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Zweites Kapitel

Wer den richtigen Bibliothekar fragt und auf der richtigen Landkarte nachsieht, der kann darauf den kleinen Punkt ausmachen, der für eine Stadt namens Schwarz-aus-dem-Meer steht, etwa eine halbe Tagesreise von der Hauptstadt entfernt. Wobei die Stadt in Wahrheit keineswegs am Meer liegt, sondern am Ende einer langen holperigen Straße, die keinen Namen hat und auf keiner Karte dieser Welt verzeichnet ist. Das weiß ich, weil ich mein Praktikum in Schwarz-aus-dem-Meer absolvierte und nicht, wie ich gedacht hatte, in der Hauptstadt. Klar wurde mir das allerdings erst, als S. Theodora Markson mit dem Roadster am Bahnhof vorbeibretterte, ohne auch nur zu bremsen.

»Fahren wir nicht mit dem Zug?«, fragte ich.

»Schon wieder die falsche Frage«, sagte sie. »Ich habe dir doch gesagt, es hat eine Planänderung gegeben. Die Landkarte ist nicht das Gelände. Das ist ein Ausdruck, der besagt, dass die Welt nicht der Vorstellung entspricht, die wir uns von ihr machen.«

»Ich dachte, wir würden hier in der Hauptstadt arbeiten, nur eben am anderen Ende?«

»Genau das meine ich, Snicket. Du dachtest, wir arbeiten hier in der Stadt, dabei arbeiten wir nicht mal in der Nähe der Stadt!«

Mir sank das Herz bis auf den Boden des Wagens, der klapperte, weil wir vor einer Baustelle scharf abbogen. Ein Trupp Bauleute riss die Straße auf, um mit den Arbeiten am Brunnen des Siegreichen Kapitals zu beginnen. Morgen (vorausgesetzt, ein Praktikant konnte sich in der Mittagspause wegstehlen) sollte ich mich dort eigentlich mit jemandem treffen, um das Loch auszumessen, das sie gruben. Ich hatte mir eigens für diesen Zweck ein neues Maßband zugelegt, ein extralanges, das nach dem Messen zurück in sein Gehäuse schnurrte und mit einem befriedigenden Klicken einrastete. Das Gehäuse hatte die Form einer Fledermaus, und das Band selbst war rot, als hätte die Fledermaus eine meterlange Zunge. Mir dämmerte, dass ich es nie wiedersehen würde.

»Mein Koffer«, sagte ich. »Er ist am Bahnhof.«

»Ich habe dir ein paar Sachen gekauft.« Theodora deutete mit dem bemützten Kopf in Richtung Rücksitz, auf dem ein kleiner, schrundiger Koffer lag. »Ich habe deine Maße bekommen, also werden sie hoffentlich passen. Falls nicht, wirst du entweder zu- oder abnehmen müssen oder ein Stück wachsen oder schrumpfen. Es ist unauffällige Kleidung. Nicht auffallen ist das A und O.«

Ich dachte, dass ich in Sachen, die mir zu groß oder zu klein waren, wahrscheinlich viel eher auffallen würde, und ich dachte an das Häuflein Bücher, das ich neben die Fledermaus gepackt hatte. Eins davon war besonders wichtig. Es war eine Geschichte des Kanalisationssystems unserer Stadt. Ich hatte vorgehabt, mir auf meiner Zugfahrt ein paar Notizen zu Kapitel 5 zu machen. Beim Aussteigen am Bellamy-Bahnhof hatte ich die Notizen zu einem Papierball zusammenknüllen und sie unbemerkt meiner Verbündeten zuspielen wollen. Sie sollte am Zeitschriftenständer vor der Bahnhofsbuchhandlung stehen. Die Landkarte war bis ins Detail ausgearbeitet, aber nun war das Gelände ein anderes. Sie würde stundenlang in Zeitschriften blättern, bevor sie den Zug zu ihrer Praktikumsstelle nahm, aber was würde sie dann tun? Was würde ich tun? Düster starrte ich aus dem Fenster und legte mir diese und andere ausweglose Fragen vor.

