Der Kampfwagen
ODER:
Dao zou 100 mi bi wang qian zou 1 gong li jian kang – Es ist gesünder, 100 Meter rückwärts als einen Kilometer vorwärts zu gehen
Der Komplex des in Vorbereitung auf die Olympischen Spiele gebauten supermodernen Südbahnhofs ähnelt in Funktion und Architektur einem Flughafen. Aber seine weiträumigen Warte- und Abfertigungsbereiche sind nicht mit Läden, Cafés und Reisebüros eingeengt, sondern vermitteln noch lichtdurchflutet die Vorstellung von Größe und Weite.
Herr Wu Ming und Kuni, die Dolmetscherin, warten vor der Abfertigung. Ich biete ihnen zur Begrüßung Schokoladenkekse an. Herr Wu Ming lehnt dankend ab. Die Dolmetscherin aber greift zu und bläst ihre Pausbacken im runden, mit Augen und Mund lachenden Gesicht auf. Sie ist an die dreißig, nicht groß, aber schlank und von schöner fraulicher Figur. Das Lustigste in ihrem Gesicht ist ein brauner Leberfleck auf dem Nasenrücken.
Sie arbeitet in einer deutsch-chinesischen Firma, war schon zu Praktika in Deutschland und hatte, sagt sie ein wenig traurig, längere Zeit auch einen Freund aus Deutschland.
Bevor wir in die Wartehalle gehen dürfen, in der sich das »Gate« zu unserem Zug befindet, müssen wir einchecken, das heißt, unsere Zugtickets, auf denen Zug, Waggon, Reihe und Sitzplatznummern aufgedruckt sind, an einer Sperre kontrollieren lassen. Es werden auf allen Stationen der Fernzüge nur so viele Fahrkarten verkauft, wie Sitzplätze frei sind. Stehplätze gibt es keine. Nur zum Neujahrsfest, zu dem jährlich rund eine halbe Milliarde Chinesen unterwegs ist, soll dieses ansonsten unumstößliche System zusammenbrechen. Nach der Kontrolle müssen wir durch die Sicherheitsschleuse gehen und das Gepäck durchleuchten lassen. Doch obwohl ich ein langes, feststehendes Messer zum Zerschneiden des Reiseproviants mitgenommen habe, piepst es nicht. Als wir nach den Kontrollen endlich im Warteraum vor dem Ausgang zu unserem Zug sitzen, verteilt Herr Wu Ming die Tickets, die er für die Hin- und Rückfahrt gekauft hat. Ich entziffere meine Platznummer und will meinen Augen nicht trauen. Hinfahrt Reihe 14 und Platz 4. Auf der Rückfahrt dieselben Zahlen. Ich erkläre Herrn Wu Ming, was er nicht wissen kann: »Der 14.4. ist mein Geburtsdatum.«
Doch Herr Wu Ming scheint nicht überrascht, sondern erklärt mir lächelnd, dass ich die Zahlen nicht zufällig erhalten habe. »Wahrscheinlich hat es der Abt in Tai’an vorausahnend so bestimmt.«
Ich weiß nicht, wem ich mehr misstrauen soll: dem nicht glaubhaften Zufall oder der noch unglaubhafteren Vorsehung des Abtes.
Herr Wu Ming will mir darauf nicht antworten. Er sagt nur, dass ich mit der Zeit alles verstehen werde.
Obwohl alle im Wartesaal Sitzenden garantiert ihren Platz bekommen werden, beginnt, nachdem ein Leuchtzeichen ankündigt, dass unser Zug bereitsteht und die Wartesaaltür geöffnet wird, die Schlacht jeder gegen jeden. Sie endet auch im Zug noch nicht. Die Chinesen drängeln beim Gepäckverstauen, Anstehen vor der Toilette und der Suche nach ihren Platznummern. Die Nummer 3 neben mir gehört einem Chinesen mit dem Umfang eines glücklichen Buddhas. Er setzt sich, verschränkt die Arme zufrieden auf den Bauch und schiebt mich lächelnd zur Seite. Ich wünschte, dass der taoistische Abt in seiner Vorsehung mir anstelle der Nummern 4 und 14 lieber einen schlanken Nachbarn für die 5 Stunden Fahrt organisiert hätte.
