Das Alpaca-Pferd

ODER:

He xie ru he zheng fu zhong guo hu lian wang – Wie die Flusskrebse das chinesische Internet erobern

Das Wiedereingewöhnen in Peking fällt mir nicht schwer. Im »Schillers« sitzen nach Feierabend wieder dieselben Leute. Die Schalen mit Erdnüssen werden ohne Aufforderung nachgefüllt, und nach dem ersten Bier gibt es für den Preis von einem auch heute zwei. Nur die »Lufthansa«-Crew fehlt. Aber am Tresen sitzt wieder einer der wenigen chinesischen Stammgäste: mein unangenehmer »Bekannter« im orangefarbenen Sakko. Beim ersten Besuch war er mir in die Toilette gefolgt und hatte dort, neben mir stehend, eindeutig zweideutige Angebote gemacht und sich nach meiner Zurechtweisung mit »excuse me, please« entschuldigt. Klaus wollte es nicht glauben. Doch als der Mann sich auch heute von seinem Barhocker herunterschraubt und mir zur Toilette hinterherläuft, aber an der Tür sofort umdreht, weil er bemerkt hat, dass Klaus mitkommt, grinst der unverschämt. Und der Motorradfan Robert kommentiert: »Bei dem könnte man fast mutmaßen, er sei vom chinesischen Geheimdienst geschickt, um zu berichten, was die Ausländer hier so treiben.«

Seine Freundin Friederike fügt lächelnd hinzu: »Schwul ist immerhin sympathischer als Agent.« Die Sprachkundige weiß auch, dass schwul auf Chinesisch »tongzhi« heißt, was man ebenso auch als »Genosse« übersetzen kann. Die unterschiedliche Bedeutung desselben Wortklanges – im Deutschen zum Beispiel von »die Leere« und »die Lehre« (!) –, gehört zu den Tricks, mit denen chinesische User von staatswegen verbotene oder unerwünschte Themen ins Internet setzen.

Friederike stellt bei der täglichen Lektüre der chinesischen Presse fest, dass sie sich in letzter Zeit – mehr als gemeinhin angenommen – für Kritik an den eigenen Behörden öffnet und durchaus Meldungen über verschiedenste Katastrophen veröffentlicht, die früher vielleicht verschwiegen worden wären. Was die staatlichen Medien nicht veröffentlichen, wird über die neuen, modernen, immer weiter boomenden Kommunikationsmöglichkeiten verbreitet: Fast ein Drittel der Chinesen, rund 350 Millionen, also mehr als die USA Einwohner hat, benutzen das Internet, und es gibt inzwischen wohl über 150 000 chinesische Internet-Cafés, in denen die User sich allerdings mit einem Personaldokument ausweisen müssen.

Um Offenheit gegenüber der wachsenden Internetgemeinde zu demonstrieren, würden Regierung und Partei nicht müde zu versichern, dass sie das Internet als eine neue Plattform des harmonischen Austauschs zwischen Volk und Staat schätzen und dass sie die Einbindung und Reflexion von Kritik, Vorschlägen und Beschwerden der Internetgemeinde als Schlüssel zu einem tieferen Verständnis der »Basis« anerkennen würden.

In Blogs berichten Chinesen zum Beispiel von Bürgermeistern oder Parteichefs, die Bauern vertreiben und kommunalen Grund und Boden an Wohnungsbauunternehmen vermieten, um Provisionen zu kassieren. Andere User bezichtigen die Medien der Lüge, wenn die über sozialen Fortschritt in Dörfern berichten, in denen es noch nicht einmal fließendes Wasser gibt. Und junge Intellektuelle fordern im Internet mehr Demokratie für China.

Die Regierung, sagt Friederike, versuche zu integrieren oder zu verbieten. So hat man einerseits in einigen Provinzen die Verantwortlichen der Kommunalbehörden geschult und angewiesen, auf alle Blogs, die ihren Fachbereich betreffen, innerhalb von 24 Stunden mit E-Mails zu reagieren, andererseits sperrt man Internet-Seiten oder Suchbegriffe, welche die »öffentliche Ordnung« stören. Zur Zeit ist der Name des künftigen Friedensnobelpreisträgers Liu Xiaobo gesperrt. Gibt man seinen Namen ein, erhält man einen »blank«. Aber Millionen von Chinesen heißen Liu. Es ist unmöglich, alle diese Liu-Seiten zu sperren.

