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»Ihr habt auf Euch warten lassen. Ein alter Mann wie ich braucht ein Dach über dem Kopf und ein Bett unter seinem Rücken. Die Wildnis ist kein behaglicher Ort.« Retsetlee hatte tatsächlich auf sie gewartet. Sie hatten alles in allem zwei Tage gebraucht bis zu ihrer Rückkehr. Retsetlee hatte offensichtlich auf weniger gehofft.

»Nun, zumindest sind wir nicht tot«, entgegnete Norak.

»Wie gesagt, davon hätte ich rechtzeitig erfahren«, gab sich Retsetlee geheimniskrämerisch.

Damit schürte er ihr Misstrauen. Noraks Augenbrauen kräuselten sich. Woher hätte Retsetlee erfahren sollen, ob sie tot waren, außer er steckte mit dem Narren unter einer Decke? Oder hatte er magische Kundschafter? War der Sanddämon, der ihnen den Weg wies, einer von ihnen? Diese Fragen bedurften der Klärung.

»Habt Ihr sie?« Der Älteste riss sie mit der Frage aus ihren Gedankengängen.

»Nein«, antwortete Norak. »Keiner hat sie!«

»Was wollt Ihr damit sagen?« Retsetlee klang bestürzt.

»Und keiner wird sie je bekommen«, setzte Eric nach.

»Könntet Ihr Euren Zungen mehr Substanz verleihen?«, forderte Retsetlee gereizt. »Was sollen mir Eure Worte sagen?«

»Die Kugel ist für immer verloren«, deutete Norak an.

»Nein, wie sollte sie? Ihr könnt doch nicht …«

»Doch. Wir können. Wir haben sie zerstört«, log Eric.

Die Farbe wich aus Retsetlees Gesicht. »Das kann nicht sein. Nein! Keine Macht dieser Welt kann die Kugel zerstören …«

»Wie Ihr schon einmal selber erwähntet: Der Schelm sollte uns nicht unterschätzen, so wie wir ihn nicht. Vielleicht gilt das ja auch für Euch.«

Die Verblüffung ließ Retsetlees Mund offenstehen. »Aber wie? Mit was? Das kann nicht sein, es ist unmöglich …«

»Unmöglich? Ihr sagtet, keine Macht dieser Welt könnte die Kugel zerstören. Nun, wie Ihr wisst, sind wir nicht von hier und vielleicht sind wir ja auch nicht von dieser Welt.«

Retsetlee zog die Luft scharf durch die Zähne ein und hielt den Atem an. Dann nickte er. Er verstand Noraks Andeutung, woher die Freunde wirklich stammten. Und offensichtlich wusste er nicht, dass die Kugel unversehrt war.

Retsetlee war bewusst, dass der Rat der Zwölf, ihre Götter aus einer anderen Welt stammten. Durch Noraks Offenbarung konnte der Älteste nicht sicher sein, ob der junge Magier nicht doch das Potential besaß, die Kugel zu zerstören.

»Wollen wir nicht losgehen und Eurem Meister die gute Nachricht verkünden?« Häme mischte sich in Erics Unterton.

»Falls Ihr die Wahrheit sprecht«, Retsetlee musterte beide kritisch, »dann wird er alles andere als erfreut sein. Und Euer Leben wird er geringer schätzen, als den Dreck unter Euren Stiefeln.«

Norak lachte gekünstelt. »Warum sollten wir den Schelm fürchten, oder ihn überschätzen, jetzt, nachdem wir die Quelle seiner Macht zerstört haben? Was glaubt Ihr, kann er uns zuleide tun, wenn wir das vollbringen, was Eurer Meinung nach kein anderer kann?«

»Entweder seid Ihr kühn und dumm, oder weit gefährlicher als selbst ich geahnt habe. Nun gut, wie Ihr wünscht. Lasst uns dem Schelm die Nachricht überbringen. Es steht nicht nur Euer Leben auf dem Spiel, aber alle Dinge enden einmal.« Mit diesen Worten drehte er sich um und machte sich auf den Weg. Den Freunden stand es frei, ihm zu folgen.