Ein junger Mann, der in seinem schwarzen Anzug und dem blütenweißen Hemd wie ein Steward aussieht, überprüft, ob die Gepäckstücke ordentlich in der Ablage liegen. Auch der den Müll einsammelnde Mann trägt Anzug und weißes Hemd. Die Bedienerin hat die Haare straff zu einem Knoten gebunden. Die umherwieselnde Waggonchefin – sie muss nach der strengen Einlasszeremonie am Bahnhof keine Tickets kontrollieren – ist durch eine goldene Kordel an der Mütze zu erkennen. Die Kehrfrauen, die die Gänge hin und her laufen, arbeiten mit Besen und Schaufeln, die an hellblauen, langen Stangen befestigt sind. In den Taschen der Sitze stecken neben der Zugbeschreibung (»die Behindertentoilette mit Becken und Brille!«) auch Kotztüten.
Als der Zug anfährt, beginnt Richard Clayderman auf dem Klavier zu spielen. Der Buddha neben mir schläft sehr schnell ein. Sein Gesicht entspannt sich. Und nun hat er auch am Kinn einen kleinen Bauch. Hinter mir sitzt ein zweiter Ausländer im Waggon. Auch ihn hätte sich der Abt in seiner Vorsehung für mich schenken können. Er ist lang aufgeschossen und spindeldürr und redet sehr laut, sehr schrill und sehr agitatorisch. Seine Augen blicken nicht die Gesprächspartner an, sondern sind starr geradeaus gerichtet. Wie ein Messias erklärt er zwei Chinesen fast drei Stunden auf Englisch die Wirkungsweise von Management und Marketing am Beispiel von internationalen Autofirmen. Die beiden Chinesen können sich wohl nicht gegen den Redefluss wehren, befolgen seine »Controller«- und »Flash«-Befehle, und der dickere tippt im perfekten 10-Finger–System bedeutende Sätze wie »Marketing is allround in the World« in die Tastatur seines Laptops.
Irgendwann übertönt ein noch lauter singendes Kind den lauten Ausländer. Clayderman hat schon längst aufgegeben. Vor dem Fenster ist die Sonne im Smog der ersten großen Stadt, in der wir halten werden, nur noch wie durch Milchglas zu sehen. Kilometerweit stehen neue Pfeiler, auf denen Straßen oder Bahnen gebaut werden sollen. Ein Wald aus Tempelsäulen.
Nach der erst Chinesisch und dann in Englisch wiederholten Ansage »Yonglinying« erheben sich leider weder der Buddha neben mir noch der »Wirtschaftsdoktor« hinter mir. Nur ein alter Mann, der während der Fahrt einen aus Ästen geflochtenen Korb, in dem zwei Hasen sitzen, auf dem Schoß hielt, verlässt den Platz vor mir. Ein kleiner Chinese, der auch durch seinen sehr hohen, blauen Hut nicht größer wird, steigt ein. Ich helfe ihm, den hölzernen Koffer im Gepäckfach zu verstauen. Clayderman beginnt wieder zu spielen. Ich glaube »Pour Adeline«. Und Steward und Müllsammler und Bedienerin und Waggonchefin und die Kehrfrauen laufen wieder und wieder die Gänge entlang. Durch die Zugheizung riecht man den beißenden Rauch der Kohleöfen in den Dörfern, durch die wir – so steht es auf der Anzeige – mit über 200 km/h rasen.
In der Toilette sind, obwohl wir keine Kurven, sondern immer nur geradeaus fahren, vorsichtshalber rechts und links von den Fußtritten, auf denen man über dem Loch hockt, zwei stabile, chromglänzende Haltebügel – ähnlich denen, die in Rallyewagen beim Überschlagen die Karosserie schützen sollen – angebracht.
Ich hocke und fühle mich, mich an den Bügeln festhaltend, wie in einem römischen Kampfwagen, mit dem ich durch China rase. Die Konzentration auf das Wesentlichste ist mir dabei allerdings unmöglich. Vielleicht hätte ich doch die mit Becken und Brille versehene Toilette für Behinderte benutzen sollen.
In Jinan, der Hauptstadt der Provinz Shandong, steigen die meisten Passagiere aus. Auch der Buddha neben mir, der Englisch sprechende Agitator und seine zwei Schüler hinter mir und der kleine Chinese mit dem blauen Hut vor mir. Der deutet zum Abschied eine Verbeugung an und überreicht mir mit zwei Händen in rote Aluminiumfolie eingeschweißten chinesischen grünen Tee.