Deshalb schreiben die User in ihren Blogs nicht über den Friedensnobelpreisträger Liu Xiaobo, sondern über irgendeinen Liu. »Ich bin so stolz auf Liu … Er ist der Held Chinas …« Oder: »Mein Idol ist Liu …«

Jeder, der es liest, weiß, wer gemeint ist, doch die User schreiben in ihren Blogs am Schluss vom Weltklassehürdenläufer Liu Xiang oder von Liu Dehua, dem berühmten Sänger aus Hongkong. (Anlässlich der Preisverleihung in Oslo wurde von der chinesischen Internetzensur auch der Begriff »Kong Yize« – »leerer Stuhl« –, mit dem sich die User verständigt hatten, gesperrt, da er ein Symbol für die unfreiwillige Abwesenheit Liu Xiaobos bei der Preisverleihung war. Daraufhin wurden Fotos von einem leeren Stuhl in Blogs verbreitet.)

Friederike erzählt auch von einem berühmten Symbol gegen die Internetzensur: dem »Alpaca«, dem sogenannten »Gras-Schlamm-Pferd« (Cao ni ma). In dessen Lebensraum dringen laut der »Legende« plötzlich Flusskrebse (hexie) ein und fressen den »Alpacas« das Gras weg, berauben sie somit der Existenzgrundlage. Diese Geschichte (sie existiert auch als Lied) wurde von vielen Millionen Chinesen abgerufen und weiterverbreitet. Das auch als Plüschtier oder auf T-Shirts verkaufte »Alpaca« wurde in China in kurzer Zeit so populär, dass sich sogar Universitätsprofessoren, Künstler, Wissenschaftler und Oppositionelle in der Öffentlichkeit zum »Alpaca« bekannten.

Die »Alpaca«-Bewegung entstand, als die chinesische Führung Ende 2009 eine »Anti-Schmutz-Kampagne« startete und über 1000 Web-Seiten mit angeblich pornografischen oder anderen »unmoralischen« Inhalten sperren ließ. »Cao ni ma« diente als Aufhänger, weil es zwar als Schimpfwort (»Fick deine Mutter«) benutzt wird, aber, mit anderen gleichklingenden Schriftzeichen geschrieben, vollkommen harmlos ist: Die gesprochene Silbe »ma« kann gleichzeitig das »Pferd«, aber auch die »Mutter« sein. Ebenso spielt das Wort »hexie« in seiner Doppelbedeutung als »Flusskrebs« und »harmonisch/Harmonisierung« auf eine Verschleierung der Internetzensur an.

Es gibt im Internet auch User, die sich als »Moralwächter« verstehen und eine »Menschenfleisch-Suche« (»human flesh search«) – das Wort ist abgeleitet von der chinesischen Bezeichnung »renrou sousuo« – inszenieren. Sie spüren Menschen auf, die Kunden betrügen, korrupt sind, stehlen, Freunde belügen, ihre Frauen zur Prostitution zwingen … Und stellen die Gefundenen nicht nur im Internet an den Pranger, sondern verfolgen sie sogar im realen Leben. Das hat eine heftige Diskussion zum Schutz der Privatsphäre im Internet ausgelöst, und es wurde gefordert, dass User und Blogger sich mit ihrem wahren Namen und ihrer Adresse nachprüfbar im Internet anmelden müssen.

Die chinesischen Parteiideologen rechtfertigen ihre Internetzensur oft mit dem Argument, dass es beispielsweise auch in Deutschland verboten ist, »Mein Kampf« ins Internet zu stellen, dass Seiten mit Kinder- oder Tierpornografie und Aufrufe zu ungenehmigten Demonstrationen oder zum gewaltsamen Sturz des Staates gesperrt werden.

