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»Bitte habt Geduld mit ihr! Bedrängt sie nicht, das macht ihr Angst!« Das Auge tendierte dazu, die zierliche Frau zu unterschätzen. Ihre Stimme überzeugte das Ohr mit dem sanften Nachdruck eines Schmiedehammers vom Gegenteil.

»Keine Sorge, mein Kind«, beruhigte Tobin die Tochter der Amme. »Diese beiden Wanderer wollen ihr zwei oder drei Fragen stellen und werden dabei die größte Sorgfalt walten lassen.« Norak und Eric nickten.

»Also gut.« Die Tochter führte die beiden in die Stube. Die Amme saß im Schaukelstuhl und strickte. Das Fenster stand offen und hin und wieder hob die alte Dame den Kopf, als lausche sie dem hereinwehenden Wind. Nicht verrückter, als andere Leute auch.

»Mutter«, begann ihre Tochter zärtlich, »hier sind zwei Männer, die möchten mit Dir reden.«

Die Amme schaukelte, strickte und ignorierte ihre Tochter. Diese drehte sich zu Eric und Norak um und wedelte mit den Händen Richtung Tür, als die Amme reagierte. »Herein, nur herein«, krächzte sie fröhlich. »Ich freue mich über jeden Besuch.«

* * *

Norak biss sich auf die Unterlippe. Wie sprach man eine verwirrte Person an? Direkt! »Guten Abend, ehrwürdige Frau. Mein Name ist Norak und mein Begleiter heißt Eric. Wir wollten wissen, ob Ihr uns etwas über das Schicksal des Prinzen und über den Ring verraten könnt, den …«

»Der Prinz, DER PRINZ! Des Königs Sohn! Tot, tot. Er ist tot!«

Der direkte Weg war wohl nicht der beste. »Tot?«, fragte Norak, nicht sicher, ob er zu der Amme durchdrang. »Wer hat ihn getötet?«

»Ein Pfeil. Ein magischer Pfeil in seiner Brust. Welch Schmerzen mussten wir erleiden.« Die Amme begann zu schluchzen. Ihre Tochter warf Norak vorwurfsvolle Blicke zu.

»Bleibt ruhig, ganz ruhig«, besänftigte Norak die Amme. »Es ist vorbei. Schon lange …«

»VORBEI! Noch lange ist es nicht vorbei!« Die Amme keifte ihm ins Gesicht. »Solange das Böse die Quelle besitzt, wird es nie vorbei sein. Bringt die Quelle zum Versiegen, dann habt Ihr eine Chance.«

»Von welcher Quelle faselt sie?« Eric war nicht weniger verwirrt, als man der Amme nachsagte.

»Die Quelle! Das Böse will sie! Armin hat sie genommen. Er hat sie versteckt. Er ist tot. Sie alle sind tot. Alle!«

»Wo, wo hat dieser Armin sie versteckt?«

»Versteckt. Tot. Alle sind verloren. Verloren!«

»Ihr solltet jetzt besser gehen!«, entschied die Tochter mit unnachgiebiger Stimme.

»Aber …«, wollte Norak protestieren.

»Bitte geht!«

»Gut.« Norak gab nach. »Eric, lass uns gehen.«

Eric ignorierte seinen Freund und folgte lieber seiner Eingebung. Er kniete sich vor der Amme auf den Boden und nahm ihre Hand. »Die Eule«, fragte er, »was sagt die Eule?«

Ein Lächeln zauberte sich auf das Gesicht der Frau. Sie hob die Hand und strich Eric über das Haar.

»Die Eule ist weise«, unterstützte Norak Erics Einfall. »Man muss zuhören, was sie sagt.«

»Ulelu«, hauchte die Amme. »Findet ihre Höhle.« Sie starrte aus dem Fenster und war nicht mehr ansprechbar.

