Dreizehntes Kapitel
»Das heißt, der Butler war es?«, fragte Hector. Es war sein zwölfter Geburtstag. Falls dieser Bericht irgendwelche Leser hat, wovon ich nicht ausgehe, dann kann ich nur hoffen, dass sie ihren zwölften Geburtstag nicht in der Hotelhalle des Weißen Torso mit einer Handvoll angestaubter Erdnüsse begehen müssen, während Prosper Weiss sie mit Argusaugen beobachtet. Die meisten Menschen haben ein Fest verdient.
»Brandhorst war kein richtiger Butler«, erklärte ich meinem Verbündeten, »und der Täter in dem Sinn ist er auch nicht. Als sein Telegramm an die Mallahans unbeantwortet blieb, engagierte er Dame Sally Murphy, damit sie sich als Mrs Murphy Sallis ausgab. Er selbst gab sich als ihr Butler aus, um sie im Auge behalten zu können, während sie uns dafür engagierte, die Bordunbestie zu stehlen.«
Hector furchte nachdenklich die Stirn. »Und dieses Mädchen hat er auch auf die Statue angesetzt?«
»Ja. Er hat Ellington Feint damit gedroht, dass sie ihren Vater nie wiedersehen würde, wenn sie ihm nicht half. Sie brach in der Weißwimpelhöhe ein und suchte nach einem Weg, die Statue an sich zu bringen, aber dann hatte sie das Glück, dass ich sie ihr praktisch auf dem Silbertablett serviert habe. Als die Polizei kam, packte sie die Statue und eine Packung Kaffee in Zeitungspapier, so dass ich Theodora im Weißen Torso das falsche Päckchen schickte. Das richtige schickte sie derweil an sich selbst, c/o Gatto Nero Caffè, aber ich kam hinter den Schwindel und holte es ab, bevor sie es holen konnte. Dann hat sie die Statue gegen eine neue Packung Kaffee vertauscht, wahrscheinlich während wir bei den Mitchums im Kombi saßen, und ist damit weggerannt. Und jetzt finden wir sie nirgends.«
»Glaubst du, sie hat die Statue Brandhorst übergeben?«
»Ich weiß es nicht«, sagte ich. »Ich hoffe nicht.«
»Es scheint ein ziemlicher Aufwand, nur um an so ein kleines Holzteil zu gelangen«, sagte er, »besonders wenn sich sonst keiner dafür interessiert. Wozu braucht er das Ding überhaupt?«
Ich sah mich in der Hotelhalle um. Drei Tage waren vergangen, und es waren keine einfachen Tage gewesen. All diese Fragen hatten auch mich umgetrieben, während ich lesend in der Bibliothek saß oder am Tresen vom Gatto Nero Caffè dem Pianola lauschte und darauf hoffte, dass Ellington Feint zur Tür hereinkam. Zu jedem Rätsel gibt es eine Geschichte, und solche Geschichten beginnen für gewöhnlich mit einer Spur. Ich hatte die Spur der Bordunbestie verfolgt, aber allmählich begann ich zu ahnen, dass ich einer ganz anderen Spur hätte folgen müssen. Der eines Mädchens vielleicht, das nach seinem Vater suchte, mit nichts als einem Koffer voller Kleidungsstücke und einem altmodischen Plattenspieler, dessen Melodien mir nicht aus dem Kopf wollten. Ich hatte niemanden gehabt, mit dem ich mich über diese Melodien oder Gedanken austauschen konnte, aber jetzt machte Hector eine Stippvisite für den Nachmittag. »Ich weiß es nicht«, gab ich zu. »Hinter der Bordunbestie und Brandhorst verbirgt sich ein Rätsel, das ich noch nicht lösen kann.«
»Und wie viel davon fließt in das Protokoll ein?«, wollte er wissen.
»So gut wie gar nichts«, sagte ich. »Wenn es nach meiner Mentorin geht, ist der Fall abgeschlossen. Ich habe lediglich geschrieben, dass unsere Klientin uns dafür engagiert hat, diskret einen gestohlenen Gegenstand aufzuspüren, und dass sowohl der Gegenstand als auch die Klientin verschwunden sind.«
»Das wird sich nicht gut in deiner Akte machen, Snicket.«
»Was interessiert mich meine Akte«, sagte ich. »Ich habe einen Auftrag zu erfüllen.«
Hector seufzte und lehnte sich auf dem heruntergekommenen Sofa zurück. »Die anderen machen sich Sorgen um dich, Snicket. Monty macht sich Sorgen. Haruki macht sich Sorgen. Diese Idee, dir die schlechteste Mentorin auszusuchen, um dabei heimlich …«
»Ich glaube nicht, dass dich das etwas angeht«, sagte ich steif.
»Wusstest du, dass zwei andere Mentoren sogar darüber nachgedacht haben, dich zu betäuben, damit du deine Verabredung nicht einhalten kannst?«
»Versucht haben sie’s«, sagte ich. Schierlings Schreibwaren & Café schien Welten entfernt.
»Inzwischen denkst du wahrscheinlich, hätten sie es doch geschafft. Dann wärst du jetzt woanders Praktikant. Ist Theodora so schlecht, wie alle sagen?«
»Sie ist oben und macht ein Nickerchen«, sagte ich, und Hector sah auf seine Uhr und schüttelte den Kopf. Er schwieg einen Moment, ehe er mit einem raschen, vorsichtigen Blick auf Prosper Weiss seine Jacke auszog und mir gab.
