29

Der Sabulo führte die Freunde in derselben Nacht zu einem nahen Wasserloch. Offensichtlich konnte auch der Narr des Staubes nicht ohne dieses Element existieren.

Der Dämon war ihre Rettung, aber wem hatten sie diese zu verdanken? Der Narr konnte unmöglich wissen, dass sie hier waren. Oder doch? Für den Schelm, den kleinen Widerling, war es eine viel zu nette Geste. Außerdem gebot er nicht über Sanddämonen. Das war nicht sein Element.

Wer es auch war, seine Kreatur erledigte ihre Aufgabe gut. Egal ob Patrouille oder Arbeitertrupp, kein Gnom kam auf Sichtweite an sie heran. Unbemerkt führte der Dämon sie zu ihrem Bestimmungsort.

Nun konnte Eric den Turm sehen. Sand war wieder der Wüste aus Stein gewichen und am Horizont ragte er empor. Viereckig, aus rotem Wüstenfels errichtet. Dies war der Wasserturm, was man ihm von außen wahrlich nicht ansah.

»Warte hier!«, befahl Norak dem Geist. »Wir treffen Dich wieder bei unserem Rückzug.« Er gehorchte ihm aufs Wort. Im Turm wäre der Dämon zu auffällig. Und das Risiko blieb, dass er sie doch noch an ihre Gegner verriet. Aber vernichten wollte Norak den dienstbaren Geist nicht. Er hatte ihnen geholfen, wenn nicht sogar das Leben gerettet.

* * *

Für das letzte Stück des Weges hatten sie die Dunkelheit abgewartet. Die spärliche Deckung der einzelnen Findlinge nutzend, schlichen sie zum Turm. Ihr Plan hieß Improvisation und ihre Strategie Glück. Auf Ersteres lief es sowieso immer hinaus und Letzteres hatten sie eigentlich schon genug strapaziert.

Sie studierten die Routen der Wachen und schlüpften durch die Lücken ihrer Aufmerksamkeit. Für diese Gelegenheiten hatte Tobin ihre Sinne geschärft, auf dem Weg zur Ontru Ulelu.

Im Halbdunkeln kauerten sie hinter einem Felsbrocken, ihre letzte Hürde vor Augen: den Eingang zum Turm. Zwei Wachen waren davor platziert. Über jeder Wache rußte die Flamme einer Fackel die dahinterliegende Mauer schwarz.

Sich im Schein der Fackeln anzuschleichen, hätte die Patrouillen bestimmt entzückt. Die Freunde setzten ihre Hoffnungen auf den hinteren Teil des Turms. Obwohl sicher niemand die Küchenpforte hatte offenstehen lassen.

Sie schlichen um den Turm herum und ihre Befürchtung bestätigte sich. Es gab keinen Hintereingang. Nur Patrouillen an den drei türlosen Seiten des Turms. Den einzig verbliebenen Zugang bildeten die Fenster im dritten Stockwerk.

Die Steine des Turms waren unbehauen, grob verfugt und die Spalten notdürftig mit einem Gemisch aus Wasser und Sand verfüllt.

Hochzuklettern war keine der berauschendsten Ideen, aber durchführbar. Sie mussten sich nur der Gnome entledigen, ohne dass man diese vermisste.

Doch sie wollten sich an den Gnomen nicht vergreifen. Es missfiel den Freunden als Handlanger des Todes, dem Schelm einen Gefallen zu erweisen. Vielleicht war ja der Narr gar nicht das Übel, als welches ihn der Schelm beschrieb.

Also lagen sie weiter geduldig in ihrer Deckung und überlegten, wie man Wachen beseitigte, ohne sie gleich umzubringen. Kein leichtes Unterfangen, aber ihre Geduld wurde belohnt.

An der Rückseite des Turms schlenderten die beiden Wachen von einer Ecke der Mauer zur anderen. In ihrer Langeweile debattierten sie über eine weitere Belanglosigkeit des Tages.

Die Freunde verstanden in ihrer Deckung kein Wort, doch wurde die Unterhaltung zusehends hitziger. Uneins blieben die Gnome an der rechten Ecke stehen, um ihren Streit auszudiskutieren.

Norak und Eric erkannten ein Geschenk, wenn man es ihnen auf dem Silbertablett darreichte. Und sie gehörten nicht zu der Sorte, die höflich ablehnte. Der linke Teil der Mauer war außerhalb des Sichtbereichs der beiden Gnome.