* * *

»›Ulelu‹ hat sie gesagt?« Tobin runzelte die Stirn. »Armin? Die Amme war mit vielen der Bediensteten befreundet. Dieser Armin könnte der Tote sein, den wir in den Wäldern nahe dem Schloss fanden. Am Tag nach dem Grauen, am Tag nach Porans Ermordung. Ein Diener.« Tobin streichelte nachdenklich seinen Bart. »Auch durch seine Brust war ein Pfeil gedrungen, genauso wie beim König. Er lag nicht unweit eines Versteckes. Einer Erdhöhle, die schon lange existiert. Laut der Legende steht diese Höhle unter einem besonderen Schutz. Die Überlieferungen geben ihr auch einen Namen: Ontru Ulelu.«

»Ontru Ulelu? Was bedeutet das?«

Tobin zuckte mit den Achseln. »Darauf, mein Freund, kann ich Dir keine Antwort geben. Es ist ein Ausdruck aus den alten Sprachen, die heute niemand mehr spricht.«

»Nein, frag nicht!«, flehte Eric Norak an.

»Ich muss, Eric. Sieh doch, wir haben eine Chance. Ich weiß, dass wir im Dorf gebraucht werden, aber …«

»Du machst das nicht wegen einer Chance. Dem Fürsten gegenüber sind wir machtlos. Deine Träume treiben Dich dazu!«

Norak schloss die Augen und holte tief Luft. »Gut. Es sind meine Träume, die mich beschäftigen, aber …«

»Darf ich Euch kurz unterbrechen?« Tobins Frage war rein rhetorischer Natur. »Ich kenne Deine Träume nicht, Norak. Und Deine Bedenken, Eric, kann ich verstehen. Doch wir haben die Möglichkeit, den Prinzen zu finden. Ihn und den Ring! Woher sollte die Amme wissen, ob der Prinz tot ist? Sie phantasiert zum größten Teil.«

Der rote Herold witterte Hoffnung. Zu lange zogen Unzufriedenheit und Leid Furchen in sein Gesicht. Doch er klammerte sich an einen Strohhalm, wenn er auf den Thronfolger hoffte. »Der Prinz ist mittlerweile ein Knabe. Er könnte seinen legitimen Platz als König einnehmen und mit dem Ring den Fürsten vernichten. Wenn die schwarzen Reiter ihn vor uns finden, nun, dann sind alle unsere Hoffnungen begraben.«

Norak sah Eric an. Sie zwangen Eric einen Weg zu gehen, den er nicht wollte. »Wir haben eine Verantwortung gegenüber unseren Leuten!«, platzte es aus ihm heraus.

»Wir haben auch eine Verantwortung gegenüber unserem Land«, entgegnete Tobin an Noraks Stelle. »Wir alle! Oder willst Du so weiterleben wie bisher?«

»Nein, will ich nicht! Aber Ihr beide wisst genauso gut wie ich, wie schwach dieser Hoffnungsschimmer ist. Ist es das wert, unsere Leute dafür im Stich zu lassen?«

»Ist es das wert, alle im Stich zu lassen?«, erwiderte Norak. »Wir müssen unseren Leuten helfen, richtig. Aber wenn Du Deine Unbill gegen meine Träume beiseitelässt, helfen wir ihnen nicht besser, indem wir den Prinzen finden?«

Norak fühlte mit seinem Freund. Das Dorf wartete auf ihre Rückkehr, die Leute brauchten sie. Doch Norak glaubte an seine Träume; er glaubte an die Hoffnung. Eric hatte keine Träume, aber hatte er auch keine Hoffnung?

Eric rang mit sich. Etwas in ihm wollte zurück zum Dorf und seinem Vater helfen. Etwas anderes sah dieses größere Ziel. Das Ziel der Veränderung. Weit entfernt, kaum zu fassen, doch vorhanden. Er schloss die Augen und schluckte den rauen Stein in seiner Kehle hinunter. Zum zweiten Mal an einem Abend musste er kapitulieren. »Na gut«, sagte er zu Norak. »Dann stell Deine Frage.«

Norak wandte sich an den Herold. »Sag, wo liegt diese Höhle?«