Norak zwang das Gefühl der Macht nieder. Es drohte ihn zu übermannen. Er keuchte, presste die Zähne zusammen. Hals und Schultern verkrampften. Der Schmerz half, sich zu wehren. Gegen die Stimme, die ihm zuwisperte, die Macht zu gebrauchen. Über sie zu verfügen, wann immer er wollte. Doch Norak sträubte sich, verwehrte den Zugriff auf diese Macht. Er wollte nicht so werden wie der Fürst oder der Schelm und der Narr. Er war mit Eric ausgezogen, einen Krieg zu verhindern. Darauf konzentrierte er sein Handeln.
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Draußen vor dem Turm hatte sich die Armee des Schelms inzwischen formiert. Tausende von Gnomen auf der einen Seite und nicht weniger auf der anderen Seite. Der Narr war mit seinem Nachschub eingetroffen.
Der Schelm als Wassermagier riskierte viel, persönlich in das Gebiet des Narren einzudringen. Er setzte alles auf eine Karte, oder besser, auf eine Kugel. Doch diese Kugel besaß Norak. Er hatte die Macht alles zu beenden – glaubte er.
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Norak hob die Wasserkugel in die Luft. Er erhob seine Stimme. Tief donnerte sie über die Ebene. »Ich besitze die Kugel. Euer Krieg ist sinnlos. Stoppt ihn, oder niemand wird sie bekommen. Euch ist weder geholfen, wenn ihr den Boden ertränkt, noch wenn er verdorrt. Ausgleich ist vonnöten. Sowohl in der Natur als auch in der Magie!«
Eric zweifelte, ob Noraks salbungsvolle Worte einen Eindruck hinterließen. Wie zur Bestätigung zerriss ein vertrautes wie unangenehmes Kreischen die Luft. »Seht dort! Die Wasserkugel! Bringt sie mir! Eine Belohnung für den, der sie als Erster erreicht. Zum Angriff!« Es war der Schelm. Zu Erics großem Bedauern musste er mit ansehen, wie sich die wohlgeordneten Reihen auflösten und zum wilden Angriff übergingen.
Die Kugel in Noraks Hand erglühte. Der Bannzauber war aufgehoben, der Weg zur Magie des Wassers war frei. Und alle stürzten sich darauf. Norak dachte unwillkürlich an Retsetlees Worte, den Schelm nicht zu unterschätzen. Der Narr und er versuchten allein über die Sichtverbindung, die Kugel zu nutzen. Und Norak musste ihnen entgegentreten.
Abermals war sein Plan gescheitert. Statt Frieden zu stiften, galt es nur noch, größeres Unheil zu verhindern. Hilflos sah Norak zu, wie vor ihm die Schlacht entbrannte. Er konnte nicht eingreifen. Er musste einen Kampf auf höherer Ebene gewinnen – um die Kontrolle der Kugel.
Norak schluckte bitter. War es nicht besser, sich überhaupt nicht erst einzumischen? Womöglich hätte es ohne sie gar keinen Krieg gegeben. Am Ende griffen sie ohnehin auf Plan B zurück und der endete mit Gewalt, Tod und Verderben.
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Eric gingen ganz ähnliche Gedanken durch den Kopf. Im Gegensatz zu manchem Gnom, durch dessen Kopf Erics Axt ging. Eric hatte beschlossen, das zu tun, was er am besten konnte – sich seiner Haut wehren.
Doch er ging seinem Handwerk nicht mit der gewohnten Begeisterung nach. Wenn er gegen Soldaten des Fürsten kämpfte, spürte er ein Gefühl der Genugtuung. Er konnte Rache nehmen und dabei seinem Hass freien Lauf lassen. Hier war es anders. Diese Kreaturen dauerten ihn. Was aber der Effektivität seiner Kampfkunst keinen Abbruch tat.
Gopolan versuchte verzweifelt seine Reihen zu ordnen. Die Offiziere, die sie im Turm unschädlich gemacht hatten, fehlten jetzt, um die Soldaten zu führen. Beide Seiten stürmten blindlings aufeinander zu. Angetrieben von der Furcht vor ihren Meistern droschen sie auf alles, was sich ihnen in den Weg stellte.
Die Gnome machten um Eric einen großen Bogen. Seiner Reichweite und seiner Kampfkunst waren sie nicht gewachsen. Da die Reihen wild umherwuselten, kamen keine Bogenschützen zum Einsatz. So viel Verstand hatten die Meister noch. Vielleicht wussten sie auch nicht, dass sie Bogenschützen besaßen. Magie mochte ihr Metier sein, Strategie war es nicht.
Eric ging weite Wege, um an neue Gegner zu kommen. Die alten machten es ihm nicht einfacher; er musste ständig über sie hinwegsteigen. Er nahm eine Verschnaufpause und drehte sich zum Turm um. Er hatte sich bereits hundert Manneslängen von ihm entfernt. Und was er sah, gefiel ihm nicht.
Gopolan hatte es aufgegeben, Truppen zu koordinieren. Mit einer Handvoll Leuten konzentrierte er sich darauf, dass Norak niemand zu nahe kam. Leider entging ihm dabei eine Person, die sich von hinten anschlich – Davion!
Eric kannte das Ziel des hinterhältigen Verräters: die Wasserkugel, was sonst. Entweder er wollte sie dem Narren bringen, oder sie selbst nutzen. Wie auch immer, im Moment gab es nur einen, der ihn davon abhalten konnte.