Lautlos und flink glitten die Freunde wie Schlangen zum Turm, kein Auge von den Wachen nehmend. Sie hofften inbrünstig, der Streit möge lange dauern. An der Mauer angelangt, lernten sie erneut, welch wackliges Fundament Hoffnung für einen Plan war.

Trotz ihres Streits setzten die Wachen ihre Runde fort und liefen auf die am Boden kauernden Freunde zu. Hoffnung wich Verzweiflung und Eric probierte den ältesten Trick der Welt. Hastig schleuderte er ein Steinchen in den Rücken der Wachen. Das Geräusch konnte weitere Gnome anlocken, aber ein wenig zusätzliches Pech, konnte die Lage auch nicht mehr verschlechtern.

Es klappte! Beim Klacken des Steinchens hinter ihnen drehten sich die Gnome abrupt um. Eric und Norak sprangen förmlich die Mauer hoch. Sie kletterten zwei Speerlängen hoch, noch bevor sich die Gnome wieder in ihre Richtung wandten. Da die Wachen sich mehr für den Boden unter ihren Füßen, als für die Luft über ihren Köpfen interessierten, kamen die Freunde dieses Mal davon.

* * *

Stein für Sein, Fuge für Fuge tasteten sich Norak und Eric zum oberen Stockwerk, Richtung Fenster. Penibel prüften sie das Mauerwerk, um keine Teile loszutreten. Sie atmeten flach. Jedes Geräusch, das sie verursachten, konnte die Wachen aufhorchen lassen. So verfluchte Eric im Stillen seinen Freund, da Norak keinen Levitationszauber im Repertoire hatte.

Doch das Unvermeidliche geschah! Der Vorsprung versprach sicheren Halt. Norak krallte seine Hand darum. Doch in seiner Niedertracht täuschte der Stein eine Tiefe vor, die er nicht besaß. Die Finger rutschten ab und lösten den notdürftig zusammengerührten Mörtel aus seiner Ritze.

An einem Arm hängend und mit schreckgeweiteten Augen, beobachtete Norak, wie die Sandkörner zielstrebig ihren Weg nach unten fanden. Mit schicksalhafter Präzision trafen sie den Kopf, der an der Mauer laufenden Wache.

Die Freunde hielten die Luft an. Ihre Hände begannen unter der Last ihrer Körper zu zittern und die Furcht vor Entdeckung bildete einen Schweißfilm zwischen Hand und Stein. Ihr Halt wurde rutschig.

Der gelöste Mörtel lag als feiner Schleier auf dem Haupt des Gnoms. Dieser hob die Hand und wischte durch sein Haar, als wollte er eine Fliege vertreiben. Unbeirrt konzentrierte er sich darauf, seinem Kumpanen die Welt zu erklären und ignorierte die beiden Freunde und ihren Mörtel völlig.

Eric und Norak mussten sich zusammenreißen, nicht laut auszuatmen und sich somit doch noch zu verraten. Sachte bliesen sie die Luft aus ihren Lungen. Sie suchten nach genügend Halt für ihre feuchten Hände und setzten den Aufstieg fort.

Unbeeindruckt von derlei dilettantischen Kletterbemühungen, krabbelte eine Spinne zwischen den beiden Freunden die Wand hoch. Norak benötigte seine gesamte Willenskraft, um sie für diese Dreistigkeit nicht mit einem Bannfluch zu belegen.

Den Göttern dankend, erreichten die beiden schließlich das Fenster. Die Öffnung besaß keine Scheibe und war auch nicht durch Läden verschlossen. Eric linste über den unteren Rand des Fensters in de Raum hinein. Keine Wache hielt hier Ausschau. Sie stiegen in den Turm hinein.

* * *

Der Raum umfasste die gesamte Grundfläche des Turms und war absolut leer. Sie standen auf einem Holzboden, über ihnen befand sich eine ebensolche Decke. Jede Außenwand des Turms besaß ein Fenster. Sie schauten aus allen vier heraus. Falls man ihr Eindringen bemerkt hatte, war davon draußen nichts zu erahnen.

