Das Sprengkommando

ODER:

Dong de jun guan zhuan hang dao bei jing zhi zao xiang chang – Die Umschulung des DDR-Militärattachés zum Pekinger Wurstmacher

Am nächsten Morgen ruft Steffen Schindler an. Es geht ihm besser. Wir können uns in der »Anlegestelle« treffen. Er will gegen 10 Uhr dort sein.

Damit ich nicht wieder umherirre, fährt mich Klaus zu der deutschen Gaststätte. Ich hätte sie auch gestern gefunden, wenn ich das schluchtenförmige Lehmbett mitten in der Stadt als Fluss erkannt und daran bis zur »Anlegestelle« entlanggelaufen wäre. In dem 50 Meter breiten Flussbett windet sich nur noch ein dünnes Rinnsal. Ein Schiff steckt mit dem Kiel in der Erde, und Arbeiter versuchen mit Presslufthämmern und Pickeln den gefrorenen Boden aufzuhacken und überdimensionale, zu Bündeln zusammengefasste dekorativ aus dem »Fluss« ragende Räucherstäbchen neu zu befestigen. Die Tür der »Anlegestelle« schmückt außen ein schwarz-rotgoldenes Band. Innen riecht es schon vor 10 Uhr nach gekochtem Eisbein. Schwarz-rot gekleidete Bedienerinnen decken die Tische. Mit Messern. Mit Gabeln. Und mit Löffeln! Und eine singt dabei.

Der Chef und die Gäste fehlen noch. Ich setze mich nicht gleich, sondern studiere die an den Wänden angebrachten Hinweise, Verordnungen, Reklameschilder, Biersprüche und die alten Ölgemälde von Seeschlachten und Schiffsuntergängen. Die »Anlegestelle« in Peking ähnelt einer Hafenkneipe in Rostock. Fischreusen und Netze mit Kugelfischen und Hechten hängen an der Decke. Auf Raumteilern und Balken stehen Schiffsmodelle. Ein aus Plaste oder Pappmaché geformter Steuermann hängt so weit oben an der Wand, dass man ihm zur Begrüßung nicht wie »Miss Durty« im irischen Pub auf die ausgestreckte Hand klopfen kann. Das maritime Interieur wird durch Positionslampen, Rettungsringe, Seemannsknoten, Schwimmwesten und ein Steuerrad vervollständigt. Dazwischen hängen künstliche Tannenzweiggirlanden, an denen Weihnachtskugeln befestigt sind, und daneben die deutsche Fahne mit dem Pleitegeier als Wappentier. Am Tresen verkündet ein Schild: »Tiefer als unser Kontostand liegt nur die Titanic.« Und ein anderes: »Wir lassen uns nicht hetzen! Wir sind bei der Arbeit und nicht auf der Flucht.« Im hinteren Teil des Gastzimmers werden die vier Krisen des Mannes genannt: »Bier warm. Zigaretten alle. Alte keine Lust. Kratzer im Lack.« Aus den Jahren vor 1933 werben Reklameschilder für die »Schweineschlachterei und Wurstwarenfabrik Frankfurt/Main, Sachsenhausen« und die »Hamburger Amerika-Linie, Deutschlands größte Reederei«.

Unter Glas befindet sich eine Urkunde über die Taufe des Seemanns Reinhard Nickel am 15. 07. 1964 auf dem DDR-Motorschiff »Werner Seelenbinder« auf 48 Grad östlicher Länge. An der Preistafel ist neu angeschrieben: »German Bockbier für 0,5 Liter 30 Yuan«. Außerdem gibt es Wernersgrüner, Krombacher und Kulmbacher. Am Mittelpfeiler der Gaststätte hängt ein Zertifikat, in dem bestätigt wird, dass Herr Steffen Schindler im Bayerischen Brauereimuseum Kulmbach den Bierkennertest bestanden hat. Nun ist er »berechtigt, bei Biertischgesprächen das Wort zu führen und lauthals sein Fachwissen zu behaupten«.

Als der stattliche Mann, dem man ansieht, dass er Bier und Fleisch liebt, gegen 10.45 Uhr zur Tür hereinpoltert, weist er zuerst seinem sofort herbeieilenden, dem Personal im Restaurant vorstehenden Chinesen in die Tagesaufgaben ein. Dann schaut er sich in der Gaststätte um, als müsste er mich im immer noch leeren Gastraum suchen.

»Möchtest du ein Bier?«

»Nein, bitte lieber einen Tee.«

»Sollte ich auch … – bringt einen Tee und … ein Bier!«, sagt er und setzt sich zu mir.

Er ist grauhaarig und schaut mit kleinen Augen freundlich aus seinem fülligen Gesicht. Als müsste er sich beruhigen und konzentrieren, verschränkt er die Hände und fragt mich nach dem Woher und Wohin und Wie lange und Warum. Dann sagt er kurz und bündig, aber nicht ungehalten: »Also was willst du wissen?«

Auf die Schiffe, das Steuerrad und die alten Ölbilder zeigend, frage ich, ob er zur See gefahren ist.

»Nein. Aber ich wollte bei der Fahne zur Marine. War so ein Jugendtraum. Konnte zwar schwimmen, hatte aber Schwierigkeiten mit den Augen. Für den ärztlichen Eignungstest im Wehrbezirkskommando hatte ich deshalb die immer kleiner werdenden Buchstabenreihen bei der Augenprüfung auswendig gelernt. Das funktionierte. Ich durfte zur Marine nach Rostock rauf. Dort oben aber sagten die Armeeärzte: ›Nicht tauglich für die Seefahrt!‹ Zu dritt sind wir Abgelehnten mit Sack und Pack, also mit unserem Seesack, runter nach Zittau zur Offiziersschule für die Landstreitkräfte. Ich hatte mich in Rostock auf Maschinenbau, auf Schiffsdiesel, spezialisieren wollen. Eben was mit Meer, dachte ich. Aber im Zug sagte mir einer von den beiden anderen: ›Was willste mit Schiffsdieseln? Schiffsdiesel brummen nur, Artillerie aber knallt! Da siehste, ob du was getroffen hast.‹ Also bin ich in Zittau zur Artillerie: Kanonen und Raketen. Aber nach der Ausbildung zum Leutnant wieder rauf nach dem Norden. Doch nicht auf ein Schiff, sondern zu den Panzerjägern.«