Kuni schläft. Ich bin froh, dass sie uns begleitet. Wie sehr habe ich Anja Obst um ihre chinesischen Sprachkenntnisse beneidet. Sie kann sich überall mit jedem Chinesen unterhalten, alles fragen und alles erfahren. Herr Wu Ming verbessert mich. In der Fremde könne man zwar alles fragen, aber werde trotzdem nie alles erfahren und noch weniger begreifen. Er hat Nescafé geholt, setzt sich zu mir und blättert in meinem Buch mit Zitaten von Laotse und Konfuzius. Der große chinesische Lehrer Konfuzius sei in der Provinz Shandong geboren, sagt er und zitiert: Wo alle verurteilen, muss man prüfen, und wo alle loben auch.
»Konfuzius hat den Chinesen beibringen wollen, nach welchen Regeln sie miteinander leben sollten. Sein Prinzip: Die Unteren müssen den Oberen gehorchen! Also der Schwache dem Starken, der Kleine dem Mächtigen, der Schüler dem Meister, der Soldat dem Offizier, die Frau dem Mann, der Diener dem Beamten, der Beamte dem Kaiser …« Laotse, der Lehrer des Taoismus dagegen, wollte den Menschen vor allem in Harmonie mit der Natur, mit seinem Körper und mit den ihn umgebenden anderen Menschen sehen. Er sagt beispielsweise: Wahre Meisterschaft ist es, den Dingen des Lebens ihren Lauf zu lassen. Oder: Übe dich im Nichts-dagegen-Tun, und alles fügt sich zum Guten.«
Ich könnte den Abt zum Taoismus befragen, verspricht Herr Wu Ming.
»Er wird uns zusammen mit dem Heiler und dem Unternehmer am Bahnhof erwarten.«
Als wir in Tai’an aussteigen, ist es schon dunkel.
Einer der drei Männer, die Herr Wu Ming ungewöhnlich herzlich (selbstverständlich ohne die bei Chinesen gemiedene körperliche Umarmung) begrüßt, trägt zwar ein auffällig auberginefarbenes Sakko, aber mein Blick verweilt nicht bei ihm, sondern bei dem ganz in Schwarz mit einem kuttenähnlichen Kaftan gekleideten taoistischen Abt. Auf seinem Kopf sitzt eine flache, ungefähr 10 Zentimeter hohe, oben offene Kappe, aus deren Mitte ein dünnes, graues Haarschwänzchen heraushängt. Sein schütterer Bart erinnert mich in seiner zipfligen Form an den Bart von Guo Shoujing, der zwar kein Erfinder der Wälzlager, aber trotzdem ein großer Gelehrter war.
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Der Abt
Ich reiche dem Abt mit einer kleinen Verbeugung eine Hand, die andere lege ich, weil ich nicht weiß, wie man einen taoistischen Abt begrüßt, ehrfürchtig auf meine linke Brusthälfte. Danach gebe ich den zwei Männern die Hand. Ich nehme an, dass der im auberginefarbenen mit Goldknöpfen verzierten Sakko der Unternehmer und der nur einen grauen Pullover über dem weißen Hemd tragende Mann der Doktor der Traditionellen Chinesischen Medizin ist.
Im Hotelrestaurant erfahre ich von Herrn Wu Ming, dass ich mich getäuscht habe. Der Heiler, Dr. Liu Junbo, trägt Aubergine mit Gold und der Unternehmer, Herr Xuan Jiaguo, den grauen Pullover. Beide sind wahrscheinlich noch keine 40 Jahre alt und haben ihr schwarzes Haar nach hinten gekämmt. Allerdings ist das des Unternehmers in der Mitte schon bis auf die Kopfhaut gelichtet. Aber er wirkt mit seinen großen, hinter der Brille neugierig schauenden Augen und der sehr geraden, die Brust herausstreckenden Haltung jugendlich und kräftig. Der Heiler, mit schmalem Mund, kleinen, oft zusammengekniffenen Augen, lässt die Schulter herabhängen. Und er lächelt listig wie einer, der sein geheimes Wissen nicht preisgeben will.
Herr Wu Ming erzählt, dass in dem geschichtsträchtigen historischen Nachbargebäude schon 17 Kaiser geschlafen haben. Und 6 von ihnen hätten den sich nebenan erhebenden heiligsten Berg Chinas, den 1545 Meter hohen Tai Shan, erklommen und auf seinem Gipfel Erde und Himmel Opfer gebracht.
