»Nun meine neuen Freunde«, begann ihr Gastgeber in einem väterlichen Ton von neuem, »wie ich sehe, seid Ihr nicht sehr bewandert in den alten Sprachen. Auch Euer Auftrag scheint Euch nicht in seiner Gänze bewusst zu sein. Zusammen können wir die größten Lücken schließen. Ihr habt viele Fragen, also fragt.«
Norak traute sich als erster. »Was wisst Ihr über unseren Auftrag und woher? Von einer Eule abgesehen, ist keiner gekommen und hat ihn uns gegeben. Es war unser eigener Entschluss die Höhlen aufzusuchen.«
»Ich spreche nicht von den Feuerhöhlen, junge Freunde. Wenn überhaupt, sind sie nur ein Teilaspekt Eurer Aufgabe. Auch mir sind nur Fragmente des Ganzen bekannt. Wenn Ihr dem Ruf der Eule folgt, dann kennt Ihr Euer Ziel: Ihr müsst die Quelle finden!«
»Nicht schon wieder!«, stöhnte Eric. »Also gut. Ihr habt gewonnen. Ja, wir haben den Ruf der Eule, wie Ihr es nennt, gehört. In der Ontru Ulelu. Und ja, das Viech hat uns aufgetragen, die Quelle zu finden. Aber wo diese sein könnte, oder was sie überhaupt ist, davon haben wir nicht die geringste Ahnung.«
Eric holte tief Luft. Seine Wut spie die Worte hinaus. »Wir sind nicht ausgezogen, um Quellen zu finden. Wir sind auf der Suche nach Rache! Der Fürst hat unsere Familien getötet, und ich verspreche Euch, er wird dafür zahlen!« Hass wölbte die Adern auf Erics Stirn.
»Das, mein junger Freund muss warten«, entgegnete der Ohab gelassen. »Ihr werdet Gelegenheit für Eure Rache bekommen, da bin ich mir sicher. Aber von oberster Priorität muss Eure Suche nach der Quelle sein.«
»Was ist die Quelle?« Norak stellte die entscheidende Frage.
»Die Quelle ist der Fokus zu unvorstellbarer Macht. Poran vertrieb mit ihr das Böse aus dem Land. Er führte die Quelle der Macht, bis er zu alt, zu gebrechlich wurde. Es erfordert Stärke, sie zu handhaben. Diese Quelle, Dihati, ist der Ring. Porans Ring, die Legitimation seiner Macht. Seiner Macht über das Böse; die Macht, es in seine Schranken zu weisen.«
»Der Ring. Tobin hatte recht. Es geht nur um den Ring. Wenn wir ihn und den Prinzen finden, dann …«
»Vergesst den Prinzen.« Die Miene des Ohabs versteinerte sich, wie auch der Klang seiner Stimme. »Es klingt hart, aber wichtig ist allein der Ring. Wenn wir ihn verwahren, kann das Böse seine Macht nicht missbrauchen. Ohne den Ring werden die Kräfte des Bösen schwächer und wir kommen in die Lage, seine Fesseln abzustreifen. Daher Dihati, konzentriert Eure Suche auf den Ring.«
»Nicht, dass ich wieder einen Blitz heraufbeschwören möchte, « sagte Eric kleinlaut, »aber warum nennt Ihr uns dauernd ›Dihati‹?«
»Ich höre, Deine Aussprache bessert sich«, lächelte der Ohab. »Nur die Dihati, junger Freund, können die Eule hören. Nur die Dihati können dieses Land retten. Ihr seid die Dihati Qo, ihr seid die Hüter der Quelle.«
»Die Hüter der Quelle?« Noraks Gesicht drückte halb Unglaube, halb Verstehen aus. »Das heißt, wir sind die Beschützer des Rings?«
»So könnte man es sagen.«
»Klasse!« warf Eric mürrisch ein. »Wir laufen uns die Hacken ab, um unsere Lebensbestimmung zu erfüllen: Kleinodverwahrer.«
»Es ist nicht ganz so trivial, wie Ihr denkt. Ich habe Euch eben erklärt, wofür dieser Ring steht. In ihm ist ein Splitter des Steins der Weisen eingefasst. Unvorstellbare Möglichkeiten entfalten sich durch diesen Stein.«
»Der Stein der Weisen?«, fragte Norak ungläubig. »Ich hielt ihn immer für ein Märchen.«
»So wie die Feuerhöhlen?« Eric nahm Noraks Augenfunkeln gelassen zur Kenntnis.