Ich unterbreche seinen lakonischen Bericht und sage: »Danach in 20 Jahren vom 22-jährigen Leutnant zum Oberst und Militärattaché der DDR – das ist doch keine normale Karriere?«

In seinem Leben, meint er grienend, sei sehr viel ungewöhnlich gelaufen. »Ein normaler DDR-Bürger konnte ich schon wegen meiner Mutter nicht werden. Die hat als Schneiderin gearbeitet. Aber nicht in einem VEB oder einer PGH. Sie war privat. Private Schneidermeisterin mit 6 (!) Angestellten. Schneiderin, das kam in der DDR gleich nach Kfz-Schlosser oder Arbeiter in einem Fliesen-Betrieb. Mutter nähte für die Leute das, was sie im Geschäft nicht kaufen konnten. Sie hatte, was man heutzutage in China am allerwichtigsten braucht: Guanxi – Beziehungen. Da gab es einen Tierarzt auf dem Land, der früher Arzt bei der bespannten Artillerie war. Für dessen Frau nähte sie auch. Dem durfte ich während der Schulferien helfen. Er behandelte alles: vom Papagei bis zum Bullen. Mit Mutters Beziehung erhielt ich dann eine Lehrstelle: Pferdezüchter mit Abi. Aber die Ausbildung wechselte dort regelmäßig: ein Jahr Pferd, ein Jahr Rind. In dem Jahr waren die Rinderzüchter mit Abi dran. Das hat zum Beispiel der Gysi gemacht. Aber Rinderzüchter wollte ich nicht! Dann gab es im Kreis noch drei (!) Lehrstellen für Kfz-Mechaniker. Mutter besorgte eine davon. Doch als mir ein Besoffener vom Autohof verklickerte: ›Bei uns waschen die Kfz-Stifte nur die Busse‹, schmiss ich die Sache. Und ging in den Druckereimaschinen-Betrieb Planeta in Radebeul. Damals hatte ich schon ein Mädel. Außerdem musste ich, damit die Mutter weiterhin ihren schützenden Beziehungs-Arm über mich hielt, das Abi in der Volkshochschule nachholen. Und spielte in einer Band Gitarre. Jeden Morgen früh um 4 Uhr raus! Und 30 Kilometer bis nach Radebeul. Mutter hatte mir abends schon Bemmen geschmiert und Zahnpasta auf die Bürste gedrückt.«

Alles andere hat er schon erzählt: Ausbildung als Schmied. Marine – nitschewo! Leutnant der Artillerie. Panzerjäger … »Aber irgendwann sagte die Mutter: ›Steffen, das wird ein beschissenes Leben als Offizier. Kriegst ’ne Frau, und die bekommt vier Kinder. Und nach Feierabend sitzt du mit ’ner Bierflasche in der Hand irgendwo da oben bei den Sandlatschern auf der Bank vor der Tür. Tag für Tag.‹ Und danach – ich glaube zwar nicht, dass Mutter sogar Beziehungen zur Personalabteilung der NVA hatte, aber es klingt wie ein Märchen – kamen Offiziere aus Berlin, die mit mir über meine Perspektiven redeten. Ich dachte erst an das Grenzregiment. Aber dann erhielt ich einen neuen Namen und war anschließend nicht mehr der Genosse Schindler, sondern der Genosse Schering. Die Nummer 18! In einer ehemaligen Lungenheilanstalt bei Stendal machte ich dann alles, was man so in Spionagefilmen sah. Fallschirmspringen. Mit Handfeuerwaffen aus aller Welt schießen. Nachts, im unbekannten Gelände vom Auto abgesetzt, ein 25 Kilometer entferntes Ziel finden. Als Soldat ohne Schulterstücke militärisch wichtige Objekte auskundschaften. – Anschließend diente ich bei der Militäraufklärung, 12. Verwaltung in Berlin. Zuerst musste ich die Gegend von Alaska bis Feuerland bearbeiten. Dann Skandinavien. Nein, nicht vor Ort. Vor Ort waren nur unsere Militärattachés. Die mussten Noten austauschen und zu Empfängen gehen. Für die konkreten Arbeiten gab es in den Botschaften auch Diplomaten, die zuvor militärisch ausgebildet worden waren.«

Vier Jahre war Schindler erster Gehilfe des Militärattachés in Ägypten. »Die SU hatte dort wegen diplomatischer Verwicklungen keinen Militärattaché. Also mussten wir für die Freunde aufklären. Beispielsweise das Verhältnis der PLO-Führung zu Arafat.«

Als er von seiner Frau geschieden war, wurde der Genosse Schindler aus dem Verkehr gezogen. »Keine Auslandseinsätze. Aber weil ich immer saubere Fingernägel und einen ordentlichen Haarschnitt hatte, wurde ich nach knapp zwei Jahren zum Stellvertretenden Verteidigungsminister Generaloberst Fritz Streletz beordert. Ihm sollte ich aufzählen, was ich außer deutschem Essen noch liebe. Ich sagte: ›Italienisch, indisch, chinesisch …‹ Er darauf: ›Chinesisch können Sie jetzt jeden Tag essen. Ich schicke sie als Militärattaché nach China.‹ Das war Ende 1988. Ich versuchte einzuwenden, dass ich von China nur Mao, Reis und Radfahrer kannte. Es war zwecklos. Ich ging also zu meiner neuen Frau in die Klinik – damals war gerade unser Sohn geboren – und sagte ihr: ›Sieglinde, wir müssen lernen, mit Stäbchen zu essen!‹

Das erste Halbjahr 1989 bereitete man mich politisch auf China vor. Ich erfuhr viel, aber zu wenig, um das Land zu begreifen. Und mit Stäbchen zu essen brachte man uns auch nicht bei.«

Er macht eine Pause. Überlegt und sagt dann, als spräche er mit sich selbst: »Im November 1989, nachdem die Mauer offen war, flog ich in einer Sondermaschine zusammen mit den Sängern, Musikern und Tänzerinnen des NVA-Kulturensembles ›Erich Weinert‹ nach China. Sie sollten die Chinesen unterhalten und ich als Militärattaché die Fahne des Sozialismus hochhalten.«

Ich unterbreche ihn. »Drei Monate zuvor erschossen chinesische Soldaten oppositionelle Demonstranten auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking.«