* * *

»ZERSTÖRT?« Der Schelm war außer sich. Seine Hände krampften sich zusammen, sein Gesicht lief rot an. Sein Atem keuchte stoßweise aus den Lungen hervor. Gnom hin oder her, so wie er vor Wut kochte, fragten sich die Freunde, ob ihre Vorgehensweise die allerklügste war. »Ihr lügt!«

War das Hoffnung oder Gewissheit? Woher sollte der Schelm wissen, ob die Wasserkugel noch existierte? »Na, sicher tun wir das«, konterte Norak. »Das ist auch der Grund, warum der Narr aufgehört hat, Wasser aus dem Sumpf abzuziehen. Weil wir lügen und er ein solcher Menschenfreund ist.« Norak verpackte die Lüge im Geschenkpapier der Wahrheit.

Der Schelm erbleichte, wie vor nicht allzu langer Zeit Retsetlee vor ihm. An diesen gewandt schimpfte er »Ihr seid schuld! Euch habe ich entsandt, die beiden im Auge zu behalten! Wo wart Ihr, als das geschah?«

»Innerhalb der Grenzen Eures Reiches, wie Ihr befahlt, mein Meister.«

»SCHWEIGT! Dummkopf! Ist das Gebiet des Narren vielleicht nicht innerhalb meines Reiches?«

Entweder der Schelm bog sich gern die Dinge so zurecht, wie er es gerade brauchte, oder Retsetlee besaß tatsächlich eine etwas eigenwillige Auslegungsart seiner Befehle. Begründet dadurch, dass er mit dem Narren verbündet war? Diese Frage ließ die Freunde nicht los.

Noraks Nackenhaare kribbelten. Etwas stimmte nicht. Er versuchte herauszufinden was. »Ja, sie existiert nicht mehr. Und wenn Ihr wollt, dass etwas so geschieht, wie Ihr es wünscht, schickt das nächste Mal keine Handlanger! Was regt Ihr Euch auf? Ihr wolltet doch den Narren stoppen! Das haben wir für Euch getan. Das Gleichgewicht kann sich wieder herstellen. Keiner besitzt die Kugel. Keiner kann sie mehr für seine Zwecke missbrauchen. Keiner seine Macht stärken!«

Dem Schelm entging nicht, dass Norak auch auf ihn anspielte und es brachte ihn zur Raserei. Doch seine Unsicherheit ließ ihn zögern. Sagten sie die Wahrheit? Falls ja, konnte er was gegen sie tun? War er ihrer Macht gewachsen? Auf der anderen Seite stellten sich Norak und Eric genau dieselbe Frage.

Noraks Blick stöberte in den Winkeln des Raumes nach einer Idee für ihr weiteres Vorgehen – und da war es! Das, was nicht stimmte. Das, was nicht so war, wie insgeheim erwartet, obwohl er darüber gar nicht näher nachgedacht hatte. Davion! Selbstverständlich war der Berater des Königs anwesend. Selbstverständlich hatte er die ganze Zeit zugehört. Aber er, Davion, der Hetzer, der Kettenhund, der sie am ersten Tag hinrichten lassen wollte, Choleriker und Sprachrohr des Schelms, war unerwartet ruhig. Er sprach nicht, mischte sich nicht ein, er hörte nur zu. Er wartete ab! Genau das tat er. Wie ein Aasgeier beobachtete er, wie die Raubtiere sich wegen der Beute gegenseitig zerfleischten. Er nahm das, was übrig blieb: die Macht!

Norak machte Eric mit einem flüchtigen Blick auf Davion aufmerksam. Eric verstand den Blick und auch was er sah. Davion war viel zu gelassen. Er war nicht der Strippenzieher, der den Schelm lenkte, wie sie zuerst dachten. Aber Davion wollte die Macht. Er konnte die Künste selbst studieren und seinem Meister nacheifern, ihn sogar vom Thron stoßen. Doch dazu benötigte er die Kugel. Wieso war er dann so ruhig?

