tut, was ich ihr auftrage‹.«

»Ich bin zerknirscht«, sagte ich, »ein Wort, das hier …«

»Du hast dich schon entschuldigt«, unterbrach mich S. Theodora Markson. »Wiederhol dich nicht. Das ist nicht nur doppelt gemoppelt, es ist auch zu viel des Guten, und du erzählst den Leuten nichts Neues. Es ist nicht zielführend. Es ist unangebracht. Ich bin S. Theodora Markson. Du kannst mich Theodora oder Markson nennen. Du bist mein Praktikant. Du arbeitest unter mir, und du tust alles, was ich dir sage. Ich werde dich Snicket nennen. Es gibt keine leichte Art, einen Praktikanten anzulernen. Meine beiden Methoden sind Vormachen und Meckern. Ich zeige dir, was ich mache, und verlange dann von dir etwas ganz anderes. Hast du verstanden?«

»Wofür steht das S?«

»Stell nicht immer die falschen Fragen«, gab sie zurück und ließ den Motor an. »Du hältst dich wahrscheinlich für überdurchschnittlich schlau, Snicket. Du platzt wahrscheinlich vor Stolz auf deinen Abschluss und darauf, dass du es geschafft hast, in fünfeinhalb Minuten aus einem Klofenster zu klettern. Aber du hast keine Ahnung.«

S. Theodora Markson nahm eine ihrer behandschuhten Hände vom Lenkrad und langte vor sich auf das Armaturenbrett des Roadsters. Erst jetzt bemerkte ich die noch dampfende Teetasse. Schierling stand auf der Tasse.

»Du hast wahrscheinlich nicht mal bemerkt, dass ich deinen Tee mitgenommen habe, Snicket«, sagte sie, streckte den Arm an mir vorbei und kippte den Tee durch die offene Tür auf die Straße. Er dampfte auf dem Boden weiter, und ein paar Sekunden lang sahen wir beide auf die geisterhafte Wolke, die in der Seitengasse aufstieg. Der Geruch war süß und falsch wie der einer gefährlichen Blume.

»Laudanum«, sagte sie. »Das ist ein Opiat. Eine Medizin. Ein Schlafmittel.« Zum ersten Mal drehte sie sich zu mir um und sah mich direkt an. Sie sah umgänglich genug aus, hätte ich beinahe gesagt, wenn auch sicherlich nicht zu ihr. Sie sah aus wie eine Frau, die alle Hände voll zu tun hat, was genau das war, worauf ich spekulierte. »Drei Schluck von dem Zeug, und du wärst inkohärent gewesen, ein Wort, das hier so viel bedeutet wie ›wirr vor dich hin murmelnd und nahezu bewusstlos‹. Du hättest niemals deinen Zug bestiegen, Snicket. Deine Eltern hätten dich schleunigst aus dem Café geschafft und dich an einen anderen Ort gebracht, und glaub mir, es wäre kein Ort gewesen, an dem du gern sein möchtest.«

Die Wolke verschwand, aber ich starrte sie immer noch an. Ich fühlte mich mutterseelenallein in dieser Gasse. Wenn ich meinen Tee getrunken hätte, wäre ich nicht in dem Roadster gelandet, und wenn ich nicht in dem Roadster gelandet wäre, dann wäre ich auch nie im falschen Baum gelandet oder im falschen Keller, dann hätte ich nie die falsche Bibliothek zerstört oder all die anderen falschen Antworten auf die falschen Fragen gefunden, die ich stellte. S. Theodora Markson hatte recht. Es gab niemanden hier, der mich an die Hand nahm. Ich hatte Hunger. Ich schlug die Autotür zu und erwiderte ihren Blick.

»Das waren nicht meine Eltern«, sagte ich, und wir brausten los.