Ich frage Friederike, wie sie zum Studium der Sinologie gekommen ist. Lachend sagt sie, das Chinesisch-Studium sei zunächst nur eine Art Versuch gewesen. »Tja, und dann hat sich alles immer wunderbar gefügt – immer weiter, immer weiter, bis hin zu meiner jetzigen Arbeit in der Botschaft. Insgesamt kann ich rückblickend sagen, dass ich in meinem Leben eigentlich nie richtig Pech hatte. Ich war immer optimistisch. Auch als ich als 21-Jährige nach China kam und mit meinen dunkelblonden Haaren und blauen Augen so sehr auffiel, dass ich mir manchmal nur eines wünschte: schwarze Haare und braune Augen!«

Es ist wahrscheinlich ein Wunder, meint sie, dass es sie aus ihrem lippischen Dorf, das nicht einmal 100 Seelen, aber einen Pfarrer mit 6 Töchtern hatte, ausgerechnet nach China verschlagen hat. »Ich war die fünfte der 6 Pfarrerstöchter. Alle vermuten immer, dass viele Töchter nur eins bedeuten, nämlich den Wunsch nach einem Sohn. Doch so ist es in unserem Fall nicht. Mama sagt, sie habe sich schon als Kind gewünscht, später mal 6 Töchter zu haben. Und genauso ist es gekommen. Es existiert zwar angeblich eine Schallplatte aus dem Jahr meiner Geburt, auf deren Cover mein Papa mit kleiner Schrift geschrieben hat ›Für Florian‹, aber letztendlich ist es doch kein Florian, sondern eine Friederike geworden. Vor lauter Freude darüber schrieben meine Eltern in meiner Geburtsanzeige dann humorvoll: ›Endlich ein Mädchen!‹ Darunter aufgelistet die Namen meiner älteren Schwestern.«

Monika unterbricht unser Gespräch mit der Feststellung, dass wir außer Erdnüssen heute Abend noch nichts gegessen haben und es Zeit wird, ein Restaurant aufzusuchen.

Ich hätte Friederike noch gern gefragt, weshalb sie, die fünfte von 6 Pfarrerstöchtern, ausgerechnet die Sprache Chinas, der letzten Machtbastion einer großen kommunistischen Partei, erlernt hat. Und weshalb sie in China zu studieren und später in Peking zu arbeiten begann. Aber Friederike vertröstet mich auf ein andermal.

Ich hätte das Gespräch nicht so abrupt beenden müssen, denn Monika hat einen guten Bekannten entdeckt und begrüßt ihn sehr herzlich. Er ist, erklärt sie mir, einer der Marketingchefs von VW in Peking. Um ein Gespräch zu beginnen, könnte ich ihm zu den immer noch steigenden Rekordumsätzen von VW in China gratulieren. Jährlich verkaufen VW, Opel, Renault und andere internationale Konzerne Millionen Autos in China. Aber stattdessen frage ich ihn als Experten, was aus der Erde werden soll, wenn von den 1,3 Milliarden Chinesen 80 Prozent ein Auto fahren wie in Deutschland. »Dann haben wir hier so viel verdient, dass wir Millionen in die Entwicklung konkurrenzfähiger, billiger Elektroautos investieren und, um die Umwelt zu schonen, jedem Deutschen seinen Benziner gegen ein kleines Elektromobil umtauschen könnten«, sagt er schmunzelnd. Und entgegnet dann ernsthaft: »Man sollte der Umwelt zuliebe als Konzern den unersättlichen chinesischen Automarkt meiden. Doch das wäre gegen alle Regeln und Gesetzmäßigkeiten der Marktwirtschaft. Und wenn nicht wir liefern, befriedigen andere die Autowünsche von Millionen Chinesen. Oder wollen Sie den Chinesen beibringen, dass sie, um das Klima der Erde zu retten, alle wieder auf ihr Fahrrad steigen sollen?«

Er will gehen, denn er muss zu Hause die Ayi noch bezahlen.

»Heißt seine Reinemachfrau auch Ayi?«, frage ich Klaus.

»Alle Putzfrauen in China heißen Ayi – man kann es auch mit Tante übersetzen.«

Der VW-Manager trinkt noch ein schnelles Bier, schaut dabei durch das Fenster nach draußen und sagt: »Der Fahrer hatte den ganzen Tag nichts zu tun. Da kann er wenigstens abends ein bisschen länger auf mich warten.«

Schon als er bezahlt, steigt der Chinese aus und öffnet ihm die Wagentür, allerdings ohne vor dem Chef zu salutieren.