Als sie sich näher im Raum umsahen, der immer noch vollkommen leer war, entdeckten sie zwei Falltüren. Eine am Boden, in einer Ecke des Raumes und eine in der Mitte der Decke. Vorsichtig hoben sie die Falltür am Boden an. Fackelschein und Stimmengewirr drangen durch den Spalt. Eine Steintreppe führte an der Innenseite der Außenwand entlang zu ihrer Luke.

Langsam schlossen sie die Luke wieder. Sie vermuteten ihr Ziel nicht unterhalb von ihnen. Die Wasserkugel befand sich bestimmt in den beiden obersten Stockwerken.

Norak stieg auf Erics Schultern und ertastete die Falltür in der Decke. Zaghaft öffnete er sie einen Spalt – nichts geschah. Norak hob die Luke ein Stück höher. Erics Knie fingen unter der Last an zu zittern. »Beeil Dich!«, keuchte er. Norak öffnete die Luke so weit, dass ein Lichtschein durch den Spalt fiel. Er verdunkelte sich sogleich wieder, als sich ein Schatten davorstellte. »Die Losung?«

Der Mann war unzweifelhaft nicht an Ausscheidungen von Tieren interessiert. Norak befand sich in einer misslichen Lage. Diese wurde nur von der Erics übertroffen, dessen Kopf sich langsam violett färbte.

Kurzerhand ließ Norak die Falltür los und sprang zu Boden. Erleichtert stemmte Eric die Hände auf die Knie und atmete kräftig aus. Weniger begeisterten ihn die Rufe, die von oben Alarm auslösten. »Was jetzt?«, wandte er sich an Norak.

»Plan B.«

Plan B gefiel Eric schon das letzte Mal nicht. Er endete damit, dass der neue Fürst sie im Burr-Thal röstete und sie von Glück sagen konnten, dass der merkwürdige alte Kauz in der Glaskugel sie rettete. In eben diesem absonderlichen Moment, in welchem ein Plan-B-Feuerball die Luke nach oben auflöste, erkannte Eric, wie albern dies alles war.

Wie zur Bestätigung seiner Erkenntnis sprang die Luke im Boden auf und ein Rudel Wichtelmännchen mit spitzen Speeren flutete den Raum. Kurz darauf stand eine Feuerwand zwischen ihnen und den kleinen Männchen und der Wasserturm fing an zu brennen. Ja, es war albern, so richtig albern. Und ein wenig surreal.

»Auf, hoch!« Norak stand vor Eric, die Hände zu einer Räuberleiter gefaltet. Eric überlegte nicht lange, trat mit einem Fuß in Noraks Hände, stemmte sich mit dem anderen ab und ließ sich nach oben katapultieren. Er schwang sich durch die verkohlte Öffnung, rollte sich über die Schulter ab, sprang auf und hatte im gleichen Moment seine Axt kampfbereit. Er sah sich vier Gnomen gegenüber, die alle sehr ängstlich dreinblickten.

»Los, die Leiter durch die Luke!«, brüllte er die Leute an. Sogleich rissen zwei die Leiter von der Wand und ließen sie nach unten. Gerade rechtzeitig, damit Norak sie erklimmen und sich in Sicherheit bringen konnte. Die Feuerwand hinter ihm fiel in sich zusammen. Die Holzdielen hatten zwar Feuer gefangen, hielten die anstürmenden Gnome aber nicht mehr auf.

Norak zog die Leiter wieder ein und ignorierte die erbosten Rufe von unten gelassen. Er blickte in die eingeschüchterten Augen der Wächter. Sie fürchteten die Macht des Magiers. »Die Wasserkugel, schnell!«, brüllte nun Norak die Gnome an. Die Köpfe zwischen den Schultern versteckt, zeigten sie auf die Wendeltreppe, die in den obersten Stock führte. Norak erklomm sie, Eric hielt die Wächter in Schach.

Oben befand sich keine weitere Wache. In dem fensterlosen Raum ruhte auf einem Podest eine blau glühende Kugel. Ihr Farbenspiel war von faszinierender Schönheit.

Blautöne wechselten aneinander ab und bewegten sich in Wellen, die sich gegenseitig durchdrangen. Die Kugel war sehr klein. Norak hätte sie leicht in seine Hände nehmen und davonspazieren können. Das Einzige, was ihn davon abhielt, war der Barrierezauber, der die fluoreszierende Kugel schützte.

»Soweit, so schlecht«, resümierte Norak.