»Was nun?« Die Frage klang vertraut. Eric hatte sie nicht zum ersten Mal gestellt, Norak sie sicherlich nicht zum letzten Mal gehört. Trotz allem stand sie im Raum und harrte ihrer Beantwortung.
Sie befanden sich im Turm auf Bodenebene. Die Wächter waren ins Freie geflüchtet. Die hastig aufgerissene Pforte hing in ihren Angeln und offenbarte den Blick auf eine desorganisierte Gnomenarmee. Und der Aufmarsch der Gegenseite hatte bereits konkrete Formen angenommen.
Noraks Hände zitterten. Er krampfte sie um die Wasserkugel. Er konnte seine Erregung nicht verbergen. Seine Gefühle spielten eine Symphonie in vollendeter Disharmonie mit seinem Verstand.
Er umklammerte die Wurzel und die Lösung des Problems mit seinen Händen. Nur hatte ein Teil von ihm nicht die Absicht, diese Lösung wieder herzugeben. Die Kugel symbolisierte Macht! Er brauchte jedes magische Artefakt gegen den Fürsten, das er finden konnte. Warum hergeben? Warum helfen? In einer künstlichen Welt? Seine Welt war in Gefahr. Die reale Welt. Seine Realität. Er musste diesen Leuten nicht helfen. Die Abmachung war, sie zum Orakel zu führen. Sicher konnte er das Culum mit seinen neuentdeckten Kräften auch alleine finden. »Lass uns gehen!«, raunte er Eric zu.
Dieser war verwirrt. »Und dann? Was machen wir, wenn wir draußen sind? Wie gehen wir gegen die Leute vor?«
»Gar nicht!« Noraks blaue Augen schreckten im Raum umher, in jeden Winkel spähend. Er achtete darauf, Gopolan und Retsetlee nicht am Gespräch teilhaben zu lassen. Vor wem fürchtete er sich eigentlich? Vor ihnen? Vor sich selbst?
»Was soll das? Norak, bist Du bei Sinnen?« Für Eric stand zweifelsfrei fest, dass er es nicht war. Auch er bekam Angst. Angst vor Norak; Angst, falsch zu reagieren.
»Wir haben die Kugel, Eric, was brauchen wir mehr? Das Seraphenschwert, gut, deswegen sind wir hier. Aber stell Dir nur vor, wir verwenden beides gegen den Fürsten? Eric, wir haben Macht …«
»Du hast Macht. Hier an diesem Ort. Nicht ich. Und wie verlockend Dein Vorschlag auch klingt, meinst Du nicht, dass Du den falschen Weg einschlägst? Willst Du die Leute im Stich lassen? Ist es Dir egal, was aus ihnen wird?«
»Was soll schon aus ihnen werden?«, fauchte Norak. »Es sind Geschöpfe der Magie. Sie existieren in Wirklichkeit nicht. Wenn ihnen ihr Leben nicht gefällt, kann man neue erschaffen!«
»Norak, Du sprichst ja im Wahn! Was ist los mit Dir? Ist es die Kugel? Hatten wir nicht geklärt, dass sie existieren? Und dass wir nicht einmal wissen, wie wir geschaffen wurden …«
»Was soll das Gefasel? Ich habe hier die Macht, ich bin hier ein Gott. Ich kann sie vernichten und wieder auferstehen lassen! Ja wenn der Fürst jetzt hier wäre, dann könnte ich ihn …«
»Was könntest Du?« Die Schärfe der Vernunft hieb nach Noraks Wahngebilde. Eric drängte seinen Freund zurück. Wie glühender Stahl bohrte sich sein Blick in Noraks Augen. »Wenn der Fürst hier wäre, dann wäre er auch ein Gott, und wie ungern ich das erwähne, ein weit mächtigerer als Du.«
Eric ließ die Worte einen Moment wirken, bevor er zum nächsten Hieb ansetzte. »Und falls Du wirklich in dieser Welt über Leben und Tod gebieten kannst, dann Norak, frage ich mich, warum Du klammheimlich verschwinden willst, anstatt rauszugehen und die Geschichte zu klären?« Eric schob sein Gesicht dicht vor Noraks. »Vor einer Stunde waren Dir Deine Möglichkeiten nicht einmal bewusst und jetzt spielst Du Dich zum Allmächtigen auf? Der Rat der Zwölf hat diese Welt erschaffen. Wie weiß ich nicht und Du auch nicht, aber ich bin sicher, dass Du nicht einfach wiederholen kannst, wofür vorher zwölf von weit größerem Format nötig waren.«
Es war für ihr zukünftiges Vorgehen nicht ratsam, Noraks Fähigkeiten schlecht zu reden – sie waren auf sie angewiesen. Doch mit einem größenwahnsinnigen Norak kamen sie nicht weit. Es war an der Zeit, Norak auf den Boden der Tatsachen zurückzuholen, wenn auch Eric sich eingestehen musste, nicht zu wissen, wie dieser Boden aussah.
Norak war wütend. Wie konnte Eric sich nur erdreisten, so mit ihm zu reden. Er, Norak, war der Magier. Er hatte die Fähigkeiten zu schaffen und zu zerstören, wie nach Belieben. »Warum gehst Du dann nicht raus und klärst die Geschichte?«, schoss ihm Erics Erwiderung durch den Kopf. Er konnte nicht. Warum nicht? Er wusste es nicht. Er beherrschte Sorca. Warum ging er nicht raus, sagte, was er wollte und Sorca tat es? Weil Sorca ihn beherrschte.
Ihm kam unwillkürlich der Ohab des Bergdorfes in den Sinn. Er hatte das Gleiche über Had’de erzählt – wie ähnlich waren sich die Sprachen eigentlich? Norak hatte nicht die Macht des Fürsten, er hatte nicht die Macht der Zwölf. Noch nicht! Er stand erst am Anfang. Aber bald!
Und er brauchte diese verdammte Kugel nicht! Was hatte sie überhaupt mit dem Ganzen zu tun? Nichts! Sie waren hier wegen des Schwerts des Lichts, also sollten sie es verdammt noch mal holen. »Du hast recht.« Norak wandte sich an Eric. »Lass uns die Sache beenden.«
Während draußen sich die Heere sammelten, hoffte Eric inständig, dass Norak unter ›beenden‹ nicht das Falsche verstand.