Wir fahren zum Essen zu einem chinesischen »Italiener«. Obwohl nicht die Italiener, sondern die Chinesen die Nudeln erfunden und Marco Polo sie 1291 aus China nach Italien gebracht haben soll, verzichte ich auf die Beschreibung der von Chinesen gekochten italienischen Pasta mit Pesto Genovese.

Neben dem Restaurant befindet sich ein Geschäft, in dem man Lebensmittel aus vielen Ländern kaufen kann: italienische Soßen, Emmentaler Käse (in China gibt es anstelle von Käse nur Tofu), spanischen Schinken, deutsche Kekse, Schweizer Schokolade, schottischen Whisky und viele andere Delikatessen. Wir laufen sehr eilig durch diesen kleinen internationalen Supermarkt, denn die Chinesen wollen schließen. Doch auch hier trifft Monika eine Frau aus ihrem zwangsläufig (sie lebt mit Klaus seit über 10 Jahren in Peking) großen Bekanntenkreis. Anscheinend haben sie sich eine lange Zeit nicht gesehen, denn Monika stellt mir ihre Freundin Julia nur sehr kurz als »Chefsekretärin bei ›Siemens‹« vor, dann beginnt ein nicht enden wollendes »Der ist jetzt dort …« und »Weißt du, wo sie inzwischen arbeitet? …« und »Ach, das hätte ich nicht von den beiden gedacht …«-Gespräch.

Ich kenne keinen der Genannten, aber als die Chefsekretärin von ihrer Ayi und einem Unglück vor einem Jahr und dem Atelier ihres chinesischen Mannes, das abgerissen werden soll, erzählt, höre ich doch zu. Julias Mann, der auch in Deutschland bekannte chinesische Künstler Wang Shugang, arbeitete viele Jahre in einem Atelier in einem dorfähnlichen Wohngebiet von Peking. Mitten im kalten Winter des vergangenen Jahres hatten die Behörden ihm und den anderen Bewohnern mitgeteilt, dass sowohl die neueren Häuschen als auch die alten Hutong-Hütten abgerissen werden.

»Dass diese Nachricht ernst gemeint war, bestätigte sich bald, denn die Einwohner stapelten viele neue Ziegel vor ihren alten Häuschen. Sobald der Abriss droht, vergrößern die Chinesen schnell noch ihre Hütten, um eine höhere Abfindung zu erhalten.«

Wang Shugang tat das nicht, er schaute sich stattdessen nach einem neuen Atelier um.

»In eisigster Kälte räumten wir das alte Atelier aus und brachten Material, Keramiken und Werkzeuge, in das neue Atelier. Dort zersprangen einige der sehr kunstvollen Figuren wegen der schrecklichen Kälte.«

Doch das sei nicht das Schlimmste gewesen.

»Mein Mann und ich waren schon vorausgefahren. Nur die Ayi und ihr Mann blieben im alten Atelier zurück, um sauberzumachen. Und als der Mann die Lampen an der Decke abschrauben wollte, stürzte er so unglücklich von der drei Meter hohen Leiter, dass er sich die Schulter und ein Bein brach. Splitterbrüche! Seine Frau informierte uns über das Unglück. Damit der Mann in eine Klinik aufgenommen wurde, hätte sie 4000 Yuan bezahlen müssen. Natürlich konnte die Ayi in dieser eiskalten Winternacht kein Geld auftreiben. Wir gaben ihr die 4000. Später bezahlten wir – schließlich waren es unsere Lampen, die er abschrauben und für uns mitnehmen wollte – noch einmal 8000 Yuan für die Operation.«

Ich frage, weshalb nicht die chinesische Familie des Mannes das Geld besorgt hat.

