Ihr Weg war lang und beschwerlich. Obwohl sie sich in den Überresten des Dorfes mit Proviant versorgt hatten, aßen sie nichts. Sie sprachen kein Wort. Jeder versuchte für sich, den Schmerz in seiner Brust zu ersticken.
Ihr Ziel waren die Feuerhöhlen. Jedenfalls redeten sie sich das ein. Ob sie die Höhlen fanden, war ihnen egal. Noraks Euphorie, seine Träume, seine Hoffnung – zerstoben. Die Vision. Die Eule. Hatte sie überhaupt gesprochen? Nicht wichtig. Sie setzten einen Fuß vor den anderen. Weg vom Dorf. Es war gut, ein Ziel zu haben.
Das Dorf. Mit Reißzähnen zerrte die Erinnerung an ihren Herzen. Sie sahen ihr Dorf vor sich. Ihre Verwandten, ihre Freunde. Zerstückelt. Im Schmerz dieser Bilder keimte eine neue Art der Hoffnung. Genährt von einem anderen dominierenden Gefühl, das die Trauer verdrängte – Gier. Die Gier nach Vergeltung!
Ihretwegen gingen sie noch aufrecht. Ihretwegen wankten sie nicht in ihrem Ziel. Rache! Die Verheißung, welche die Feuerhöhlen ihnen zuwisperten. Zur Gier gesellte sich Hass. Und sie wurden ihre Wegbegleiter. Der Hass auf den Fürsten und die Gier nach seinem Tod.
* * *
Nach einer Woche redeten sie wieder miteinander. Nicht über die Ereignisse im Dorf, sondern über das, was ihnen bevorstand. Je näher sie dem Taranus-Gebirge kamen, desto öfter zogen sie Erkundigungen über die Feuerhöhlen ein. Sie kehrten in Gasthäusern ein, fragten Passanten auf dem Weg, doch die Hinweise blieben vage.
Die beiden jagten einem Märchen hinterher. Die Leute wünschten ihnen entweder Glück, oder verspotteten sie. So irrten sie auf den verschlungenen Pfaden des Taranus-Gebirges umher und ihr Ziel verschwamm. Doch an einem Morgen, der sich eigentlich in nichts von all den anderen, vergeblichen Morgen unterschied, passierte das Unerwartete.
Sie wanderten auf einer Straße, die an einem kleinen Bergdorf vorbeiführte. Ein Mädchen im Alter von zehn Jahren spielte am Rand des Weges. Die beiden näherten sich ihm. Es sah auf und sprach sie an. »Guten Morgen, Wanderer. Kann unser Dorf Euch behilflich sein? Mein Vater führt ein Gasthaus, dort bekommt Ihr gutes Essen.«
»Gegessen haben wir bereits«, entgegnete Norak, »aber vielleicht kannst Du oder Dein Vater uns weiterhelfen. Wir suchen nach den Feuerhöhlen. Sie sollen sich in dieser Gegend befinden.«
»Die Feuerhöhlen! Eine uralte Sage. Wer hat Euch davon erzählt?«, wollte das neugierige Mädchen wissen.
Eric lächelte verschmitzt, beugte sich zu ihm runter und raunte geheimnisvoll »Eine Eule hat es uns im Schlaf geflüstert.«
Die Augen des Mädchens weiteten sich. Es drehte sich um und rannte die Abzweigung in Richtung Dorf entlang. Auf halber Strecke traf es einen Jungen, nur wenige Jahre älter als das Mädchen und offensichtlich sein Bruder. Es sprach aufgeregt zu ihm und zeigte dabei auf die beiden Freunde.
»Das hast Du jetzt davon«, tadelte Norak Eric. »Was musst Du auch kleine Kinder erschrecken.«
»Konnte ich ahnen, dass die Kleine petzt?« Sie grinsten sich gegenseitig an. Der Grund war albern, aber es tat gut, den anderen wieder einmal lächeln zu sehen.
Der Bruder des Mädchens näherte sich ihnen. »Seid willkommen, edle Herren. Wie ich hörte, seid Ihr auf der Suche nach den Feuerhöhlen. Ist mir die Frage gestattet, warum Ihr nach ihnen sucht?«
Ein sehr höflicher Junge für das Aufsässigenalter, in dem er sich befand. Daher antwortete Norak, obwohl es den Jungen eigentlich nichts anging »Wir hörten Gerüchte darüber in der Gegend. Dort soll es ein wertvolles Erz geben und wir wären daran interessiert. Reicht das?«
»Verzeiht meine Neugier, Wanderer, aber meine Schwester erwähnte eine Eule und …«
»So, sie erwähnte eine Eule? Und?« Norak war das mit der Eule peinlich, also versuchte er, den Jungen kurz angebunden abzuweisen.