Er erzählt, dass die Berichterstattung darüber im Außenministerium und der Armeezentrale natürlich im Sinne der regierenden Kommunistischen Partei Chinas geschönt worden war. »Die westlichen Medien sprachen von den Demokratie fordernden chinesischen Oppositionellen, bei uns waren es die konterrevolutionären Elemente. Schwarz-weiß. Die einen berichteten von den um sich schießenden Soldaten und den Panzern, die anderen von Demonstranten, die die Busse, in denen die Soldaten saßen, mit Molotow-Cocktails zu sprengen versuchten. Und wir analysierten alles mit dem Ziel zu verhindern, dass so etwas auch in der DDR geschehen könnte. Wer das Massaker in China persönlich zu verantworten hatte, ist bis heute ungeklärt und ungesühnt.«

Doch auf keinen Fall hat er damals geahnt, dass nicht einmal drei Jahre nach dem Massaker die Amerikaner von der kommunistischen Führung die Genehmigung erhalten würden, in der Nähe vom »Platz des Himmlischen Friedens« ihre erste McDonald’s-Filiale in Peking zu eröffnen. »Und dass ich mit McDonald’s, als Vertreter des Hua’an-Fleischbetriebes einen Vertrag über die Lieferung von Fleisch für die Burger abschließen würde.«

Doch das gehört schon zu seiner Arbeit nach der Zeitenwende.

»Zuvor wollte Armeegeneral Heinz Keßler China noch einmal offiziell besuchen. Es wurden jede Menge Geschenke eingeflogen: eine Suhler Doppelbockflinte, 10 Meter Plauener Spitze, Pakete mit Dorschleber, Schnaps, Säbel, 8 Pistolen und viele geschnitzte Nussknacker aus dem Erzgebirge. Keßler sagte seinen Besuch ab, doch die Geschenke blieben hier. Und als der neue DDR-Verteidigungsminister Eppelmann …« Steffen Schindler bestellt ein neues Bier. Trinkt und erzählt dann lachend, dass er im Mai 1990 zusammen mit den anderen Militärattachés zu einem Treffen beim neuen Verteidigungsminister Eppelmann nach Berlin gerufen worden war.

»So viel salutiert hatte ich in meinem Leben noch nie. Der ehemalige Wehrdienstverweigerer der DDR konnte gar nicht genug davon bekommen. Immer wieder ›Achtung!‹, und wir salutierten.«

Schindler entschuldigt sich für die Zwischenbemerkung und erzählt weiter, was geschah, nachdem Eppelmann einen Monat vor der Wiedervereinigung per Fernschreiber befahl, dass der Militärattaché Schindler die Botschaft zu verlassen habe.

»Aber die Geschenke waren noch da. Also haben wir die Dorschleber aufgegessen, die Nussknacker verschenkte ich an Botschaftsmitarbeiter. Den Schnaps ließ ich beim arabischen Militärattaché Mustafa Karatja. Er ist Moslem, und ich dachte, bei ihm wird sich der Alkohol am längsten halten. Das Problem waren die Säbel und Pistolen, die wollte man in Berlin zurückhaben. Der Interflug-Chef half und brachte sie durch den Piloteneingang zur Interflug-Maschine, die ein Armeepilot flog. Die Plauener Spitze habe ich an chinesische Offiziere in Peking verteilt. Und meinem Freund, dem Stellvertretenden Generalstabschef der Chinesischen Volksbefreiungsarmee, überreichte ich zum Abschied die prunkvolle Doppelbockflinte aus Suhl.«

Damals dachte der 42-Jährige, dass es ein Abschied für immer ist. Doch als er erfuhr, dass die Hua’an Fleisch GmbH, ein deutsch-chinesisches Joint Venture, für die Geschäftsleitung in Peking einen Assistenten suchte, bereitete er seine Rückkehr vor.

Noch bevor Deutschland vereinigt war, fuhr der Oberst a. D., der Genosse Steffen Schindler, in den Stammbetrieb von Hua’an nach Nordfriesland. »Hätte ich als 16-Jähriger nicht Pferdezüchter werden wollen, sondern mich wie der Gysi schon damals mit Rindviechern beschäftigt, wäre mir die Lehrzeit im schleswig-holsteinischen Niebüll leichter gefallen. Ich musste die Jungbullen von der Weide holen, Schweine schlachten und zerlegen und das Schlachthaus ausspritzen. Damals bin ich kaum aus den mistigen Gummistiefeln rausgekommen.«

Im Februar 1991 kehrte er nach China zurück, begrüßte zuerst die staunenden alten Freunde der Chinesischen Volksarmee und begann dann, für Hua’an zu arbeiten.

Die Geschichten, die er aus der Zeit des Anfangs erzählt, sind schon oft veröffentlicht worden.

»Soll ich’s kurz machen?«, fragt er. Ich nicke.

»Als ich bei Hua’an in Dachang anfing, lagen 200 Tonnen Rindfleisch auf Lager. Das Fleisch hatte einer für die Asien-Spiele bestellt, aber, weil das Zeug furztrocken war, nicht abgenommen. Ein Verlust von knapp 200 000 Euro für die Firma. Da habe ich meine Leute von der Volksarmee angerufen und ihnen gesagt, dass ich, um von dem chinesischen Chef als deutscher Manager anerkannt zu werden, das furztrockene Fleisch irgendwie loswerden muss. Sie sagten: ›Wir kommen.‹ Ich lud sie zum Essen ein. Sie tranken sehr viel, und irgendwann befahl ihr Chef aus dem Verteidigungsministerium: ›Die erste militärische Konservenfabrik Qinghuangdou kauft die 200 Tonnen.‹ Da war ich fein raus und in der Firma danach der Größte.«

In der zweiten Geschichte spielt die Armee keine Rolle, sondern nur die Erfindungsgabe eines an die Mauer gewöhnten Ostdeutschen.

»Der Fleischbetrieb befand sich südlich von Peking in einem autonomen muslimischen Gebiet in Dachang. Dort hätten wir keine Schweine verarbeiten dürfen, mussten die Rinder schächten und sie beim Töten mit dem Kopf nach Mekka ausrichten. Schächten und Mekka waren möglich, aber ohne Schweinefleisch Wurst zu machen, das ging nicht. Also wurde der Verarbeitungsbetrieb für die Schweine durch eine chinesische Mauer, also besser eine muslimische Mauer, vom übrigen Betrieb getrennt. Und die muslimischen Chinesen standen auf der gläsernen Galerie in der Schlachthalle. Wir hatten sie aus Glas bauen lassen, damit die chinesischen Bauern zuschauen konnten, wenn wir ihre Kühe schlachteten. Sie hatten Angst, dass wir sie betrügen, denn zuvor, als wir nach Lebendgewicht bezahlten, hatten sie uns betrogen: mit Schläuchen Wasser in die Pansen der Rinder gefüllt. Nach dem Schlachten wurde alles verwertet und verkauft: Köpfe und Hufe, sogar die Penisse und Sehnen und die Haut. Wir mussten also nichts teuer entsorgen.