Auch uns wird kaiserlich aufgetragen. Der Doktor der Traditionellen Chinesischen Medizin legt die besten Stücke eines in Reisweintrester marinierten Fisches, der Shandong-Spezialität Dongpingzaoyn, auf meinen Teller. Und Herr Wu Ming gießt mir Bier, das die Übrigen aus Likörbechern nippen, in ein großes Glas. Ich soll es, weil, wie der Unternehmer Xuan Jiaguo sagt, alle Deutschen Bier lieben, auf Wunsch des Abtes mit Ganbei – das Glas trocken machen –, also auf ex, leeren.
Und als ich, der ich kein Biertrinker bin, den halben Liter, ohne abzusetzen, ausgetrunken habe, lächelt der Abt und kneift seine kleinen Äuglein zu, als würde er meditieren.
Nachdem ich darauf bestanden habe, wie die andern mein Bier aus einem kleinen Glas zu trinken, und wir uns vier Mal mit Ganbei zugeprostet haben, sagt Herr Wu Ming plötzlich sehr laut: »Hier am Tisch sitzt China. Der westlich ausgerichtete Unternehmer. Der Abt der taoistischen Religion. Der Heiler der Traditionellen Chinesischen Medizin und ich selbst, der Kunstliebhaber, Ex-Diplomat und Mitglied der Kommunistischen Partei Chinas.«
Ich frage vorsichtig: »Und die Wanderarbeiter, die Bauern, die Ayis, die Fahrradfriseure …?«
»Diese Leute verfügen nur über ein begrenztes Wissen«, erklärt mir Herr Wu Ming. Aber um zu verstehen, weshalb China in den letzten Monaten zum Leidwesen der neidvollen Amerikaner und Europäer zur zweitstärksten Wirtschaftsmacht der Welt aufgestiegen ist, müsste ich nicht mit Wanderarbeitern und Fahrradfriseuren, sondern mit neuen Unternehmern, alten Äbten, Medizinern, Künstlern und Parteifunktionären sprechen.
»Morgen vielleicht mit dem Abt Huo Huaxu und dem Unternehmer Xuan Jiaguo.«
Weil ich seinen Plan, noch länger in der Provinz Shandong zu bleiben, leider wegen der Dolmetscherin abgelehnt hätte, sei es nun schwierig, auch mit dem Heiler Liu Junbo einen Termin zu vereinbaren. Wahrscheinlich sei ein Gespräch mit ihm nur heute Abend möglich.
»Gut«, sage ich. »Dann gleich heute.«
Zum Schluss kosten wir, wie nach jedem guten Essen, ein wenig vom Reis und löffeln die Nudelsuppe mit Hühnerfleisch. Und machen auch noch mit Schnaps das Glas trocken.
Zum Gespräch mit Dr. Liu Junbo treffen wir uns in Kunis Hotelzimmer. Sie bittet mich verlegen, den Heiler nicht sofort über die Medizin, sondern erst über sein Leben zu befragen. »Begriffe der Traditionellen Chinesischen Medizin sind den Europäern nur schwer zu übersetzen.« Deshalb möchte sie sich erst warmreden. Sie lacht mit ihren großen, schönen braunen Augen, und ich beginne das Interview also sehr förmlich. Es sei für mich eine Ehre mit einem Doktor der inzwischen weltweit bekannten und nachgeahmten Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM) sprechen zu dürfen. Ich möchte wissen, wann und wo er geboren wurde und was er gelernt hat.
Es klopft. Dr. Liu Junbo öffnet und nimmt der Bedienerin das Tablett mit Tassen und einer Kanne Tee ab. Als er den grünen Tee eingeschenkt hat, berichtigt er: »Ich bin kein Doktor der Medizin, sondern ein Doktor für Maschinenbau und Mechanik!«
Doch wenn ich das Leben seiner Familie kenne, würde ich verstehen, weshalb ihn mir Herr Wu Ming als Heiler vorgestellt habe.