»Deine introvertierte Art kommt nicht gut an«, unterbrach Theodora mein verdrossenes Schweigen. »Introvertiert ist ein Wort, das hier so viel bedeutet wie ›die Zähne nicht auseinanderkriegen‹. Sag etwas, Snicket.«

»Sind wir bald da?«, fragte ich, obwohl jeder weiß, dass das die falscheste Frage ist, die man dem Fahrer bei einer Autofahrt überhaupt nur stellen kann. Also versuchte ich es mit: »Wohin fahren wir?«, aber Theodora reagierte nicht. Sie kaute auf ihrer Lippe, als wäre auch sie von etwas enttäuscht, und so probierte ich es mit einer anderen Frage, von der ich hoffte, sie würde ihr besser gefallen: »Wofür steht das S?«

»Sonst wohin«, antwortete sie, und das stimmte. Schon bald hatten wir das Viertel verlassen, dann den Stadtbezirk, und dann lag die Hauptstadt ganz hinter uns, und wir fuhren eine sehr kurvige Straße entlang, so dass ich heilfroh über meinen leeren Magen war. Die Luft roch so eigenartig, dass wir die Fenster des Roadsters hochkurbeln mussten, und es sah nach Regen aus. Nur wenige Autos begegneten uns, aber alle waren weniger ramponiert als der Roadster. Zweimal schlief ich fast ein über meinen Gedanken an all die Plätze und Menschen in der Stadt, nach denen ich mich jetzt schon sehnte, und die Entfernung zwischen ihnen und mir wuchs und wuchs, bis selbst die langzüngigste Fledermaus nicht mehr an dem Leben hätte lecken können, das ich zurückließ.

Ein neues Geräusch rüttelte mich aus meinen Betrachtungen. Die Straße unter unseren Rädern holperte und prasselte, während Theodora den Wagen einen Abhang hinunterlenkte, der so steil und so lang war, dass ich durch die verspritzten Fenster des Roadsters sein Ende nicht sehen konnte.

»Wir fahren über Muschelschalen«, erklärte meine Mentorin. »Der letzte Teil unserer Fahrt besteht nur aus Muschelschalen und Geröll.«

»Wer pflastert mit so etwas eine Straße?«

»Falsche Frage, Snicket«, erwiderte sie. »Niemand hat sie gepflastert, und es ist auch keine richtige Straße. Dieses ganze Tal lag früher unter Wasser. Es wurde erst vor wenigen Jahren dräniert. Jetzt begreifst du vielleicht, warum es unmöglich wäre, den Zug zu nehmen.«

In dem Moment ertönte ein Pfiff. Ich verkniff mir einen Kommentar. Theodora warf mir trotzdem einen strafenden Blick zu und schaute dann mit gefurchter Stirn zum Fenster hinaus. Ein Stück entfernt, hoch über dem Tal, in das wir hinabrumpelten, kam der schlanke, dahineilende Umriss eines langen Zuges in Sicht. Seine Schienen verliefen auf einer langen, hohen Brücke, die sich von den Uferfelsen zu einer Insel hinüberschwang oder vielmehr einem Berg von Steinbrocken, der aus dem trockengelegten Tal emporwuchs. Auch Theodora steuerte auf die Insel zu, und im Näherkommen erkannte ich eine Gruppe von Gebäuden, farblose Ziegelbauten hinter einer farblosen Ziegelmauer. Eine Schule, so schien es, oder der Sitz einer farblosen Familie. Früher einmal mussten es vornehme Häuser gewesen sein, aber viele der Fensterscheiben waren zerbrochen oder fehlten ganz, und nichts deutete auf Leben hin. Im Augenblick, als der Roadster unter der Brücke hindurchfuhr, schlug zu meinem Erstaunen eine Glocke, eine tiefe, laute Glocke in einem hohen Ziegelturm, der traurig und verlassen auf einem Felshaufen stand.

Theodora räusperte sich. »Hinter dir müssten zwei Masken liegen.«

»Masken?«, fragte ich.

»Plapper mir nicht alles nach, Snicket. Du bist ein Praktikant, kein Papagei. Auf dem Rücksitz liegen zwei Masken. Die brauchen wir.«

Ich drehte mich um. Ja, da lagen sie, aber ich musste erst einen Moment lang daraufstarren, bevor ich den Mut fand, sie anzufassen. Die beiden Masken, eine für einen Erwachsenen und eine für ein Kind, waren aus silbrig glänzendem Metall mit einem Gewirr von Gummischläuchen und -filtern auf der Rückseite. Vorne hatten sie schmale Sehschlitze und darunter eine kleine Ausstülpung für die Nase. Wo der Mund hingehört hätte, war nichts, so dass die Masken mich schweigend und schaurig ansahen, als hielten sie die gesamte Unternehmung für keine gute Idee.

»Ganz meine Meinung«, sagte ich.