Die Antwort war einfach: Er kannte die Wahrheit! Und hielt es nicht für nötig, seinen Meister darüber aufzuklären, dass die Kugel nicht zerstört war. Eric und Norak hatten sich geirrt. Nicht Retsetlee machte mit dem Narren gemeinsame Sache. Davion war der Verräter. Also hatte ihr Plan diesmal funktioniert. Gut, er stammte ja auch von Gopolan.

Allerdings sah dieser Plan nicht das weitere Vorgehen vor, nachdem sie den Verräter entlarvt hatten. Dem Wutausbruch des Schelms nach wäre dies aber eine gute Idee gewesen. Doch was Improvisation betraf, waren die beiden Freunde ja die Meister.

Norak demonstrierte dies auch sogleich und Eric stöhnte innerlich. Er hasste Plan B. Noraks strahlend blaue Augen durchbohrten die des Schelms. Der Kurs war klar: Konfrontation! Dabei hatte Eric sich immer eingeredet, er wäre der Draufgänger der beiden.

»Seid Ihr Euch überhaupt bewusst, dass wir erwartet wurden?«, offenbarte Norak dem Schelm.

»Wie meint Ihr das?«, fragte der Schelm verblüfft.

»Jemand hatte den Narren gewarnt. In Euren Reihen befindet sich ein Verräter!« Norak sah, wie Davion zuckte, als hätte ihn eine Peitsche getroffen.

»Lenkt nicht ab!«, ereiferte sich der Schelm. »Wahrscheinlich steckt Ihr mit dem Narren im Bunde!«

»Ja, so ist es ganz gewiss!« Das war Davion. Seine Stellung war bedroht, also griff er an. Anderen die Schuld zuschieben, war seine große Stärke. »Sie sind die Verräter! Und Retsetlee ist auf ihrer Seite!« Volle Breitseite. Davion sah die Chance zum Großreinemachen.

»Beherrscht Euer loses Mundwerk, Davion.« Retsetlee ließ sich die Anschuldigungen nicht länger gefallen. »Wenn Ihr glaubt, auch gegen mich intrigieren zu können, dann müsst Ihr Euch schon etwas Besseres einfallen lassen. Nachlässigkeit mag man mir vorwerfen, aber niemals Verrat!«

»Er lügt, Meister! Sie lügen alle!« Er war nah an der Wahrheit, aber wollte er sie aussprechen? »Sie wollen Euch in die Irre führen. Sie stehen mit dem Narren im Bunde …«

»Ihr solltet Euch gut überlegen, wer hier zum Verräter taugt, mit ach so schmeichelnd, süßen Zungen.« Bei diesen Worten blickte Norak ostentativ in Davions Richtung.

»Wagt es!«, zischte Davion. »Ich bin ein loyaler Untertan des Meisters. Ich bin sein Berater. Er weiß, wie treu ich ihm ergeben bin.«

»Weiß er das, Davion?« konterte Retsetlee. »Auch ich bin sein Berater, was Euch nicht abhielt, mich zu verdächtigen.«

»Ja, Davion. Weiß ich das?« Der Schelm dehnte diese Worte und Skepsis erklang in ihrem Nachhall. »Sprecht, warum sollte ich Eurer Loyalität sicher sein? Ihr seid so ein guter Berater für mich, weil ich weiß, dass Ihr mir bei der erstbesten Gelegenheit einen Dolch in den Rücken stoßt und ihn umdreht.«

Norak triumphierte innerlich. Der Zweifel Saat konnte aufgehen.

»Doch auch Euch traue ich nicht mehr, Retsetlee«, fuhr der Schelm fort. »Was Euch betrifft, Fremde, Euch glaube ich kein Wort. Ihr habt die Kugel nicht zerstört! Ihr wollt sie für Euch

Eric hatte das dumpfe Gefühl, dass Plan B nicht ganz aufging.