Der alte Mann gestikulierte und die Szenerie veränderte sich. Sie waren nicht mehr in der Glaskugel gefangen. Eine üppige Vegetation umgab sie. Turmhohe Bäume und fast ebenso hohe Farne ragten über ihren Köpfen.
Schweiß drang aus ihren Poren und vermischte sich mit der Schwüle der Luft. Die Feuchtigkeit lastete wie ein Mühlstein auf ihren Schultern. Ein Schmetterling mit gelben Flügeln und rotem Punkt tanzte vor ihren Augen. Doch die Ästhetik dieses Anblicks verbrannte in der Hitze.
Der Boden unter Erics Füßen gab nach. Er ruderte mit den Armen, doch der Kampf um sein Gleichgewicht trieb ihn nur tiefer in den Morast hinein. Norak schnappte einen Arm und zog seinen Freund auf festeren Boden. Allerdings war ›fester Boden‹ gleichbedeutend mit knöcheltiefem Schlamm. Die beiden standen mitten in einem Sumpfgebiet.
»Hat er nicht behauptet, wir seien nicht verbannt worden?«, wunderte sich Eric.
»Wenn man jahrelang in einer Glaskugel hockt, ist das hier vermutlich das Paradies. Aber als jemand, der die Zeit vor der Finsternis miterlebt hat, sage ich Dir, wir sind verbannt.«
»Na, wenigstens ist es hier heller als zu Haus. Meine Augen sind das gar nicht mehr gewohnt.«
»Ja, Du hast recht.« Norak schaute sich in der stinkenden und drückenden Schwüle um. »Man sollte auch die positiven Seiten sehen.«
* * *
Die beiden Kameraden wateten durch den Sumpf. Kolonien von Insekten bevölkerten die Luft. Mit unstillbarem Blutdurst stürzten sie sich auf ihre neuen Opfer.
»Wenn ich mich recht entsinne«, klatschte Norak eine weitere Stechmücke gegen seinen Hals, »hatte uns schon der Ohab in dem Dorf vor unserem Feind gewarnt. Wir müssen ihn erkennen. Wie das auch immer gemeint ist.«
»Ja, der Ohab und der alte Mann haben gut reden. Aber der Fürst hat uns schon einmal mit seiner Dienerverkleidung getäuscht. Wir dürfen nicht wieder auf ihn hereinfallen.«
»Sollte er so arrogant sein, sich nochmals verkleidet uns gegenüberzustellen, wird er sich wundern, welch ausgeprägtes Gedächtnis ich mein Eigen nenne.«
»Falls Du ihn erkennst.«
»Ich erkenne ihn. Vielleicht durchschaue ich sein Spiel nicht, aber ich werde ihn erkennen.«
»Na, hoffen wir’s.«
* * *
Das Zwitschern der Vögel verstummte in dem Augenblick, in dem sich die Freunde beobachtet fühlten. Sie kniffen die Augen zusammen und spähten durch die Insektenwolken hindurch. Sie konnten nur Bäume, Gräser, Farne und viel Schatten ausmachen – beunruhigend viel Schatten.
Blasen stiegen aus dem Sumpfloch vor ihnen auf. Sie spritzten hoch und vermengten sich in der Luft zu Schlamm. Konturen zeichneten sich ab. Als ob ein unsichtbarer Töpfer vor ihren Augen schwebenden Ton modellierte. Und er gab dieser wabernden Masse aus Schlamm ein menschliches Antlitz.
»Was ist denn das?« Eric runzelte die Stirn. »Sag nicht, es ist ein Wassergeist.«
»Nun ja«, zögerte Norak »Nicht ganz. Es ist ein Sumpfgeist. Der Ohab hat mich aber gelehrt, dass sie zu den Wassergeistern zählen.«
»Na, großartig! Erst schlagen wir uns mit Ignams in den Feuerhöhlen ’rum und jetzt das!«
»Nicht so voreilig, Eric. Es gibt viele Legenden, in denen ein Aquosu Wanderern hilft, die sich verirrt haben. Nicht jedes Elementarwesen ist von Grund auf schlecht.«
»Erzähl das dem Aquosu, nicht mir!«
Die Wassergestalt näherte sich ihnen bis auf drei Schritte. Sie reckte sich vor wie ein Hund und beschnüffelte Eric. Dann drehte sich der Aquosu zu Norak und schüttelte sich. Er wich zurück, verharrte einen Moment und kam dann vorsichtig näher. Argwohn lag auf seinen Zügen.
»Norak, ich trau diesem Wassergeist nicht.«
»Ganz ruhig bleiben, Eric. Im Moment sieht es nicht so aus, als ob er gefährlich …« Und der Moment verstrich.