»Ich bin 1973 im Norden von China, in dem Dorf, in dem auch die letzte Frau von Mao Zedong gewohnt hat, geboren. Meine Eltern waren wie andere Bauern aus der Provinz Shandong, in der es für zu viele Bauern zu wenig Land gab, in den bevölkerungsarmen Norden gezogen. Doch dort war es im Winter so kalt, dass die Schule drei bis vier Monate geschlossen werden musste. Mein Bruder erkrankte regelmäßig an Halsentzündungen, hatte Fieber und …« Kuni schaut mich, die Schultern hochziehend, verzweifelt an. »Dafür weiß ich den deutschen Namen nicht: wenn aus den Ohren Flüssigkeit herausläuft.«
Als Liu 5 Jahre alt war, ist die Familie aus dem kalten, unfruchtbaren Norden nach Shandong zurückgegangen.
»Mein Vater begann mit Maschinen für Mühlen und Bewässerungsanlagen zu handeln. Er sparte jeden Yuan, damit ich die Hohe Schule besuchen und danach studieren konnte. Dass ich ein Doktor und Lehrer für Maschinenbau und Mechanik geworden bin, verdanke ich meinem Baba. Und wahrscheinlich hätte ich mich mein Leben lang nur mit Maschinen beschäftigt, wenn in meiner Familie nicht so viele Leute erkrankt wären. Schon während meines Studiums starb die Großmutter an einer, wie die staatlichen Ärzte damals sagten, unheilbaren Krankheit. Ein Jahr später, 1998, lernte ich meine Frau kennen, die an unserer Universität Elektronik studierte. Sie litt ständig unter schrecklichen Kopfschmerzen. Und 1999 konnte meine Mutter plötzlich nicht mehr laufen. Damals wünschte ich mir, dass ich anstelle der Mechanik einer Maschine die Mechanik in einem Menschen begreifen könnte. Ich begann im Selbststudium Bücher über die Lebensenergien, über Yin und Yang und über die Heilmethode der Traditionellen Chinesischen Medizin zu lesen, erwarb mir als Autodidakt praktische Kenntnisse der Krankenbehandlung durch Heilkräuter, Massagen, Ernährungsumstellung, Akupunktur und Schröpftechniken. In den Sommerferien wandte ich das Neuerlernte an. Ich massierte die Stellen, die im Körper meiner Mutter den Fluss der Lebensenergie Chi blockierten. Am Ende der Ferien konnte sie wieder laufen. Und meine Frau befreite ich von ihrem unerträglichen Kopfschmerz.«
Dadurch sei er schon während des Studiums zwar von Beruf Maschinenbauexperte, aber von der Berufung her Heiler geworden.
Er schenkt grünen Tee nach. Danach hält er für Kuni eine lange Rede, die sie nicht sofort übersetzt. Er will mir die Prinzipien der auch auf der Philosophie des Taoismus basierenden Traditionellen Chinesischen Medizin erklären sowie deren Unterschied zur europäischen Schulmedizin deutlich machen. Und versucht es mit der Lehre von der Funktionsweise der Maschinen, denn auch der menschliche Organismus funktioniere nach mechanischen Regeln.
Nach einer Viertelstunde fasst Kuni für mich zusammen: »Die Lebensenergie für eine Maschine, beispielsweise einen Motor, ist das Benzin. Doch von dieser Lebensenergie hängt die Lebensdauer der Maschine nicht ab, denn das Benzin kann man jederzeit nachfüllen. Das Leben einer Maschine ist erst dann zu Ende, wenn sie selbst, also ihr Material, verschlissen ist. Dem Menschen dagegen wurde bei der Geburt das Chi, eine gewisse Menge Lebensenergie, mitgegeben. Wenn die verbraucht ist, kann man sie nicht wie Benzin nachfüllen. Dann ist der Mensch tot.«
Es käme also im Leben eines Menschen – in China gäbe es mehr als 20 000 Hundertjährige – immer darauf an, mit dem Chi, der geschenkten Lebensenergie, hauszuhalten und sie nicht zu vergeuden. »Stellt man eine Kerze – nehmen wir an, sie ist das Chi – in den Wind, wird sie nur unruhig flackern und sehr schnell herunterbrennen. In einem windstillen, harmonischen Raum dagegen wird sie ruhig und sehr lange brennen.«
Deshalb sollte man nach den Regeln der Traditionellen Chinesischen Medizin für Körper und Seele immer die größtmögliche Harmonie schaffen.