»Die Ayi und ihr Mann kommen vom Dorf. Somit waren wir hier für sie die Einzigen, die helfen konnten. Sozusagen ihre Familie. Der chinesische Staat kümmert sich nicht um individuelle soziale Härtefälle. In der Not hilft nur die Familie. Und die hilft immer. Selbst wenn sie das Geld erbetteln muss. Der Staat ist in China nur für das Allgemeine, für die Masse, aber nicht für das einzelne konkrete Individuum verantwortlich.«

Weil die Patienten in der Klinik von ihren Angehörigen versorgt werden müssen, blieb die Ayi eine Woche dort und kochte für ihren Mann.

»Das waren 7 schlimme Tage für Shugang. Er, ein chinesischer Mann und Künstler, musste sich um unser Kind kümmern und ihm Essen zubereiten.«

Sie lacht. Und lädt mich ein, sie irgendwann zu besuchen.

Im Moment mag ich an keinen Besuch denken. Ich bin müde von Tai’an und Jinan und möchte endlich nach Hause.

Zu Hause (wie schnell benutzt man auch in der Fremde dieses Wort) haben Monika und Klaus die Erzgebirgsräuchermannle, die Förster, Jäger, Holzfäller, Reisigweiber, Bergarbeiter und Holzschnitzerfiguren am Wochenende vom Boden geholt. Sie stehen nun in friedlicher Koexistenz neben Buddhas und chinesischen Masken. Die Terrakottafigur vor der Terrassentür trägt eine rot-weiße Weihnachtsmannmütze, und an Regalen hängen Nikolausstiefel aus Stoff. Auf dem Laptop zeigt mir Klaus an die 200 Fotos vom deutschen Weihnachtsmarkt, den ich wegen meiner Reise verpasst habe. Tausende Chinesen und Deutsche waren gekommen. Die meisten trugen Weihnachtsmannmützen. Unter der lichtergeschmückten Weihnachtstanne verkauften die deutschen Frauen selbstgebastelte Sterne, gehäkelte Decken und Kerzen. Glühwein gab es und Sekt und Bier und Bratwürste.

Auf den letzten Fotos umarmen sich fröhliche Menschen mit vom Glühwein und Bier geröteten Gesichtern.

Zum Abschluss des Tages sehen wir das Lieblingsvideo von Klaus »von daheem«: die erzgebirgischen »Randfichten« geben zwischen Felsen und Fichten ein Konzert. Und 10 000 Fans tanzen zu den Liedern in Trachten und »Mannle«-Hüten. Klaus übersetzt für mich ab und zu die Texte (außer den auch mir bekannten, vom immer noch lebenden Holzmichl) aus dem Arzgebirgischen ins Deutsche.

»Es wird Weihnachten«, sagt er und freut sich wie ein Kind. Nur der Tannenbaum – der Gärtner hat ihn immer noch nicht besorgt – fehlt draußen. Und in der Nacht die Lichter.

Im Büro von Klaus beginnt der nächste Tag mit einer guten Nachricht. Zwar gibt es noch keinen Vertrag mit einer chinesischen Firma, doch aus Rostow am Don signalisiert ein großes Unternehmen, dass es an Produkten aus Mittweida interessiert ist.

»Dann wirst du wieder nach Russland fliegen müssen«, prophezeie ich und schaue ihn fragend an.

»Trotz alledem: Russland, das heißt die SU, war einmal meine zweite Heimat«, sagt er.

Von seinem guten Start in diesen Tag ermutigt, versuche auch ich mir wichtige Gespräche in Peking zu organisieren. Zuerst telefoniere ich mit Steffen Schindler, dem letzten Militärattaché der DDR in der Volksrepublik China, der inzwischen Chef der deutschen Wurstherstellung in Peking geworden ist. Er staunt, dass sich L. S. schon seit fast zwei Wochen zu Recherchen in China aufhält, er aber noch nichts davon weiß, geschweige denn, dass er eine Thüringer Bratwurst bei ihm gegessen hat. Natürlich will er mit mir reden, aber nicht heute. Er laboriert an einer Darmgrippe.

Der Leipziger »MAD DOG« Frank meldet sich schon nach dem ersten Rufzeichen auf seinem Handy. Doch er ist geschäftlich unterwegs. Ich glaube, er sagt Thailand. In zwei Wochen könnten wir uns über den Verein der Motorbiker in Peking unterhalten. Dann fragt er lachend nach dem Zustand meines Immunsystems gegen das Gelbfieber. Ich kann ihn beruhigen.