»Vieles, was einst war, gilt heute als Legende. Ihr solltet wieder anfangen zu glauben, Dihati.«
»Wo ist der Rest des Steins?«, fragte Eric. »Warum sollte sich der Fürst mit dem Ring aufhalten, wenn er den ganzen Stein haben kann?«
»Er kann ihn nicht haben. Das Einzige, was er bekommen kann, ist der Ring, der eine Verbindung zu der Magie des Steines herstellt. Vielleicht gelingt dies auch mit dem Seraphenschwert. Leider ist es verschollen. Den Stein hat der Rat von Gishalta verborgen. In einer anderen Welt, die neben der unseren existiert.«
»Eine andere Welt? Wo liegt sie?«
»Ja, eine andere Welt, geschaffen vom Rat. Nur der Rat kannte den Zugang zu ihr.«
»Wo liegt Gishalta?«, wollte Eric wissen.
»Es ist ein Berg im Nordgebirge. Vermutlich wird Euch Eure Reise nicht dorthin führen.«
»Von dem Rat weiß ich nichts. Die Namen, die Ihr nennt, sind uns unbekannt. Was hat das alles zu bedeuten?«
Der Ohab seufzte. »Da werde ich sehr weit ausholen müssen.« Er breitete die Arme aus und hob die Stimme, wie ein Geschichtenerzähler, der sich Gehör verschaffte.
»So höret gut zu. Lange, bevor König Poran regierte, versuchten die Weisesten der Weisen, Behüter alter Geheimnisse und mächtiger Magie, diese Welt im Gleichgewicht zu halten. Aber wie so oft, wenn Menschen sich Gutes vornehmen, wird es durch Habgier und Missgunst korrumpiert und zerstört.« Über die Flammen hinweg bannte der Ohab seine Zuhörer mit den Augen. »Jahrhunderte lang herrschten Frieden und Einklang, doch den Mächten des Bösen gefiel dies nicht. Man hatte sie unterschätzt. Am Ende jener Tage, als die Ordnung auseinanderbrach, trafen sich die neun großen Magier. Sie trafen sich auf Gishalta. Dort kam sie immer zusammen, seit Menschengedenken: die Versammlung der Zwölf.«
»Wieso zwölf? Ich dachte, es seien neun?«
»Gemach, gemach, alles zu seiner Zeit.« Der Ohab war es nicht gewohnt, unterbrochen zu werden und beschwichtigte den Einwand schnell. »Also, in jenen Tagen versammelten sich die letzten neun im vergeblichen Versuch, das Unumgängliche zu verhindern. Sie bildeten sich ein, das Böse noch abwenden zu können. Aber unvorbereitet gelingt das niemals! Selbst mit der richtigen Vorbereitung ist es schwierig, für Normalsterbliche sogar unmöglich.«
»Nun, wir sind Normalsterbliche.«
Die Augen des Ohab blitzten. »Nein, das seid Ihr nicht! Ihr seid die DIHATI QO! Denkt nicht mal, dass Ihr so seid, wie die Gewöhnlichen. Wenn Ihr das tut, seid Ihr schon verloren.«
Vor Aufregung war das blasse Gesicht des Ohabs rot angelaufen. Er schloss die Augen und atmete tief ein und aus. Ruhiger fuhr er fort. »Aber zurück zur Wahrheit, die schon lange zur Legende zählt. Damals, als die Zwölf ihrer Magie mit Worten Flügel verliehen, gab es drei Sprachen. Alle von unterschiedlicher Herkunft und Klang. ›Ohab‹, wie auch ›Ontru Ulelu‹ kommen aus der Sprache der Kralten. ›Dihati Qo‹ stammt aus der Sprache der Magie, die aus Magie entstanden ist und ihre Wirkung nur durch einen Magier entfaltet. Diese Sprache nennt sich Sorca.«
»Sie nennt sich Sorca?«, fragte Norak erstaunt. »Mir war nicht bewusst, dass sie einen eigenen Namen hat.«
»Ihr seid hier, um zu lernen. Wie Ihr Euch vorstellen könnt, versagten die restlichen neun. Das Böse obsiegte und Verdammung knechtete das Land.«
»Ihr erwähntet drei Sprachen. Welche ist die dritte?«
Ein Schatten fiel über das Gesicht des Ohab. Seine Kehle schnürte sich zu. Er brachte die Worte nur mühsam hervor. »Had’de – die Sprache der Verdammten. Derer, die das Unheil bringen. Ich kenne ihre Worte nicht und will sie auch niemals hören. Es ist eine dunkle Sprache, auf Hass und Vernichtung gegründet, ebenso mächtig wie Sorca. Versucht nicht, sie zu erlernen! Sorca könnt Ihr beherrschen, aber Had’de beherrscht Euch.«
»Wenn wir sie nicht lernen, wie können wir dann die erkennen, die sie gebrauchen?«
»Wenn einer die Verdammnis gegen Euch wendet, werdet Ihr es merken.«
Eric schöpfte daraus wenig Hoffnung. Auch Noraks Zuversicht hielt sich zurück.