»Um zu erreichen, dass die Energie in dieser Harmonie unbehindert fließen kann, ist es notwendig, dass die Gegensätze, das Yin und das Yang, die sich gleichzeitig als Einheit bedingen, immer im Gleichgewicht bleiben. Kein Gutes ist ohne das Böse, kein Warmes ohne das Kalte möglich.«
Er versucht, mir das Yin und Yang an Beispielen deutlich zu machen. Das Yin verkörpert die Nacht, die Erde, die Finsternis, das Weibliche, den Mond, die Feuchtigkeit, die geraden Zahlen, das Spontane, das Wasser, die Rückseite, das Saure, das Nichtentscheiden, das Abwärts …
Das Yang dagegen verkörpert den Himmel, das Licht, das Männliche, die Sonne, das Trockene, die ungeraden Zahlen, das Geplante, das Feuer, die Vorderseite, das Süße, die Entschlusskraft, das Aufwärts …
Durch Massage und Akupunktur wird versucht, den Fluss der Energie im Körper zu verbessern und die Harmonie von Yin und Yang durch Heilkräuter, bewusstes Essen und Trinken und gymnastische Übungen zu befördern. Deshalb müsste ein Heiler auch die Yin-fördernden Lebensmittel von den Yang-fördernden Lebensmitteln unterscheiden können und beachten, dass die Menschen nur Produkte essen, die in ihrer Heimat wachsen. Dabei sollen Yin-Lebensmittel den Menschen Entspannung, Geduld und Zurückhaltung bringen. Yang-Lebensmittel dagegen Leistungsstärke, Dynamik, Willenskraft und Lebensfreude. Zu den Yin-Lebensmitteln zählen Gurken, Milch, Tee, Tomaten, Wein, Äpfel, Birnen, Mandarinen, Sahne … Und zu den Yang-Lebensmitteln Fisch, Knoblauch, Fleisch, Kardamon, Nüsse, Haferflocken … Hat ein Mensch zu wenig Yin, ist er unruhig und nervös, bei Yang-Mangel leidet er an Erschöpfung und geistiger Müdigkeit.
Um Liu Junbo und der sich redlich mühenden Kuni zu beweisen, dass ich das Prinzip verstanden habe, sage ich: »Demnach bräuchte ich nur viel Fleisch und Knoblauch zu essen und wäre willensstärker, dynamischer und weniger erschöpft.«
Der Heiler will sich die Enttäuschung über seine unverstandenen Erklärungsversuche bzw. meine Begriffsstutzigkeit nicht anmerken lassen und erläutert mir das Yin-und-Yang-Prinzip an einem »für Schriftsteller wahrscheinlich verständlicheren, allgemeinen, sozialen, gesellschaftlichen Problem«.
»Wenn das Yin sinkt, steigt das Yang. Und wenn das Yang sinkt, steigt das Yin. Wie auf einer Waage. Es ist nicht möglich, dass beide, also Tag und Nacht oder feucht und trocken oder positiv und negativ oder kalt und heiß, gleichzeitig sinken oder gleichzeitig steigen. Und das gilt auch für das Leben der Menschen. Zu guten, steigenden Zeiten weiß der Mensch, dass sie wieder sinken werden und danach die schlechten Zeiten kommen. Also legt er vorsorglich Nahrung und Geld zurück. Und in den schlechten Zeiten verliert er, weil er weiß, dass die guten Zeiten wieder aufsteigen werden, niemals die Hoffnung. Dieses Wissen ist für die Menschen lebenserhaltend.«
Um immer nach den Grundsätzen des Sinkens und des Steigens von Yin und Yang leben zu können, würden die Chinesen nicht nur die Lehren der Traditionellen Chinesischen Medizin befolgen, sondern sie auch durch dazugehörende Kung-Fu-Übungen wie Tai-Chi oder Qigong täglich unterstützen.
Ich sage ein wenig spöttisch: »Und im Park Bäume umarmen und rückwärtslaufen.«
Der Heiler nickt erfreut.
»Ja, hundert Meter rückwärtsgehen ist für die Gesundheit besser als tausend Meter vorwärts.«
Beim Vorwärtsgehen beansprucht der Mensch ein Leben lang dieselben Muskeln und Gelenke mit den immer selben Bewegungsabläufen. Und seine Augen schauen immer nur starr und angestrengt nach vorn. Beim Rückwärtsgehen können sich die sonst arbeitenden Beinmuskeln erholen und die normalerweise nicht gebrauchten müssen sich anstrengen. Kranke Gelenke und Sehnen schmerzen dabei nicht. Außerdem können die Sinne alles neu erfassen. »Und wenn es dann wieder vorwärtsgeht, sind sie umso empfindsamer und aufmerksamer.«
Das verstehe ich.