Der Künstler Wang Shugang geht nicht ans Telefon. Friederike hätte ich eine E-Mail schicken können, aber sie hatte ja bereits versprochen: »Das nächste Mal bei ›Schillers‹.«

Aber Klaus hat einen Termin für uns. Uwe Kräuter, einer der interessantesten Deutschen in China, wird morgen im »German-Center« von seinen Erlebnissen, die er während des 35-jährigen Aufenthaltes im Land der Mitte gesammelt hat, berichten. Er war 1968, als 23-Jähriger, Gegner des Vietnam-Krieges, später Mitglied des SDS, Mao-Anhänger und Marxist. 1974 ging er, nachdem er wegen »Landfriedensbruch« in erster Instanz zu einer Gefängnisstrafe mit Bewährung verurteilt worden war, nach China. Heute fährt der »Altkommunist« nicht nur einen Mercedes, sondern ist auch Gründer und Besitzer eines Medienunternehmens, das Filme in China produziert und internationale Serien vermittelt. Verheiratet ist er mit der bekannten chinesischen Schauspielerin Shen Danping. Der Vortrag von Uwe Kräuter kostet 50 Yuan. Es ist ein Freigetränk dabei, sagt Klaus.

Aber heute, was mache ich heute? Vielleicht sollte ich Kuni anrufen und hoffen, dass sie sich nach dem Wiedersehen für kurze Zeit von ihrem Chow-Chow trennen kann und mit mir zum Fahrradfriseur geht oder mir hilft, mit der Ayi von Klaus zu sprechen.

Ich frage Klaus, ob »seine« Ayi verheiratet ist und Kinder hat. Das weiß er nicht. Auch nach ihrer Wohnung hat er sie noch nie gefragt.

»Doch wahrscheinlich wohnt sie irgendwo in der Nähe. Sie kommt immer mit dem Fahrrad …«

Als auch Kuni sich nicht meldet, mache ich das, was ich nicht gerne tue: durch die Straßenschluchten von Peking laufen. Klaus hat mir erzählt, dass sich nur eine Viertelstunde von seinem Büro entfernt das alte Botschaftsgelände von Peking über viele Quadratkilometer erstreckt.

»In der Nähe findest du auch ›Die Anlegestelle‹ eines der Restaurants von Steffen Schindler. Auf dem Rückweg kommst du an dem Café vorbei, in dem, wenn er dich nicht verscheißert hat, der Russe Igor Kusnezow sitzt.«

»Die Anlegestelle« suche ich vergebens, aber das Botschaftsviertel ist nicht zu übersehen. Zuerst entdecke ich an der letzten der streng quadratisch angeordneten schmalen Straßen die Botschaften von Nepal und Saudi-Arabien. Hier sind die Länder weder nach Größe und Bedeutung noch nach Gesellschaftssystemen und auch nicht nach Erdteilen geordnet. Die Botschaft der Schweiz steht neben der Mexikos, dann folgt die Dänemarks …

Grundverschieden sind auch die Umzäunungen der kleinen Villen, der Paläste und der modernen neuen Botschaftsgebäude. Vor manchen befindet sich nur der üblicherweise drei Meter hohe Zaun oder eine Mauer. Vor manchen sehe ich Zaun und dahinter Stacheldraht, oder Zaun und Mauer und Stacheldraht darüber.

Neben jeder Botschaft steht ein Wachhäuschen, in dem sich ein Soldat versteckt, der, sobald ein Ausländer näher kommt, blitzartig nach draußen läuft, Haltung annimmt und sehr zackig grüßt – viel militärischer als »mein Wachjunge«, den ich nach der Rückkehr aus Jinan noch nicht wieder gesehen habe. Bevor ich wegfuhr, hatte ich ihm ein Fläschchen Kräuterlikör und eine kleine Thüringer Wurst geschenkt. Er versuchte, sich mit ein paar englischen Worten zu bedanken und mir begreiflich zu machen, dass er Englisch in der Schule gelernt hat, doch plötzlich sei alles zu Ende gewesen: »Finish.«