»Bei uns, verehrte Herren, haben Eulen eine große Bedeutung. Wir interessieren uns sehr für sie.«
»Ein wenig Vogelkunde soll noch niemanden geschadet haben«, entgegnete Norak. »Gebt Bescheid, sobald die Schwalben wieder tief fliegen.«
»Verzeiht, Fremde, ich wollte nicht aufdringlich erscheinen«, blieb der Junge höflich »Ihr habt also nichts von … über die Eulen vernommen?«
Eric war das Katz-und-Maus-Spiel leid. Es glaubte sowieso schon jeder im Umkreis von fünfzig Meilen, dass sie verrückt waren, da kam es auf diese Dorfleute auch nicht mehr an. Barsch fuhr er den Jungen an. »Eine Eule sprach zu uns in einem Traum. Sie wollte, dass wir die Höhlen finden. Bist Du jetzt zufrieden?«
Ein Lächeln zauberte sich auf das Gesicht des Jungen. »Meine Schwester hatte recht. Ihr hört den Ruf der Eule. Es ist uns eine Ehre Euch zu empfangen. Kommt Dihati, kommt mit in unser Dorf.«
»Dihati?«, kam es aus zwei Kehlen gleichzeitig. Doch der Junge hatte sich bereits umgedreht und war auf dem Weg zum Dorf. Nachdem Norak und Eric zu der Überzeugung gekommen waren, sie hatten lange genug mit offenen Mündern am Wegesrand verweilt, setzten sie sich in Bewegung und folgten ihm.
* * *
Das Mädchen hatte für ein Empfangskomitee gesorgt. Die Menschen begrüßten Norak und Eric fast überschwänglich. Hinter der Menge war ein Felsüberhang zu sehen. Von dort kam ein Mann in ihrem Alter auf sie zu. »Ihr kommt spät, Dihati. Wir haben eher Kunde von Euch erhofft.«
Norak und Eric wechselten einen Blick. Dann antwortete Norak. »Ich weiß nicht, wer Ihr seid und noch weniger, was das Ganze hier soll, aber glaubt mir, Ihr verwechselt uns. Wir sind nicht die Dihati, was auch immer das sein mag.«
»Doch Ihr seid die Dihati«, beharrte der Mann. »Die Dihati folgen dem Ruf der Eule. Das tut Ihr doch, oder? Kommt, ich bringe Euch zu unserem Ohab.«
»Stopp!« Norak hatte nicht vor, ihm zu folgen. »Ich weiß beim besten Willen nicht, was diese Dihati-Sache soll. Und noch nie habe ich von einem Ohab gehört! Was zum Teufel soll das?«
Der junge Mann lächelte. Mit einer einladenden Geste zeigte er auf den Felsüberhang. »Kommt mit und lernt.«
* * *
Der Überhang bot einen natürlichen Schutz vor Wind und Regen. Im hinteren Drittel saß ein Mann auf dem Boden, dem Augenschein nach der Dorfälteste. Weisheit blinzelte aus den lebendigen Augen. Vor ihm war ein Lagerfeuer aufgeschichtet, aber noch nicht entzündet. Der Mann forderte sie mit einer knappen Geste auf, Platz zu nehmen.
Norak und Eric verschränkten die Arme vor der Brust und blieben stehen. Sie opferten Höflichkeit, um Kontrolle zurückzugewinnen. Das Ganze lief eindeutig in die verkehrte Richtung.
Der weise Mann blieb ungerührt und lächelte. »Seid mir willkommen, Dihati Qo. Ich bin der Ohab dieser Gemeinschaft.«
»Einen wunderschönen Morgen wünschen auch wir«, erwiderte Eric. »Und entschuldigt bitte vielmals unsere Verspätung. Wir sind die Dehadu und dachten bis jetzt, wir wären die Verrückten hier.«
»Di-ha-ti«, verbesserte ihn der Ohab.
»Oh, Entschuldigung.« Eric schlug sich mit sichtlich gespielter Betroffenheit gegen die Stirn. »Wie konnte mir das nur passieren?«
»Für jemanden, der die Feuerhöhlen sucht, seid ihr sehr unwissend. Ihr hört doch den Ruf der Eule?«
»Wenn ich ehrlich bin, eigentlich nicht.« Eric schaute sich verstohlen um. Dann beugte er sich vor und flüsterte. »Sie ging uns mit ihrem Geschwafel auf die Nerven. Also haben wir ihr den Kopf rumgedreht und sie zum Frühstück verspeist. Apropos Frühstück, sind Eure alten Knochen zu zäh für unseren erlesenen Gaumen?«
Norak konnte sein unterdrücktes Kichern nicht verbergen. Entweder er stoppte Erics Unverschämtheiten, oder der Alte warf sie hier hochkant raus. Die Augenbrauen von Ohab-was-auch-immer rückten schon bedrohlich zusammen. Er gestikulierte und bewegte die Lippen. Der Ohab wirkte Magie. Norak war überrumpelt; er konnte nicht reagieren, er wusste nicht einmal auf was.
Ein Blitz löste sich aus dem Morgenhimmel und Donner folgte ihm. Der Blitz krachte zwischen Eric und Norak hindurch und schlug direkt in die Feuerstelle ein. Das Holz war entzündet. Eric verstummte. Seine Kinnlade berührte beinahe die Brust. Er konnte seine Lider gar nicht so weit aufreißen, wie er das Feuer anstarren wollte.
Der Ohab deutete auf den freien Platz vor ihnen. »Ihr könnt Euch setzen und lernen oder gehen und sterben. Wählt!«
Eric drehte seinen Kopf zu Norak, und Norak drehte seinen Kopf zu Eric. Eric sah Norak an, und Norak sah Eric an. Ihre Wahl war weise.
Sie setzten sich.