Für einen Axtwurf war er zu weit weg. Eric fluchte und peitschte seine Beine zum Turm. Keuchend erklomm er die toten Leiber und abgeschlagenen Glieder. Seine Stiefel schmatzten durch das Blut ehemaliger Gegner. Im Weg stehende Gnome schlug er mit der Axt zur Seite. Eric wusste nicht, durch welche Reihen er wütete. Gehörten sie dem Schelm, oder doch dem Narren? Es kümmerte ihn nicht. Sein Freund war in Gefahr! Höhere Absichten zählten nicht.
»Norak, pass auf!«, brüllte er, doch Norak hörte nicht. Er war in Trance. Eric war bis auf zehn Manneslängen herangekommen, wild gestikulierte er in Gopolans Richtung, der aber sah ihn nicht. Sein Schwert fraß sich durch drei verschiedene Leiber gleichzeitig. Es duldete keine Ablenkung.
Gopolans Männer dagegen stellten sich Eric in den Weg. Einen weiteren Aufenthalt konnte sich Eric nicht leisten. Davion war schon zu Nahe an Norak und ein Dolch blitzte in der Hand des feigen Wurms. Für einen Wurf standen ihm die Soldaten im Weg und zehn Längen waren eigentlich zu weit, um genau zu werfen – eigentlich.
Norak hielt die Wasserkugel hoch über dem Kopf. Kein Gnom war auf dieser Höhe im Weg. Er riskierte Norak zu verletzen, aber tat er es nicht, war sein Freund tot.
Die Axt überbrückte auf den Schwingen der Lüfte den Weg bis zum Ziel. Der Schaft der Axt krachte gegen Noraks Unterarm. Norak schrie, ließ die Kugel fallen und krümmte sich zu Boden.
Die Ablenkung hatte gewirkt. Davion zögerte. Er blickte zur Kugel, dann wieder zu Norak. Was zuerst? Er entschied, den Magier aus dem Weg zu räumen und die Kugel danach aufzuklauben. Davions Dolch schnellte vor. Eric schrie vor Entsetzen.
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Den Leib perforierend sprudelte der lebenspendende Saft aus der Wunde. Ein kurzes aber genüssliches Drehen der Spitze ließ die Wunde klaffen. Rot färbte sich der Sand am Fuße des Turms. Unaufhaltsam verloschen die Lebenslichter. Benommen öffnete Norak die Augen und sah, wie Retsetlee den Speer aus dem leblosen Körper Davions zog. »Du hast lange genug Unheil angerichtet!« Retsetlee spuckte seinem ehemaligen Ratskollegen ins Gesicht. Und Norak war sich nicht bewusst, dass es hin und wieder praktisch war, zwei Schutzengel zu haben.
»Die Kugel, wo ist die Kugel?« Norak drehte sich voll Schrecken um.
»Du brauchst die Kugel nicht.« Eric kniete sich neben seinen Freund. »Du bist hier ein Gott. Und solange Du nicht vorhast, alles zu unterjochen, kannst Du Deine Gabe nutzen, um diesen Krieg zu stoppen.«
»Ich kann nicht«, wisperte Norak. »Es gewinnt die Oberhand.«
»Es?«
»Lasst ab.« Die Frage blieb unbeantwortet, da Gopolan sich einmischte. »Es ist unser Krieg und wir werden ihn beenden.« Er sah in Retsetlees Richtung und dieser nickte ihm stumm zu. »Jeder noch ein Leben nehmen und dann ist es vorbei, alter Freund.«
»Dann fängt es erst an«, entgegnete ihm Retsetlee »Für uns.« Diesmal nickte Gopolan.
Der Hauptmann der Wache nahm die Wasserkugel an sich und warf sie mit kraftvollem Ruck in die Luft. Die Meister erblickte sie sofort. Abermals entbrannte ein unsichtbares Ringen um die Kugel. Diesmal nur zwischen dem Schelm und dem Narren. Die magischen Kräfte zerrten an der Kugel und wahrhaftig schwebte sie in der Luft, unentschlossen, wohin sie fallen sollte.
Die Armeen bestaunten das Schauspiel und vergaßen ganz das Schlachten. Retsetlee umklammerte seinen Speer, Gopolan umkrampfte das Heft seines Schwerts. Sie gingen beide ihrer Wege und keiner hielt sie auf. Sie erwiesen den letzten Dienst an ihren Meistern.
Sie warteten, bis der jeweils andere an seinem Ziel angekommen war. Auf ein Zeichen traten sie ergeben vor, ihren in Trance befindlichen Meistern die letzte Wendung der Schlacht zu verkünden.
Das Schwert streckte mit einem sauberen Hieb den Narren zu Boden, der Speer durchbohrte die ungeschützte Kehle des Schelms. Die Wasserkugel fiel zu Boden. Die Meister folgten ihr.
* * *
Der Krieg war beendet. Im Schatten des Turmes lag ein von verrenkten Körpern gesprenkeltes Schlachtfeld. Norak und Eric atmeten auf. Damit waren sie nicht die Einzigen. Den Krieg hatten sie nicht verhindert, aber ein Teilziel war erreicht. Der durstige Boden im Reich des Narren war nicht länger von der Sonne ausgedörrt. Nun war er mit Blut getränkt.