Aber wenn ich von dem Betriebsteil, in dem die ›unsauberen Schweine‹ zerlegt wurden, in den ›sauberen‹ muslimischen Betrieb wollte, musste ich fast einen Kilometer um den Betrieb herumlaufen. Doch auf dem Gelände der beiden Betriebsteile gab es zwei aneinanderstehende, aber streng voneinander getrennte Fahrradschuppen. Dort ließ ich mir heimlich eine kleine Tür einbauen.«

Die dritte Geschichte – wieder eine von der Hilfe durch die Armee – erzählt er noch kürzer.

»Für einen Erweiterungsbau im Betrieb mussten wir eine 200 Quadratmeter große Betonplatte beseitigen. Die Chinesen hämmerten zwar heftig, aber erfolglos. Da rief ich im Verteidigungsministerium an und bat, dass sie ein Sprengkommando schicken. Es rückte schon am nächsten Tag an. Doch die Soldaten sprengten nicht mit Dynamit, sondern schütteten nur ein graues Pulver in die Löcher und setzten die Platte unter Wasser. Noch vor Feierabend war die fast 40 Zentimeter dicke Betonplatte zerkrümelt. Das Pulver, mit dem man auch Flugzeuglandebahnen ohne Bomben zerstören konnte, war in der DDR-Bauakademie entwickelt worden. Weil das Geld für die Entwicklung ausging, gab man es, ohne es zu Ende getestet zu haben, an die Chinesen. Die machten es ›produktionswirksam‹. War schon in Ordnung, die Freundschaft zwischen der DDR und China, das heißt, wenn der große Bruder sie uns erlaubt hätte.«

Heute sind diese Geschichten für Steffen Schindler die Abenteuer einer längst vergangenen Zeit. Inzwischen wohnt er mit seiner Frau in einer Villa. Sie besitzen drei Restaurants und eine Catering-Firma, die Delikatessen für die wichtigsten Firmenempfänge in Peking liefert. Sie versorgte auch die deutschen VIP-Gäste bei den Olympischen Spielen. »Außerdem haben wir einen Fleischbetrieb und eine Verkaufsstelle. Wobei das mit dem Laden nicht einfach war. Als Ausländer darf man in Peking nur einen Laden eröffnen, wenn man dort das verkauft, was man selbst produziert. Mir blieb, nachdem ich bei Hua’an aufgehört hatte, gar nichts anderes übrig, als für die Verkaufsstelle, die wir nun privat übernahmen, auch einen eigenen Fleisch- und Wurstbetrieb zu gründen. Die besten Leute habe ich damals natürlich mitgenommen.«

»Sind Chinesen gute Arbeiter?«

»Das kommt darauf an, aus welcher Perspektive ich es betrachte. Und darauf, als was ich mich hier in China fühle. Als kurzzeitiger Gast. Oder als eine Art Kolonialherr. Oder als ein Mitstreiter der Chinesen. Meine Frau, die das Catering leitet, erklärte gestern: ›Zur Weihnachtsfeier 800 Gänsekeulen und 1500 Semmelknödel genau zwischen 11 und 13 Uhr bei VW pünktlich und heiß auf den Tisch gebracht. Alles klappte wunderbar. Habe ich toll hingekriegt!‹ Ich sagte ihr: ›Sieglinde, das haben deine Chinesen toll hinbekommen!‹ Sie entgegnete: ›Schließlich kriegen die ihr Geld dafür.‹ – ›Na ja‹, sagte ich, ›sie bekommen 1800 Yuan. Davon bezahlen sie 600 Yuan Miete für irgendeine Behausung, die sie Gemeinschaftswohnung nennen. Plus Taxi im Winter, wenn sie nicht mit dem Fahrrad kommen können. Da bleiben nicht mal 1000 Yuan, das sind nicht einmal 100 Euro zum Leben. Oder nimm eine Ayi, die kriegt noch weniger. Und dann kommt sie in die Wohnung eines reichen Ausländers. Und muss dort Luxusgegenstände saubermachen, die sie nur vom Fernsehen kennt.‹

Fleißig sind die meisten Chinesen. Sie brauchen das Geld für sich und ihre Familien auf den Dörfern. Arbeiten? Ja! Aber bloß keine Verantwortung übernehmen. Da gibt es beispielsweise in unserem Laden seit Wochen keine Walnuss-Salami. Frage ich, fehlen euch die Walnüsse? ›Nein, Chef.‹ – ›Was dann?‹ – ›Der Trockner läuft nicht, Chef.‹ – ›Weshalb habt ihr ihn nicht reparieren lassen?‹ Sie schauen mich verdutzt an und sagen: ›Das hat doch niemand angeordnet, Chef.‹

Es gibt jetzt ein neues Gesetz in China. In jedem privaten Unternehmen, das mehr als 15 Mitarbeiter beschäftigt, sollte man, damit die Arbeiter ihre Rechte einfordern können, eine Gewerkschaft gründen. Wir haben 170 Leute, und ich sagte ihnen: ›Vereinigt euch in der Gewerkschaft!‹ Aber sie wollen nicht. Sie opfern, ohne zu zögern, 100 Yuan für ihre Gottheit im Tempel, aber 5 Yuan Mitgliedsbeitrag für die Gewerkschaft sind ihnen zu viel. ›Wir gehen in die Gewerkschaft, Chef, wenn Sie unseren Mitgliedsbeitrag bezahlen!‹ So sind sie, meine chinesischen Mitstreiter. Und viele leben immer noch nach den Regeln des Konfuzius. Sie ehren die Alten. Selbst Polizisten, die wahllos prügeln, trauen sich nicht, alte Menschen zu schlagen. In der Nähe unserer Gaststätte befindet sich die UN-Vertretung. Manchmal halten davor Autos aus der Provinz. Die aus den Dörfern entsandten Überbringer von Protesten oder Petitionen an die UN sind in der Regel alte Menschen. Sie werden von der Polizei respektvoller behandelt als junge Abgesandte. Einer Oma halfen die Polizisten fürsorglich in das Polizeiauto und gaben ihr, weil es draußen sehr heiß war, Tee aus der Thermoskanne. So kann China auch sein.«

Ich frage ihn, ob er trotz seiner erfolgreichen Unternehmungen in China Sehnsucht nach Deutschland hat. Er antwortet nicht sofort, denn er hat bemerkt, dass wir uns an einen kleinen Tisch setzen müssen, damit Platz für andere Gäste wird. Die deutsche »Anlegestelle« füllt sich zur Mittagszeit bis auf den letzten Stuhl. Vor allem mit Chinesen. »Inzwischen ist es ein Statussymbol für junge neureiche Chinesen, nicht nur bei IKEA einzukaufen, sondern auch in internationale Restaurants, vor allem in deutsche und italienische, essen zu gehen.«

Ob er nach Deutschland zurück möchte, frage ich noch einmal.