»Und die Bäume umarmen?«
Der Heiler fragt, ob ich als Kind im Spiel mit anderen Kindern nicht schon hilfesuchend einen Baumstamm umarmt hätte?
Ich versuche mich zu erinnern und nicke.
»Der Baum gibt bei der Umarmung Energie an den Menschen ab. Der Ahorn hilft gegen Schmerz, die Eiche beruhigt, und die Birke ermutigt den Menschen, schwierige, unangenehme Probleme zu bewältigen.«
Immer würde es darum gehen, Energie zu erhalten und so wenig Lebensenergie wie möglich abzugeben. Er schaut Kuni an, erklärt ihr etwas, sie errötet ein wenig, dann übersetzt sie, dass der Heiler auch Verschwendung von sexueller Energie dazu zählt. Sexuelle Aktivität verjünge den Menschen, sie sei wichtig, aber der Mann solle auf die ihn schwächende Erfüllung des Liebesaktes verzichten. Der Heiler winkt lachend ab. Kuni sagt etwas von »Tantra« und dass ich besser im Internet darüber nachlesen soll.
Ich frage Liu Junbo, wie viel Kinder er hat.
»Nur eine Tochter.«
Und er werde auch nicht gegen das Gesetz verstoßen und ein zweites Kind zeugen.
»Das Glück oder Unglück, das Gute oder das Schlechte im Leben der Eltern hängt – außer in Afrika, wo viele Kinder durch ihre Arbeit die Eltern ernähren müssen – nicht von der Zahl der Kinder ab. Wenn das eine Kind, das der chinesische Staat uns erlaubt, gut erzogen ist, wird dieses eine Kind viel mehr für die Eltern sorgen, als drei oder vier schlecht erzogene.«
Außerdem hat das Gesetz der Ein-Kind-Ehe bewirkt, dass seit seiner Einführung das chinesische Volk nicht auf kaum zu ernährende 1,7 Milliarden, sondern nur auf 1,3 Milliarden Menschen angewachsen ist.
Ich frage, ob er die Familie mit seinem Verdienst als Heiler ernähren kann.
»Meine Frau unterrichtet Elektronik. Und ich arbeite noch nicht als professioneller Heiler. Ich behandle nur die Geschäftspartner meines Freundes, des Unternehmers Xuan Jiaguo. Wenn ich sie gut massiere, kann er seine Kunden auch dadurch behalten.«
»Was ist für Sie ein guter Tag, Herr Liu Junbo?«
»Ein guter Tag? Wenn ich der Beste bin. Bei der Arbeit oder für meine Frau oder für mein Kind oder für meine Patienten. Ich wollte schon in der Schule und auf der Universität immer der Beste sein.«
»Und ein schlechter Tag?«
»Wenn ich auf der Straße anderen Frauen hinterherschaue und meine Frau mich deshalb beschimpft.«
»Und was würden Sie China wünschen?«
»Dass die Regierung es jedermann an jedem Ort in China weiterhin erlaubt, so viel Geld, wie es ihm möglich ist, zu verdienen.«
»Und was wünschen Sie für sich?«
»Ein internationales, vielleicht sogar in Deutschland, anerkanntes medizinisches Unternehmen mit Praxen der Traditionellen Chinesischen Medizin zu gründen. Und trotz der damit verbundenen großen Arbeit und der Verantwortung ein sittlicher, nach den Regeln von Konfuzius und Laotse lebender Mensch zu bleiben.«
Am Ende unseres Gespräches verspricht er Kuni, die ihm von ihren Schulterschmerzen erzählt hat, morgen noch einmal in das Hotel zu kommen und sie mit seinen Schröpfkegeln zu behandeln. Ich wollte nicht aufdringlich sein und habe ihm kein Wort von meiner schmerzhaften Arthrose in den Armgelenken erzählt. Aber anscheinend ist mein Yin und Yang nicht im Gleichgewicht, denn mir fehlt der Mut, unangenehme Bitten zu äußern. Ich könnte das ändern, indem ich einen Birkenstamm umarme. Oder öfter rückwärtsgehe, um dann schneller vorwärtszukommen.
(Notwendige Ergänzung: Nach meiner Rückkehr aus China habe ich zwar nicht mehr Fleisch als zuvor gegessen, auch keine Bäume umarmt, mich aber sehr oft im Rückwärtsgehen geübt.)