»Wer waren die Kralten?«
»Ein Volk, das aufgrund seines Wissens und seiner Begabung glaubte, die übrigen Menschen führen zu müssen. Die zwölf stammten aus dieser Schicht«, erklärte der Ohab abwesend. Die Verdammten nagten noch an ihm.
»Was war mit den anderen drei?«, wollte Eric wissen.
»Bitte?« Der Ohab verweilte auf einer anderen Sphäre.
»Es war der Rat der Zwölf. Trotzdem kamen nur neun Magier.«
»Ja, mein junger Freund, darin liegt der Auslöser für das Unheil.« Der Ohab wandte seine Aufmerksamkeit wieder den beiden Freunden zu. »Zwei dieser drei Magier verbündeten sich mit den Kräften des Bösen und beschworen sie. Sie wollten die Versammlung zerschlagen und jeder allein herrschen. Zuerst gingen sie gemeinsam gegen den Rat vor, dann bekämpften sie sich gegenseitig. Der eine unterlag, der andere triumphierte. Der eine war Grinn ’te Kall, der andere hieß Tang Ok.«
»Ist dieser Tang Ok unser neuer Fürst?« Norak befürchtete das Schlimmste.
»Ja«, war die knappe Antwort.
»Aber wie alt muss er dann sein?«
»Er nährt das Böse, die Bosheit nährt ihn. Sein langes Leben ist teuer erkauft, und was zu Eurem Vorteil gereicht, es zehrt an seinen Kräften. Er ist verschlagen und gemein. Euer größtes Problem wird sein, den Feind zu erkennen. Er hat viele Gesichter.«
»Wer war der dritte?«
Der Ohab lächelte. »Der dritte der fehlenden Magier war der weiseste von allen. Er konnte Teile der Zukunft erkennen. Das Böse war nicht mehr aufzuhalten. Die anderen ignorierten diese Wahrheit. So trennte er sich von ihnen und fasste einen langfristigen Plan, das Böse wieder zu bannen. Sein Name war Gennoh ’di Albah.«
Die Freunde lächelten. Es gab wohl kein Kind, das diesen Namen nicht kannte. Gennoh ’di Albah. Ein Name aus alten Sagen und Mären. Dieser Name stand für das Gute im Land.
Der Ohab fuhr fort. »Seine Weissagung ist die Grundlage, auf die sich der Bund stützt. Der Bund, dem auch wir angehören. Wir sammeln das Wissen, wie man das Böse zerschlägt. Ich gebe dieses Wissen an Euch weiter, denn für Euch ist es bestimmt. Für die Dihati Qo.«
»Wir beide sollen also das Böse vernichten?«
»Nicht Ihr allein. Euch werden andere folgen. Ihr seid die, die sind. Nach Euch kommen die, die sein werden. Nach Ihnen die, die waren. Sie werden den Kreis schließen. Der Kreis beschützt die Quelle.«
»Äh, die, die waren kommen nach denen, die sein werden?« Norak war skeptisch.
»Ja. Sie waren vor Euch und werden nach ihnen kommen. So sagt es ’di Albah, so spricht es das Orakel Biwda’ Gef.«
Wieder ein neuer Name. Neugierig fragte Norak »Könnt ihr uns mehr über die Weissagung und das Orakel erzählen?«
»Bei der Weissagung ist mein Wissen leider begrenzt.« Die Augen des weisen Mannes blickten kurz zu Boden und dann wieder auf. Er verbarg etwas. »Aber das Orakel kann ich Euch verkünden. Seine Worte waren an König Poran gerichtet. Es sagte, er brauche insgesamt sieben Personen. Die eine zu Anfang. Von ihr wissen wir nicht, wer sie war. Ihre Aufgabe war es, die Quelle vor den Eroberern zu schützen. Sie hat den Ring versteckt.«
»Armin«, sagte Norak leise und dachte an das, was die Amme ihnen erzählt hatte.