»Nein! Hier kenne ich mich aus. Ich weiß sofort, was in China politische Agitation ist. Damit komme ich zurecht. Ich kann Agitation und Realität unterscheiden und mich danach richten. Aber in Deutschland begreife ich das immer weniger. Die Selbstdarstellung, die Scheinheiligkeit und die Lügen der Politiker kotzen mich an. Talkshow-Leute quatschen inbrünstig und mit geheuchelter Überzeugung das blödeste Zeug und fühlen sich trotzdem wie der Nabel der Welt. Dazwischen Kochshows, Unterhaltung und Krimis …

Mal ehrlich: Ich wäre zwar nicht – weil ich mir nie etwas zuschulden kommen ließ – nach der Wende wie der Streletz oder der Keßler vor Gericht gestellt und ins Gefängnis gesteckt worden. Aber wahrscheinlich wäre ich als ehemaliger DDR-Militärattaché heute in Deutschland ohne Job. Vielleicht auf Hartz IV und könnte in der Platte in Berlin-Marzahn mit einem Kissen unterm Arm den ganzen Tag aus dem Fenster glotzen.«

In Peking sei er zwar ein Ausländer, aber kein sozial abgestempelter.

»Und ich bin froh, dass die Chinesen die Ausländer inzwischen nicht nur tolerieren. Jahrhundertelang haben sie sich vom Ausland abgeschottet. Um 1425 besaßen sie die größte Expeditionsflotte der Welt, aber danach untersagte Kaiser Honxi bei Androhung strenger Strafen den Bau seetüchtiger Schiffe und die Fahrt über die Meere. 1449 verbot Kaiser Zhengtong bei Todesstrafe jeglichen Handel mit dem Ausland. Dem Land der Mitte genügte es, selbst der Mittelpunkt der Erde zu sein. Bis die europäischen Missionare und mit ihnen die Opium-Händler kamen …«

Nein, ich möchte keinen Geschichtsunterricht in der »Anlegestelle«.

Später recherchierte ich und begriff, dass das kaiserliche Verbot der Seefahrt und des Handels mit anderen Ländern wirklich einer der vielen Schlüssel ist, um Chinas Vergangenheit und Gegenwart besser zu verstehen.

Der kaiserliche Obereunuche und Admiral Zheng He war 1405 mit einer Armada von etwa 100 Schiffen und fast 30 000 Seeleuten, Astronomen, Soldaten, Ärzten und Geologen von Nanking zu seiner ersten Expedition aufgebrochen. Seine Flagg- und Schatzschiffe waren Neun (!)-Master mit 12 Segeln und in der Regel über 100 Meter lang und 50 Meter breit. Jeweils 200 Seeleute mussten im Bauch der riesigen Schiffe die 6 Meter langen Ruderbretter bewegen. Bis 1433 kreuzte der chinesische Admiral Zehng He bei seinen 7 Expeditionen mit der mächtigsten Flotte der Welt, die erst 500 Jahre später in der Tonnage von der englischen übertroffen worden ist, vor den Küsten von Afrika und Asien. Er ankerte vor Indonesien, Ceylon, Indien, erreichte Mekka …

Und Zheng He soll, so behauptete es 2004 ein englischer Forscher auch vor Kolumbus Amerika entdeckt haben. (Der war 87 Jahre nach dem Chinesen nicht mit 200 Schiffen und 30 000 Mann Besatzung, sondern mit drei insgesamt 70 Meter langen Karavellen und 88 Mann Besatzung in See gestochen.)

Intrigen am Kaiserhof und der Kampf zwischen den nach »innen gerichteten Abschottern« und den sich nach außen öffnen wollenden »Vertretern der Meerespartei« endeten mit der Zerstörung der chinesischen Werften, der Seekarten und der angedrohten Todesstrafe für diejenigen, die Schiffe mit mehr als zwei Masten bauten.

China, das »Land der Mitte« der gesamten Welt, und der Kaiser als universeller Herrscher zwischen Himmel und Erde verzichteten auf den Austausch mit anderen, wie sie sagten, »barbarischen Kulturen«.

Und noch im 18. Jahrhundert, als die Engländer einen Gesandten nach China schickten, damit der am Kaiserhof für die künftige Lieferung englischer Produkte die Türen öffnen sollte, antwortete der Kaiser Qianlong in einem Brief an den englischen König, dass er, der Himmelssohn, den englischen König gern als tributpflichtigen Untertanen begrüßen würde, ansonsten aber die mitgeschickten Geschenke nicht benötigte.

»Wie Ihr Gesandter sehen mag, besitzen wir bereits alles. … Und haben keine Verwendung für die Waren Ihres Landes.« Weder für schottischen Whisky und englische Wolle noch für Webstühle. Also mussten die Europäer (allen voran die Tee trinkenden Engländer) für chinesische Seide, chinesisches Porzellan und chinesischen Tee bares Silber bezahlen. Die Handelsbilanz war nur für China positiv. Als die englischen Silbervorräte zur Neige gingen und auch die übrigen Europäer interessiert am »freien« Handel mit China waren, forderten sie vom »Land der Mitte« eine Öffnung, um Handelsniederlassungen zu gründen und dadurch wirtschaftlichen Einfluss zu erhalten.