Wieder ein strafender Blick von Theodora. »Die Glocke ist das Signal, dass wir diese Masken applizieren sollten. Applizieren ist ein Wort, das hier so viel bedeutet wie ›aufsetzen‹. Der Druck in dieser Tiefe erlaubt es uns sonst nicht zu atmen.«

»Druck?«

»Der Wasserdruck, Snicket. Er umgibt uns von allen Seiten. Maskiert oder nicht, du musst dein Hirn einschalten.«

Mein Hirn sagte mir, dass es nicht einsah, warum uns von allen Seiten Wasserdruck umgeben sollte. Es war ja kein Wasser da. Ich wunderte mich, wo all das Wasser hingekommen sein konnte, als sie diesen Teil des Meeres dränierten, und ich hatte völlig recht, mich zu wundern. Aber ich sagte mir, dass das die falsche Frage war, und stellte stattdessen eine andere: »Warum hat man das gemacht? Das Meer trockengelegt?«

S. Theodora Markson nahm mir eine der Masken aus der Hand und stülpte sie über ihre Kappe. »Um die Stadt zu retten«, erwiderte sie mit dumpfer Stimme. »Setz deine Maske auf, Snicket.«

Ich gehorchte. Unter der Maske war es dunkel, und roch leicht nach Höhle oder nach einem Kleiderschrank, der lange nicht mehr geöffnet worden ist. Ein paar Schläuche knäulten sich vor meinem Mund wie Würmer vor einem Fisch. Ich blinzelte durch meine Schlitze zu Theodora hinüber, die zurückblinzelte.

»Funktioniert sie?«, wollte sie wissen.

»Woran merke ich das?«

»Wenn du atmen kannst, funktioniert sie.«

Ich wandte nicht ein, dass ich vorher ja auch atmen konnte. Etwas Interessanteres nahm meine Aufmerksamkeit gefangen. Durch das Fenster des Roadsters sah ich eine Reihe riesiger Fässer, alt und deckellos, und neben jedem ragte eine absonderliche Maschine in die Höhe. Die Maschinen ähnelten gigantischen Injektionsnadeln, als bereitete ein Arzt eine Mehrfachimpfung für einen Riesen vor. Hier und da standen Menschen – ob Männer oder Frauen, konnte man durch die Masken nicht erkennen –, die nachprüften, ob auch alles fehlerfrei lief. Das tat es. Scharniereschwingend, zahnrädersurrend tauchten die Nadeln tief in Löcher in den muschelbedeckten Boden hinab und kamen mit einer schwarzen Flüssigkeit gefüllt wieder nach oben. Mit einem leisen, schwarzen Schwappen leerten sie die Flüssigkeit in die Fässer, und dann tauchten sie wieder hinunter in die Löcher, unermüdlich, während ich durch die Schlitze in meiner Maske zusah.

»Öl«, mutmaßte ich.

»Tinte«, berichtigte Theodora. »Die Stadt heißt Schwarz-aus-dem-Meer. Am Meer liegt sie natürlich nicht mehr, das Tal wurde ja dräniert. Aber hier wird nach wie vor Tinte gewonnen, die einmal berühmt dafür war, dass sie die dunkelsten, hartnäckigsten Kleckse von allen verursachte.«

»Und die Tinte kommt aus diesen Löchern?«

»Diese Löcher sind tiefe, enge Höhlen«, sagte Theodora, »wie Brunnenschächte. Und in den Höhlen leben Tintenfische. Die stoßen die Tinte aus.«

Ich dachte an eine Freundin von mir, die mit mir die Ausbildung absolviert hatte, ein Mädchen, das sich mit der Unterwasserwelt bestens auskannte. »Aber stoßen Tintenfische nicht nur dann Tinte aus, wenn sie Angst haben?«

»Ich schätze, diese Maschinen dürften einem Tintenfisch Angst genug einjagen«, sagte Theodora und bog auf einen schmalen Weg ein, der sich inmitten der Muschelschalen einen steilen, schroffen Felshang hinaufwand. Auf seinem Gipfel sah ich durch das Nachmittagsgrau ein schwaches Licht blinken. Ich brauchte ein bisschen, um zu begreifen, dass es von einem Leuchtturm kam, der früher einmal von seiner Felsspitze aus über Meereswogen geblickt hatte, jetzt aber von nichts als dieser weiten, unheimlichen Senke umgeben war. Als sich der Roadster bergan stotterte, sah ich aus dem Fenster auf Theodoras Seite und entdeckte gegenüber den Tintenquellen eine weitere Sonderbarkeit.

»Der Klausterwald«, sagte Theodora, bevor ich noch fragen konnte. »Als das Tal dräniert wurde, dachte man, alle Meerespflanzen würden von selbst absterben und verdorren. Aber meinen Informationen zufolge hat es der Seetang aus unerfindlichen Gründen gelernt, auf trockenem Land zu wachsen, und jetzt erstreckt sich hier über Meilen dieser riesige Seetangwald. Halte dich fern von ihm, Snicket. Es ist ein wilder, gesetzloser Ort, der noch keinem gut bekommen ist.«

Sie brauchte mir nicht zu sagen, dass ich mich von dem Klausterwald fernhalten sollte. Sein bloßer Anblick war schon beklemmend genug. Es schien weniger ein Wald als ein endlos ausgedehntes Unterholz, dessen ledrig glänzende Blätter hin und her schwankten, als würden sie noch immer vom Wasser gewiegt. Selbst durch die geschlossenen Fenster roch ich den brackigen Geruch nach Fisch und Meeresboden, und ich hörte das Zischeln von Tausenden von Seetangsträngen, die ihre Trockenlegung irgendwie überlebt hatten.