Eric bekam einen Schwall Schlamm ins Gesicht. Der Geist verwandelte sich in eine tosende Wassersäule und schoss auf Norak zu. Die Schnelligkeit des Angriffes überraschte Norak. Die Säule umtoste ihn, bevor er reagieren konnte.
Eric wischte sich den Schlamm aus dem Gesicht und zog seine Axt. Das von Kallap geschmiedete Erz schimmerte Grün im Licht der Sonne.
Eric kam sich albern vor, mit einer Axt Wasser zu attackieren. Allerdings war es auch nicht irrwitziger, als ihre bisherigen ›Heldentaten‹. Er schwang die Axt, das Erz erglühte und der Geist wich zurück, mehr aus Überraschung als aus Schmerz.
Die Ablenkung genügte Norak. Er hustete. Luft fand wieder ihren Weg in seine Lungen. Der Aquosu zögerte nur kurz, dann griff er erneut an.
»Beeil Dich!«, brüllte Eric. »Die Axt kann ihm nicht viel anhaben.«
Der Wassergeist schoss auf die beiden zu. Diesmal überraschte er Norak nicht. »Warum sich beeilen, wenn man ihn verlangsamen kann«, überlegte Norak. Seinen Worten gehorchend erhoben sich die Schlamm-Massen und vereinigten sich mit dem Geist. Der Geist gewann an Größe, verlor aber seine Schnelligkeit.
Norak verlangsamte den Angriff des Aquosu und den Rest hatte er von einem Ignam gelernt. Der Großteil der Wassersäule verdampfte, noch bevor sie auf die Feuerbarriere traf. Die Substanz des Geistes löste sich auf. Übrig blieb Dreck, der sich harmlos im Wind zerstreute.
Lautes Fluchen begleitete das Dahinscheiden des Aquosu. »Das wird dem Meister aber gar nicht gefallen!«
»Meister?« Norak und Eric zogen erstaunt die Augenbrauen hoch. In was waren sie denn hier hineingeraten? Eine kleine Gestalt schälte sich aus dem Schatten der Bäume. Sie reichte Eric bis knapp unter die Brust und war von hagerer Statur. Erdfarbene Stoffe schlangen sich um den schmalen Körper. »Ich hoffe, Ihr habt eine gute Erklärung dafür. Habt Ihr keine, wird Euch der Meister zerreißen«, keifte der Gnom.
»Entschuldigt«, meinte Norak, »aber wofür sollen wir eine Erklärung haben?«
Der Kleine schaute sie verdutzt an. »Na, für den Tod seines Wachgeistes. Was denn wohl sonst? Er wird sehr ungehalten darüber sein, jawohl! Sehr böse!«
Norak und Eric warfen sich einen fassungslosen Blick zu. Sie hatten nicht den Sumpfgeist erledigt, um sich von einem Wichtelmännchen Vorhaltungen anhören zu müssen. Eric griff nach seiner Axt, um seine Wurfkünste zu perfektionieren, doch Norak legte ihm die Hand auf den Arm.
»Es verhält sich so:«, entgegnete Norak, »Dieser Geist trachtete uns nach dem Leben und daher haben wir es für nötig befunden, uns zu wehren.«
»Natürlich trachtete er Euch nach dem Leben.« Das Wichtelmännchen schüttelte erbost den Kopf. »Ihr seid magisch aktiv. Es war seine Aufgabe Euch zu töten.«
Wieder Verständnislosigkeit in den Blicken der Freunde. »Nur, damit ich das richtig verstehe«, fragte Eric nach. »Ihr und Euer Meister sendet einen Geist aus, der uns erledigen soll, und beschwert Euch dann bei uns, dass es nicht geklappt hat? Ich weiß nicht, was Ihr in solchen Situationen zu tun gedenkt, aber wir versuchen, unsere Haut zu retten.«
»Zu spät, zu spät! Das hättet Ihr Euch überlegen sollen, bevor Ihr unseren Wächter getötet habt. Jetzt folgt mir, damit ich Euch dem Tribunal übergeben kann.«
Abermals schauten sich die Kameraden an, abermals konnten sie das Gehörte nicht glauben. Eric riskierte noch einen Blick auf den Gnom, bevor er sich vor Lachen schüttelnd auf den Boden warf. Morast hin, Schlamm her, aber was zu viel war, war zu viel.
Ebenfalls lachend entgegnete Norak »Und was, wenn wir Euch nicht folgen wollen?«
Der Gnom schnippte mit dem Finger und von seiner Art erschienen hundert weitere. Und wenn es nicht hundert waren, dann doch wenigstens tausend. »Dafür haben wir vorgesorgt.«
Erics Lachen verstummte abrupt.