Wie in den anderen überseeischen Kolonien der Europäer begann die wirtschaftliche Eroberung mit der christlichen Missionierung. Getreu dem Motto »Vor dem Markt hat Gott die Missionierung gesetzt« hatten um 1800 auf der chinesischen Insel Macao, die unter portugiesischer Verwaltung stand, Jesuiten und andere Glaubensbrüder einen Stützpunkt zur christlichen Bekehrung Chinas errichtet. Einer der eifrigsten, um nicht zu sagen besessensten Missionare in Macao war Karl Gützlaff, der als pommerscher Schneidersohn in Berlin eine Missionsschule besucht und sich unter anderem 6 Fremdsprachen angeeignet hatte. 1828 ging er als Missionar nach Macao. Dort erlernte er Dialekte der chinesischen Sprache so perfekt, dass er, in Verkleidung und chinesisch sprechend, unerkannt in das für Ausländer verbotene geheime China reisen konnte. Er verteilte die von ihm ins Chinesische übersetzte Heilige Schrift und gründete erste christliche Gruppen. Doch weil die Missionierung, wie schon gesagt, meist nur Vorbote für die anschließende handfeste ökonomische Invasion ist, verdingte sich Karl Gützlaff, der den Chinesen christliche Werte und Moral beibringen wollte, 1831 bei der britischen Firma Jardin & Matheson. Sie schmuggelte Opium nach China. Karl Gützlaff begleitete die schwerbewaffneten Schiffe der Firma als vertrauenerweckender chinesisch sprechender Missionar in das Innere von China. Die Firma verdiente am Handel mit dem Opium das Silber, das die Engländer nicht mehr besaßen, um chinesischen Tee kaufen zu können.

Der Opium-Silber-Tee-Deal lief über Indien. Um an Silber und damit an chinesischen Tee, Seide und Porzellan zu kommen, tauschten die Engländer ihre Wolle, Whisky, Webstühle und andere Waren, die die Chinesen nicht haben wollten, in Indien gegen Opium. Das schmuggelten sie vom Hafen Kanton in das Innere von China. In den Jahren der besonders eifrigen Missionierung Chinas von 1821 bis 1837 verfünffachte sich auch die Menge des in China umgeschlagenen Opiums.

Mit Gottes Hilfe brachte man den Chinesen Religion und Opium. Als das Opium nicht nur die Silbervorräte Chinas kostete, sondern auch die wirtschaftlichen Strukturen und die Volksgesundheit zerrüttete, verbot Kaiser Daoguang im Jahre 1839 den Ausländern jeglichen Opium-Handel in China. Sein Beamter Lin Zexu soll 1600 Chinesen verhaftet, 70 000 Opium-Pfeifen vernichtet und in Kanton beim britischen Superintendenten für den Handel, Charles Elliot, 22 000 Kisten (über 1000 Tonnen) Opium beschlagnahmt haben lassen, das dann verbrannt wurde. Darauf entsandte die britische Regierung einen Flottenverband mit 16 Kriegsschiffen (540 Kanonen und 4000 Soldaten), um China zu zwingen, seine Märkte für den »freien Handel« zu öffnen.

Es war ein ungleicher Kampf. Die britischen Schiffe zerstörten dank ihrer großen Feuerkraft in kürzester Zeit die chinesischen Dschunken. Die Chinesen hatten seinerzeit zwar Kompass und Schießpulver erfunden, aber im Gegensatz zu den Europäern nicht weiterentwickelt. Die Briten eroberten die Küstenstädte und drangen auf den Flüssen in das Landesinnere ein. 1842 wurde der Erste Opiumkrieg beendet. In den Verträgen von Nanking musste China den Engländern und anderen Ausländern den uneingeschränkten freien Handel garantieren (auch den mit Opium), musste Hongkong an die Briten abtreten, mehrere Millionen Silbermünzen als Reparation bezahlen …

Trittbrettfahrer der Briten wurden zuerst die Franzosen und Amerikaner, später auch Russen, Portugiesen, Schweden, Norweger und Deutsche. Sie alle erzwangen von China die Öffnung des Landes für ihre eigenen Handelsfirmen. Und zusätzlich das Recht auf christliche Missionierung.

Weil die soziale und politische Ordnung in China durch die nicht mehr einzudämmende Opium-Sucht (vor allem unter dem Militär) gefährdet war, versuchte die kaiserliche Regierung mehrmals, den freien Opium-Handel zu beschränken. Briten und Franzosen bestraften daraufhin die »wortbrüchigen« Chinesen 1856 mit dem Zweiten Opium-Feldzug. 1860 besetzten sie, nachdem sie Truppen aus Indien zur Verstärkung herangezogen hatten, mit rund 20 000 Mann Peking. Sie zerstörten und plünderten den kaiserlichen Sommerpalast und China musste weitere Häfen für die Ausländer öffnen, den uneingeschränkten Opium-Handel garantieren und zusätzlich Reparationen in barem Silber bezahlen. Außer diesen Handelsrechten erzwangen die Briten auch »für alle Chinesen« das »Menschenrecht« auf freie Reisemöglichkeit, das zuvor nach kaiserlichem Edikt eingeschränkt gewesen war.

Doch der Grund für diese »humane Forderung« der ansonsten mit Chinesen nicht zimperlich umgehenden Europäer war keineswegs deren plötzliche Sorge um vorenthaltene bürgerliche Menschenrechte. Im Gegenteil. Seit dem Wiener Kongress 1814 war der Sklavenhandel verboten worden (in den USA erst 1864). Dadurch fehlten in den überseeischen Kolonien die schwarzen Sklaven als Arbeiter. Und englische, holländische, portugiesische und deutsche Schiffsreeder, die mit dem Sklaventransport viel Geld verdient hatten, suchten nach neuen Möglichkeiten des Menschenhandels. Die fanden sie in China. Um die chinesischen Kulis jedoch von Macao aus nach Kuba, Amerika und »Kaiser Wilhelms Land« (Neuguinea) verschiffen zu können, mussten sie das »Menschenrecht auf Reisefreiheit« für die Chinesen durchsetzen. In den ersten 10 Jahren nach diesem Verdikt sollen vom Hafen in Macao aus fast eine halbe Million chinesischer Kulis in die Kolonien der Europäer verschifft worden sein. Und die Reedereien verdienten wieder. Auf den Plantagen, bei der Zuckerrohrernte, dem Bau von Eisenbahnen starben die, wie man sie anpries, »besonders hitzeresistenten chinesischen Kulis« an Hunger, Durst und Auspeitschung zu Zehntausenden. (Auf den Plantagen der deutschen Besitzungen in Neuguinea überlebten in manchen Jahren nur die Hälfte der »eingeführten« Kulis die Strapazen.)