»In das Futter eingenäht findest du eine Karte des Wasserversorgungssystems in der Hauptstadt«, sagte er mit gesenkter Stimme. »Verlier sie nicht. Sie war sehr mühsam aufzutreiben.«
»Danke, Hector. Ich weiß das zu schätzen.«
»Wobei ich mich frage, was sie dir in diesem Kaff nützen soll«, sagte Hector. »Ich habe den ganzen Tag gebraucht, um bis hier rauszukommen. Das ist ein seltsamer Ort, Snicket. Diese seltsamen Tintenquellen, dieser ledrige Seetangwald, die Masken, die alle aufsetzen müssen, wenn die Glocke läutet – irgendwas stinkt ganz gewaltig in Schwarz-aus-dem-Meer. Ich wette, hier gibt’s nicht einmal ein anständiges mexikanisches Lokal.«
»Aber eine gute Bibliothek gibt es«, sagte ich, »und eine fähige Reporterin und etliche interessante Menschen. Das ist mehr, als viele Orte von sich behaupten können.«
»Und schlag dir diese Ellington aus dem Kopf«, sagte Hector. »Sie ist eine Lügnerin und Diebin.«
»Sie versucht nur, ihrem Vater zu helfen«, wandte ich ein, »und ich habe versprochen, ihr zu helfen.«
Hector seufzte und stand auf. »Da hast du dich ja in was reingeritten, Snicket. Viel Glück.«
»Wie kommst du zurück?«, fragte ich. »Ich kann dir ein gutes Taxiunternehmen empfehlen.«
»Danke, aber für meinen Transport ist gesorgt.«
»Wieder eins von deinen Ballon-Projekten?«, fragte ich.
Hector nickte. »Mein Mentor hat mir aufgetragen, Luftaufnahmen von einem entlegenen Teil des Ozeans zu machen. Ein verdächtiges Objekt ist gesichtet worden.«
»Das heißt, du fährst nicht in die Hauptstadt zurück?«
»Die nächsten paar Monate nicht«, sagte Hector. »Warum?«
»Nur so.« Ich zuckte die Achseln und spürte dabei das Päckchen in meiner eigenen Jacke. Ich hatte den halben Vormittag gebraucht, um es in das Futter einzunähen. Nähen ist eine piksige und dröge Angelegenheit. Ellington Feint mit ihren langen, geschickten Fingern hätte sich sicher leichter damit getan. Aber es konnte dauern, bis ich sie wiedersah, und im Moment war es sinnlos, meine Jacke Hector mitzugeben, denn der kam nicht rechtzeitig in die Hauptstadt zurück.
»Mach’s gut, Snicket«, sagte Hector. »Sei vorsichtig. Und bitte sag deiner Vertretung, dass sie den Tunnel zum Museum in einem möglichst weiten Bogen graben müssen. Wenn sie den falschen Kanal anbohren, ertrinken sie beide.«
»Es gibt keine Vertretung«, sagte ich.
»Dann schleichst du dich heimlich hier weg und hilfst ihr?«
Ich schüttelte den Kopf. »Ich sitze längerfristig in Schwarz-aus-dem-Meer fest.«
Hectors Augen weiteten sich ungläubig. »Aber du kannst sie nicht allein gehen lassen«, sagte er lauter als beabsichtigt. Prosper Weiss spähte neugierig zu uns herüber und kam hinter der Rezeption hervor.
»Was bleibt mir denn anderes übrig?«, flüsterte ich Hector zu.
»Sie ist nicht einfach nur deine Verbündete, Snicket«, flüsterte er zurück und setzte die Mütze auf. »Sie ist deine Schwester.«
»Das weiß ich selbst«, fuhr ich ihn an, aber er schüttelte nur finster den Kopf und ging zur Tür hinaus. Ich weiß, dass sie meine Schwester ist, wollte ich ihm nachrufen. Denkst du, das weiß ich nicht? Denkst du, ich weiß nicht, dass ich meine eigene Schwester in Gefahr bringe?
»Alles Gute zum Geburtstag noch mal«, sagte ich stattdessen, aber Hector blieb nicht stehen. Möglicherweise beschleunigte er seine Schritte sogar. Prosper Weiss war neben mich getreten, und Seite an Seite sahen wir zu, wie Hector auf die dunkle Straße trat und verschwand.
»Streit mit Ihrem Freund?«, fragte Prosper Weiss, als würde ihn das irgendetwas angehen.
»Nein, kein Streit«, sagte ich. »Ich habe nur das Falsche gesagt.«
Weiss lächelte sein dünnes Lächeln. »Jeder macht ab und zu mal was falsch.«
Es stimmte. Jeder machte ab und zu etwas falsch. Es stimmte, aber es gefiel mir nicht. Ich nickte und ließ ihn stehen. Die Frauenstatue sah mich an, als hätte sie gern mit den Achseln gezuckt, wenn sie nur Arme gehabt hätte. Ich zuckte für sie mit und dachte an die andere Statue, die der Bordunbestie, und an den Schurken, der sie in seine Gewalt bringen wollte. Ich dachte an die zerfallende Stadt und an das verschwundene Meer. Ich dachte an Ellington Feints grüne Augen und die fragezeichenförmigen Brauen über diesen Augen. Von wegen ab und zu. Ich hatte auf der ganzen Linie falschgelegen, jedes einzelne Mal. Alles hatte ich falsch gedeutet, jeden einzelnen Hinweis rund um dieses tintenschwarze Rätsel, das über mir und allen anderen hing. Das Wort zischelte in meinem Kopf wie der Seetang – falsch, falsch, falsch. Ich hatte alles falsch gemacht, dachte ich, aber wenn ich nur lange genug hier in der Stadt ausharrte, konnte ich es vielleicht wieder richten.