»Bitte?«
»Ihr sagtet, Ihr kennt den Namen dieser Person nicht. Ab heute könnt Ihr sie › Armin‹ nennen.«
Der Ohab nickte und fuhr fort. »Danach werden zwei kommen und die Quelle finden. Diese zwei seid Ihr. Euch folgen vier weitere Dihati, die helfen, die Quelle zu schützen und zu verwahren. Ihr müsst die Quelle in den Kerker bringen. Dort kann das Böse sie nicht finden.«
»In einen Kerker?« Norak hob verwundert die Augenbrauen.
»Ja. In einen Kerker, den die Dihati speziell für das Böse errichten.«
»Wie sollen wir einen Kerker bauen, der das Böse gefangen hält?«
»Kommt Zeit, junger Freund, kommt Rat.«
* * *
Der Ohab ließ es in Bezug auf den Kerker darauf bewenden. Sie saßen sich eine Minute lang schweigend gegenüber. Dann ergriff Norak das Wort. »Was die Sprachen betrifft, sind wir vom Thema abgekommen. Wir kennen die Bedeutung der einzelnen Wörter nicht. ›Ohab‹ heißt vermutlich ›Ältester‹ oder ›Oberhaupt‹, ›Dihati‹ habt Ihr uns schon erklärt, aber was ist mit ›Ontru Ulelu‹ oder ›Biwda’ Gef‹?«
»›Biwda’ Gef‹ bedeutet ›Bewacher des Kerkers‹ und ›Ontru Ulelu‹ sollte Euch beiden schon aufgegangen sein: ›die Höhle der Eule‹.«
Norak schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. Langsam ergab es einen Sinn.
»Nun, Ohab«, meldete sich Eric zu Wort, »habt Ihr irgendwelche Ratschläge für unser weiteres Vorgehen?«
»Ihr kennt Euren Auftrag. Wenn die Eule Euch riet, das Erz der Verdammten zu suchen, so tut es. Ich selbst wusste nicht, dass es wirklich existiert.«
Diesen Spruch waren die beiden langsam leid.
»Für Dich, junger Zauberer«, der Ohab deutete dabei auf Norak, »habe ich noch etwas. Es wird sich als sehr nützlich erweisen, da bin ich mir sicher.«
* * *
Norak verstaute die Bücher und Schriftrollen über Magie in seinem Rucksack. Sie waren das Geschenk des Ohabs. Sie hatten den Rest des Tages in dem Bergdorf verbracht und hier übernachtet.
Norak hatte begierig die Lektionen aufgesogen, die der Ohab ihn über Magie lehrte. Jetzt war es an der Zeit weiterzureisen.
Das ganze Dorf versammelte sich zum Abschied und wünschte ihnen Glück. Der Ohab schüttelte beiden die Hände. Zu Norak gewandt sagte er »Vergiss nicht, was ich Dich über die Elemente gelehrt habe. Nicht nur ein Element steht gegen ein anderes, wie Feuer und Wasser. Jedes der drei anderen ist gegen ein Dich angreifendes Element einsetzbar. Manchmal sogar alle vier. Oft sind sie nur in der Kombination wirksam. Stehe einmal einem Luftkobold gegenüber und Du verstehst, was ich meine.« Norak nickte. Er würde diese Worte beherzigen.
Dann brachen sie auf. Nach fünfzig Schritten rief der Ohab ihnen nach. »Das Licht wird Euch geleiten.« Die Freunde drehten sich fragend um. Doch der Ohab wandte ihnen bereits den Rücken zu und ging in Richtung Felsüberhang davon.
»Was sollte das nun wieder?«, fragte Norak.
»Dieser Mann ist merkwürdig. Da fällt mir ein, wir haben gar nicht gefragt, was der Kreis ist«, stellte Eric fest.
Norak seufzte. »Was soll’s. Komm mit. Dafür ist es jetzt zu spät. Vermutlich erfahren wir es noch früh genug. He, wir sind die Dihati.«
Erics Begeisterungsstürme über diese Erkenntnis hielten sich in engen Grenzen. Er sah seinen Freund missmutig an, dann drehte er sich um und trottete vorneweg. So machten sich die zwei wieder auf den Weg.