Fehlte es an Freiwilligen, zogen die Menschenfänger (die Europäer hatten ja das Recht auf »freien Handel« erzwungen) im Land umher und holten sich durch falsche Versprechungen, Drohungen oder indem sie die Chinesen mit Alkohol und Opium betäubten, neue Fracht für ihre Schiffe.

Ein österreichischer Forscher, der mit der Fregatte »Novara« in Macao anlandete, schrieb 1861 einen Bericht über die Verschiffung chinesischer Kulis. Bevor ich aus seiner Aufzeichnung zitiere, möchte ich ein sehr subjektives Detail, das auf den ersten Blick mit der chinesischen Geschichte nichts zu tun hat, erwähnen:

Kurz nach der Wende schenkte mir ein Bekannter, der zugleich als Dachdecker und Antiquitätenhändler (er fand auf Böden gar manches) arbeitete, ein Blumenbild mit einer mir unbekannten, sehr exotisch aussehenden Pflanze. Ich hatte das Bild stolz aufgehängt, denn unter der Blume stand: »Anthurium Scherzerianum«, aber ich hatte mich nie gefragt, weshalb die Blume diesen Namen trägt. Erst durch die Recherchen über den Handel mit chinesischen Kulis erfuhr ich, dass diese Flamingoblume aus der Familie der Ahorngewächse um 1857 nach dem österreichischen Forschungsreisenden Karl Ritter von Scherzer benannt worden ist. Und Karl Ritter von Scherzer war auch der österreichische Forscher auf der »Novara«, der 1861 die Verschiffung der chinesischen Kulis beschrieben hat!

»Wir haben […] die abgezehrten, hageren Jammergestalten gesehen, welche trotz des unsicheren Schicksals, das ihrer harrt, sich an portugiesische und spanische Seelenmäkler verdingen. Sie machen sich kontraktlich anheischig, gegen kostenfreie Verpflegung und Überfahrt nach ihrer Ankunft in Havanna acht Jahre hindurch bei irgendeinem ihnen angewiesenen Dienstherrn für vier Dollar monatlich zu arbeiten. Ein Lohn, welcher bedeutend geringer als derjenige ist […], den man im Land für angemietete Sklaven bezahlt. Die erhebliche Differenz kommt […] jenen Spekulanten zugute, welche die Importation von Chinesen besorgen und für jeden einzelnen eine sehr hohe Prämie ausbezahlt erhalten. Die Überfahrt, welche in der Regel vier bis fünf Monate dauert […], geschieht gewöhnlich auf französischen, portugiesischen, englischen und leider auch auf deutschen Schiffen. Welchen Qualen die armen Immigranten schon während der Reise ausgesetzt sind, geht aus der Tatsache hervor, dass nicht selten eine Anzahl dieser Unglücklichen über Bord springt, um durch den Tod in den Wellen ihren Leiden ein Ende zu machen. Es sind Fälle vorgekommen, dass durch schlechte Kost und Misshandlung 38 Prozent der eingeschifften Immigranten während der Überfahrt starben!« (Aus: Karl Ritter von Scherzer, »Reisen der österreichischen Fregatte ›Novara‹ um die Erde«, 1861.)

Die Demütigung der Chinesen fand nach dem »ungleichen Vertrag« von Peking noch kein Ende. Andere Länder versuchten sich ebenfalls ein Stück vom chinesischen Kuchen abzuschneiden. Auch die Deutschen hatten China gezwungen, ihnen das Recht auf Reisefreiheit im ganzen Land zu gewähren, und nutzten diese Chance. Der deutsche Kaiser Wilhelm II. erklärte, nachdem deutsche Forscher sich umgeschaut und das Gebiet der Bucht von Jiaozhou als ein gutes Einfalltor für die Kolonialisierung auserkoren hatten, 1898 das Gebiet Jiaozhou mit der Stadt Qingdao zur deutschen Kolonie. (Es war und blieb die einzige deutsche Kolonie im fernen Osten.)

Weil die europäischen Kolonialherren sich den Chinesen gegenüber wie Kolonialherren benahmen – auch die Deutschen ließen in Qingdao sofort getrennte Wohnviertel für Europäer und Chinesen errichten und bestraften jeden Chinesen, der unberechtigt das Viertel der Weißen betrat, mit 100 Stockschlägen –, wuchs der Hass der Chinesen auf die Ausländer. 1898 begann in Shandong ein Aufstand von verarmten chinesischen Bauern, die sich mit den sogenannten Geisterboxern zu einer Bewegung der »Verbände für Gerechtigkeit und Harmonie« zusammenschlossen. Die europäischen Missionare hatten inzwischen nicht nur den Opium-Handel befördert, sondern nach dem erzwungenen Recht auf Missionierung in China auch chinesische Diebe, korrupte Diener, Drogen- und Kulihändler und sogar bestrafte Verbrecher aufgenommen, das heißt, sie unter den Schutz der christlichen Kirche (und damit auch des dazu verpflichteten chinesischen Kaisers) gestellt. Von den »Boxern« angeführt, vertrieben und töteten die aufständischen Bauern chinesische Christen, kämpften gegen die europäischen Kolonialsoldaten und belagerten später in Peking das Gesandtschaftsviertel, in dem sich ausländische Diplomaten und Soldaten und chinesische Christen verschanzt hatten. Am 19. Juni 1900 forderte die chinesische kaiserliche Regierung die europäischen Gesandten auf, das Land binnen 24 Stunden zu verlassen. Und als einen Tag später der deutsche Gesandte Baron Clemens von Ketteler (der am Tag zuvor in einem Wutanfall einen kleinen chinesischen Jungen getötet haben soll) auf offener Straße in seiner Sänfte erschossen wurde, stellten 6 europäische Staaten, die USA und Japan sofort ein Expeditionskorps auf, das, vom deutschen Generalstabschef Feldmarschall Graf von Waldersee befehligt, die Chinesen bestrafen sollte. Als ein Teil dieser deutschen Truppen am 27. Juli 1900 von Kaiser Wilhelm II. verabschiedet wurde, rief er den Soldaten zu: »Kommt ihr vor den Feind, so wird er geschlagen. Pardon wird nicht gegeben. Gefangene nicht gemacht. Wer euch in die Hände fällt, sei in eurer Hand. […] So möge der Name Deutschland in China in einer solchen Weise bekannt werden, dass niemals wieder ein Chinese es wagt, etwa einen Deutschen auch nur scheel anzusehen.«

Das Expeditionskorps traf erst im Oktober in Peking ein. Schon am 13. August hatten die alliierten Truppen die Stadt erobert und drei Tage lang geplündert. Waldersee und seine Soldaten blieb danach nur noch der Rachefeldzug. Bis Ende März 1901 ließ er seine Soldaten töten, plündern, vergewaltigen und Dörfer niederbrennen.