Das Café von Igor Kusnezow – seine Birken stehen wirklich in der Liangmaqiao Lu – finde ich auf dem Rückweg vom Botschaftsviertel zum Tower, in dem Klaus arbeitet. Es befindet sich in einer Ladenstraße zwischen Freiflächen, an denen Bettler stehen. Igor Kusnezow sitzt allein an einem Tisch und trinkt Bier. Als er mich erkennt, steht er auf, küsst mich nach russischer Art auf beide Wangen und bestellt bei der Bedienerin, »weil Wodka in China gepanscht und dadurch gesundheitsschädlich ist«, chinesischen Reisschnaps. Während wir auf den Schnaps warten und uns außer der Freude über das Wiedersehen nicht viel zu sagen haben, schaue ich ihn genauer an. Igor Kusnezow hat einen kantig geformten Schädel, der noch gröber aussieht, weil ihn keine Haare umrahmen. Sie sind millimeterkurz geschoren.

Während ich ihm von meiner Reise nach Tai’an und Jinan berichte, kommt eine sehr zierliche, schwarzhaarige, zwar ein wenig schlitzäugige, aber trotz der vorstehenden Wangenknochen nicht wie eine Chinesin aussehende Frau in einem engen roten Kleid an unseren Tisch.

»Moja dotschka Irina – Meine Tochter Irina.« Sie begrüßt mich in akzentfreiem Deutsch mit: »Ich freue mich, Sie zu sehen, mein Vater hat mir von Ihrer Begegnung berichtet.«

Sie hat in Peking 5 Jahre mit einem deutschen Mann gelebt. »Er verließ mich leider und hat unseren zwei Jahre alten Sohn mitgenommen. Aber wenigstens die deutsche Sprache musste er mir hierlassen.«

Als ich sie später nach dem Brand im Bahnhof frage, bei dem ihre Mutter umgekommen ist, sagt Irina, dass ich es falsch verstanden habe.

»Es war nicht der Bahnhof, sondern das Stellwerk. Und meine Mutter war, als der Blitz dort eingeschlagen hatte, nicht sofort tot. Doch als der Vater 4 Tage später kam, hat er sie nicht mehr lebend angetroffen. Da ließ er mich bei der Großmutter und fuhr wieder weg.«

Erst ein Jahr später holte er die Tochter. »Die Leute im Dorf verziehen ihm nicht, dass er seine Frau nicht begraben hatte. Damals, ich war 5 Jahre alt, sagte er: ›Töchterchen, wir fahren nach Peking und werden in China leben.‹«

»Weshalb ausgerechnet nach China?«, frage ich.

Nun versucht der Vater mir – mit der Bemerkung, »Irina versteht wenig davon« – auf Russisch klarzumachen, dass er damals wochenlang als Zugbegleiter auf den langen Strecken zwischen Moskau und Peking fahren musste.

»Die chinesischen Genossen Eisenbahner brachten Radios und elektrische Rasierapparate, kleine Fernseher und Plattenspieler und sogar Ersatzteile für unseren sowjetischen Lada aus China mit und tauschten all das unterwegs gegen Pelze, Kaviar, russischen Wodka, Ikonen und alten goldenen Kirchenschmuck.«

Der beste chinesische Schmuggler sei der Lokführer Zhang gewesen. Aber den hätte er später in Peking nicht wiedergetroffen.

»Ich brachte die Waren der Chinesen unter die Leute. Später ließ Zhang sogar bei jeder Fahrt zusätzlich einen Waggon mit begehrter chinesischer Elektronik an seinen Zug koppeln. Deshalb hatte ich keine Zeit, mich um die Frau, das Kind und das Stellwerk zu kümmern. Ich war immer unterwegs.«

Als er das mit dem Schmuggel verdiente Geld der Mutter seiner Frau schenkte, sie ihm aber trotzdem nicht verzieh, sondern sogar verfluchte, ist er mit der Tochter nach Peking gefahren.