Als der Roadster endlich die Hügelspitze erreichte, läutete wieder die Glocke, diesmal zur Entwarnung. Wir nahmen unsere Masken ab, und Theodora fuhr auf einer normal gepflasterten Straße weiter, die sich an dem blinkenden Leuchtturm vorbei einen baumbestandenen Hang hinunterwand. Wir passierten ein kleines weißes Häuschen und hielten dann in der Auffahrt zu einem Herrensitz, der so groß war, als wären mehrere Herrensitze miteinander kollidiert. Ein Teil davon sah wie ein Schloss aus mit mehreren hohen Türmen, die in die wolkige Luft ragten, ein anderer Teil erinnerte eher an ein Zelt, denn über einem kunstvoll angelegten Garten voller Brunnen und Statuen spannten sich schwere graue Stoffbahnen, und wieder ein anderer, mit einer schmucklosen Eingangstür und einem überdimensional langen Fenster, hatte etwas von einem Museum. Der Blick aus diesem Fenster musste früher, als noch Wogen gegen die Felsen gebrandet waren, sehr schön gewesen sein. Jetzt war er es nicht mehr. Ich schaute hinab und sah das Blattwerk des Klausterwaldes, das langsame Wellen schlug wie zum Trocknen aufgehängte Geisterwäsche, und dahinter die Nadeln, die ihre Tinte in die wartenden Fässer pumpten.

Theodora bremste und stieg aus dem Auto, dehnte sich, zog dann die Handschuhe aus und nahm die Kappe ab. Jetzt endlich hatte ich freie Sicht auf ihre Haare, die kaum weniger befremdlich schienen als alles andere auf unserer Fahrt. Ich hätte zum Friseur gemusst, aber gegen S. Theodora Markson wirkte ich geradezu kahl. Ihr Haar stand in wilden, wirren Strähnen vom Kopf weg wie ein Wasserfall aus struppigen Wollzotteln. Es war schwer, ihr zuzuhören, solange ich dieses Gestrüpp vor mir sah.

»Hör gut zu, Snicket«, sagte meine Mentorin. »Du bist in der Probezeit. Angesichts deines Faibles für überflüssige Fragen und anmaßende Kommentare muss ich mir schwer überlegen, ob ich dich behalte. Faible ist ein Wort, das hier soviel bedeutet wie ›Vorliebe‹.«

»Ich weiß, was Faible bedeutet«, sagte ich.

»Genau das meine ich«, sagte Theodora streng und fuhr sich rasch mit den Fingern durchs Haar, um es zu bändigen. Es ließ sich nicht bändigen, so wenig wie Blutegel. »Unser erster Klient wohnt hier, und wir sehen ihn heute zum ersten Mal. Du wirst so wenig wie möglich sagen und alles mir überlassen. Ich bin eine große Nummer in meinem Fach, und du wirst viel lernen, solange du den Mund hältst und nicht vergisst, dass du nur ein Praktikant bist. Hast du verstanden?«

Sehr gut sogar. Kurz vor dem Abschluss hatte ich eine Liste der Mentoren erhalten, bei denen ich anheuern konnte, angeordnet nach dem Erfolg, mit dem sie ihre diversen Missionen ausführten. Die Liste umfasste zweiundfünfzig Mentoren. S. Theodora Markson rangierte an zweiundfünfzigster Stelle. Sie war alles andere als eine große Nummer, und genau deshalb hatte ich sie gewählt. Die Landkarte war nicht das Gelände. Ich hatte mir vorgestellt, als Praktikant in der Hauptstadt zu arbeiten, so dass ich mit jemandem, dem ich rückhaltlos vertraute, eine hochwichtige Aufgabe zu Ende führen konnte. Aber die Welt entsprach nicht der Vorstellung, die ich mir von ihr machte, und so stand ich stattdessen neben einer ungekämmten Fremden und sah hinaus auf ein Meer ohne Wasser und einen Wald ohne Bäume.

Ich folgte Theodora die Auffahrt entlang und eine lange Ziegeltreppe hinauf zur Eingangstür, wo sie sechsmal hintereinander Sturm klingelte. Alles sagte mir, dass das falsch war – dass wir am falschen Ort vor der falschen Tür standen. Aber das half mir nichts. Zu wissen, dass etwas falsch ist, ohne dass das etwas hilft, ist eine Erfahrung, die man im Leben häufig macht, und ich bezweifle, dass ich je wissen werde, warum.