China hatte danach Reparationen in Höhe von 1,4 Milliarden Goldmark zu zahlen, es durfte keine Waffen kaufen und einführen, das Gesandtschaftsviertel in Peking musste befestigt werden und die Mitgliedschaft in ausländerfeindlichen Organisationen wurde mit Tod bestraft. Ein Höhepunkt der Demütigung der Chinesen war der Sühneakt für den erschossenen Grafen von Ketteler. Dazu musste Prinz Chun, der Vater des letzten chinesischen Kaisers Puyi, sich in Potsdam bei Kaiser Wilhelm II. kniefällig entschuldigen …

Im Ersten Weltkrieg wurden hunderttausend Chinesen nach England und Frankreich verschifft und hoben dort hinter der Front Panzergräben aus, arbeiteten in Waffenfabriken, räumten Minen und heilten Verwundete in Lazaretten.

1937 begann das mit Hitlerdeutschland verbündete Japan in Nordchina einzufallen und eroberte noch im selben Jahr Peking.

Die ausländische Besetzung Chinas endet 1945.

Steffen Schindler fragt, ob ich eine Bratwurst essen möchte. Nein, ich möchte in China keine Bratwurst essen.

»Auch keine Thüringer?«

»Nein, auch keine Thüringer.«

Steffen Schindler ist, was seine Gefühle betrifft, wahrscheinlich noch kein Chinese. Sonst wäre er, das weiß ich inzwischen von Herrn Wu Ming, zu Tode beleidigt, denn er hat durch meine Ablehnung »sein Gesicht verloren«. Er aber antwortet einfach sehr schnell und knapp auf meine Frage nach seinem guten Tag.

»Ein guter Tag ist, wenn ich mal keine scheiß E-Mail erhalte, die verlangt, dass ich mich um dieses oder jenes Problem kümmern oder es sofort entscheiden soll. Und ich stattdessen über Land fahren und mit den alten Freunden von der Armee reden, trinken und essen kann, also einen Tag lang kein deutscher Unternehmer in China sein muss.«

»Ein beschissener Tag?«

»Wenn mir den lieben langen Tag nur unnütze, blöde Fragen gestellt werden, die jeder andere auch beantworten kann. Zum Beispiel, wie man die Sonnenschirme für das Restaurant transportieren soll. Ob zum Empfang außer Rotwein auch Weißwein ausgeschenkt werden darf. Das wissen Chinesen alles selbst, aber sie wollen es von mir hören. Was ich mir wünsche? Ich möchte nur noch der Alterspräsident des Unternehmens sein.«

Ich sage ihm nicht, dass ich bezweifle, ob er sich das wirklich wünscht. Stattdessen frage ich nach Chinas Zukunft.

»Die kommunistische Regierung darf nicht die Herrschaft über das explodierende Wachstum verlieren, und sie muss sich mehr um das Leben der Bauern kümmern. Die Bedürfnisse der Menschen wachsen, doch die landwirtschaftlich nutzbare Fläche wird durch die Industrialisierung immer kleiner. Außerdem sollte man die teilweise strengen staatlichen Kontrollregeln endlich lockern. Beispielsweise die für militärische Sperrgebiete. Heute kann man doch aus dem Weltraum in die kleinste Ecke jedes Landes schauen. Und dann wünsche ich, dass China weiterhin dafür eintritt, alle internationalen Konflikte in der Welt nur politisch und nicht durch Kriege zu lösen. Dazu gehört allerdings auch, dass sie darauf verzichten, ihre militärische Stärke überdeutlich zu zeigen. Nicht wie damals, als sie mit einer Rakete ihren eigenen Satelliten im Weltraum weggeschossen haben. Das ist so, als ob man einer Mücke auf 100 Kilometer Entfernung treffsicher ein Auge ausschießt. Warum sie das getan haben? Um Taiwan und der USA zu zeigen: Wenn wir wollen, könnten wir einem General, der im Weißen Haus auf dem Klo sitzt, die Eier abschießen. Starke Länder haben es nicht nötig, ihre Stärke so zu demonstrieren.«

Ich frage ihn nicht mehr nach Deutschland und auch nicht nach dem Alterspräsidenten, denn ich weiß, dass der Sohn, der im Gegensatz zu Steffen Schindler perfekt Chinesisch spricht, eines Tages das Unternehmen weiterführen wird. Aber ich möchte noch wissen, was übriggeblieben ist von den sozialistischen Idealen, den »Irrungen und Wirrungen« des Genossen Militärattachés.

»Ich bin 1992 noch einmal zur Kreisleitung der PDS in Berlin-Marzahn gegangen. Wollte mich, wie es sich gehört, ordentlich abmelden. Also austreten. Aber im Hinterkopf hatte ich auch den Gedanken: Vielleicht bleibst du doch dabei? Aber im Parteibüro war alles wie früher. Ein junger Kerl sagt: ›Warte mal, Genosse.‹ Nachdem ich fast eine halbe Stunde draußen gesessen habe, geh ich ohne anzuklopfen rein. Da hocken zwei auf der Schreibtischkante, trinken Kaffee, und einer sagt, ohne dass er gefragt hat, was ich will: ›Füll erst mal deinen Aufnahmeantrag aus!‹ – ›Nein, ich will eigentlich austreten!‹ Da holen sie den zweiten Sekretär der Kreisleitung. So ein Jüngelchen in Jeans. Ich frage ihn: ›Hast du in der NVA gedient?‹ Aber er behält die Hände weiter in den Taschen. Ich wäre vielleicht geblieben, wenn er gesagt hätte: Wir haben das alles leider verbaddelt. Die gute Idee des Sozialismus einfach verbaddelt. Stattdessen redet er nur vom ›Kapitalismus, der an allem schuld ist und der den Osten kaputtmacht‹. Da war nichts mehr von einer umsetzbaren gesellschaftlichen Idee. Nur so ein Revolutions-Kommunismus-Geschwätz. Da habe ich endgültig Schluss gemacht.«

Weil ich keine Bratwurst gegessen habe, sagt Steffen Schindler: »Du kannst dir den Betrieb anschauen, in dem wir die Thüringer Würste produzieren! Und danach probiere sie.«