»Dort konnte ich jedoch nicht mehr als Eisenbahner arbeiten. Das durften nur Chinesen. Also wurde ich zum russischen Wanderarbeiter in China.«

Zuerst schuftete er in einem Pekinger Elektrobetrieb, der die Staubsauger herstellte, die er in Russland für die Chinesen getauscht hatte. Das Geld, das er in der Elektrofirma verdiente, reichte nur, um in einer bunkerähnlichen Betonhütte mit Irina und drei anderen Familien ein Dach über dem Kopf zu haben. »Und für täglich eine Schale Reis.«

Jeden Tag ging er nach seiner Arbeit zum Bahnhof, und nach Monaten fand er endlich chinesische Genossen Eisenbahner, die er aus dem Zug Peking–Moskau kannte. Sie halfen ihm.

»Ich konnte einen Stand auf einem der Pekinger Märkte eröffnen und dort Videos und CDs mit den neuesten, manchmal noch keine zwei Monate alten Filmen aus den USA und Europa verkaufen. Für 10 Yuan. 4 Yuan blieben mir als Gewinn.«

Viele Jahre hat er von diesem Handel mit kopierten Filmen gelebt. Bis die Behörden den Markt von einem auf den anderen Tag schlossen. »Dadurch wollte man den Verkauf von vor allem auf diesen Märkten angebotenen gefälschten ausländischen Produkten einschränken.«

Da setzte er sich mit 60 Jahren zur Ruhe. Seine Tochter Irina versorgt ihn. Früher hat sie – weil sie wie eine Mongolin aussieht – in einem Restaurant im »Roten Viertel« ihr Geld verdienen müssen. Inzwischen arbeitet sie im Monat eine Woche als Model bei einer Werbefirma. In den übrigen drei Wochen ist sie die »rechte Hand« von Madame Zhou. Madame Zhou arbeitet im Büro eines Rechtsanwaltes, der in Peking gegen den Willen der Behörden ein Büro eröffnet hat, in dem er versucht, in Not geratenen Wanderarbeitern zu helfen. »Auch solchen, denen die Unternehmer seit Monaten den Lohn schulden und die deshalb von ihnen wegjagt werden sollen.«

Madame Zhou ist eine Frau vom Dorf und hat bei einem Unfall die rechte Hand verloren. Nun schreibt sie mit der linken. Sie muss viel schreiben. »Sie besucht juristische Seminare, um Wanderarbeiter, die zu ihr kommen, formal richtig zu beraten.« Als ich Irina frage, ob ich Madame Zhou sprechen kann, will sie mir sofort die Telefonnummer aufschreiben. Dabei stutzt sie, fragt, ob ich Chinesisch spreche.

Straßenhändlerin

»Nein«, sage ich lachend.

»Aber Madame Zhou spricht nur Chinesisch.«

Wir vereinbaren, dass ihr Vater das Treffen organisiert.

»Und wo Sie ihn finden, wissen Sie ja.«

Zum Abendessen gehe ich mit Monika, Klaus und ihren deutschen Freunden in ein japanisches Restaurant. Ich kenne niemand aus der Runde. Aber das ist auch nicht wichtig. Wichtig ist allein, was der Chinese auf die große, extrem heiße Platte legt und nach kürzester Zeit auf unseren Tellern verteilt: Hummerscheren, Lammfleisch, mir unbekannte Fischsorten, Pilze … Und zum Schluss Bananen. Fast zwei Stunden lang kredenzt er eine Köstlichkeit nach der anderen. Und als zwischendurch das Licht verlischt, holt er eine Taschenlampe aus seinem Kochkittel und legt Streifen von marinierter Hühnerbrust auf die Platte. Bier kann jeder so viel trinken, wie er möchte. Nur Mineralwasser muss man extra bezahlen.

Auf der Fahrt nach Hause eröffnet mir Monika, dass der Stellvertretende Schulleiter der Deutschen Schule mich zu einer Lesung vor Schülern und Interessenten in das Auditorium der Schule eingeladen hat. Ich bin nicht begeistert und versuche mich mit dem Argument, dass ich keine eigenen Bücher nach China mitgenommen habe, herauszureden.

Doch Klaus dreht »Alles Rot« leise und sagt: »Sie stehen doch fast alle in meinem Regal.«