Kapitel 67
Dermot saß in einem Taxi auf dem Weg zum Flughafen, als ihn der Anruf erreichte. Neela hatte vorgehabt, sich erst auf dem Flughafen von ihm zu verabschieden, aber sie fühlte sich an diesem Morgen nicht besonders gut, deshalb blieb sie zu Hause und versprach Dermot, die Gynäkologin anzurufen, sollte sich ihr Zustand verschlechtern. Als sein Handy läutete, schaute er nicht einmal auf das Display, weil er fest damit rechnete, dass es Neela war, die ihm eine gute Reise wünschen wollte.
Es war nicht Neela.
»Mr. Nolan? Es wird Zeit«, sagte die kehlige Stimme eisig.
Für Dermot war es, als würde er eine Stimme aus dem Reich der Toten hören. Er fühlte sich, als hätte ihn ein Schuss aus einem Betäubungsgewehr getroffen.
»Was wollen Sie, Sie Rohling?«, fragte er fassungslos. Jeder Muskel in seinem Körper zitterte.
»Ich möchte über Neela sprechen.«
Der Name traf wie ein Pfeil in Dermots Herz. Neela.
»Und über die kleine Virginia«, fuhr die heisere Stimme aus dem Jenseits fort.
Virginia! Ein zweiter Pfeil traf in sein Herz.
»Was haben Sie mit ihnen zu tun?«
»Ich?«, fragte die Stimme. »Ich habe gar nichts mit ihnen zu tun.« Er machte eine Pause, um der Erleichterung, die sein Opfer durchströmte, Zeit zu lassen. Dann fügte er hinzu: »Aber es gibt fünf gute alte Kerle, die sich sehr darauf freuen, Sie in dem Aufzug zu treffen, den Sie so plastisch in Ihrem Buch beschrieben haben.«
Dermot brachte kein Wort heraus.
»Das war Ihr Albtraum, glaube ich. Habe ich recht? Übrigens, es war ein richtiges Vergnügen, das zu lesen. Worst Nightmares, meine ich. Ich war sehr beeindruckt von dem Endprodukt.«
Damit brach die Verbindung ab.
Dermot wandte sich unverzüglich an den Taxifahrer: »Drehen Sie um. Sofort. Fahren Sie zurück in die Stadt!«
»Aber …«
»Tun Sie es! Jetzt sofort!«, schrie Dermot. »Ich bezahle den doppelten Preis.«
Der Chauffeur gehorchte, und Dermot wählte Neelas Nummer.
»Neela, nimm ab!«, betete er. »Bitte, geh ran!«
Doch die Mailbox schaltete sich ein. Er rief Nick an. Nick hob nach dem ersten Klingelton ab.
»Nick! Gott sei Dank, dass ich dich erreiche. Neela ist in Gefahr. Der Killer mit der heiseren Stimme. Er hat mich gerade angerufen. Wo ist Neela? Sie ist nicht an ihr Handy gegangen. Wohin wollte sie?«
»Neela fühlt sich ein wenig schlechter – nicht viel, aber genug. Sie ist zu ihrer Gynäkologin gefahren.«
»Zum Sibley Building? Ich bin auf dem Weg dorthin. Ruf sofort die Polizei an! Okay? Sag ihnen, sie sollen hinfahren – der Verrückte hat gedroht, ihr etwas anzutun.«
Dermot legte auf und rief dem Fahrer zu: »Das Sibley Building! South Broadway. Fünfhundert Dollar dafür, dass Sie in einer Viertelstunde dort sind.«
Dermot versuchte immer wieder, Neela auf dem Handy zu erreichen – vergeblich.
Der Taxichauffeur fuhr wie ein NASCAR-Champion, aber er brauchte trotzdem länger, als Dermot gehofft hatte. Das Taxi hielt vor dem Gebäude. Dermot warf dem Fahrer seine VISA-Card zu. »Warten Sie hier! Die fünfhundert Dollar gehören Ihnen. Dazu noch einmal hundert, wenn Sie warten.«
Dermot sprang aus dem Wagen und rannte ins Foyer des Gebäudes. Die letzten goldenen Sonnenstrahlen spiegelten sich in den Glaspaneelen.
Wenige Minuten zuvor hatte Neela einen der gläsernen Fahrstühle betreten und auf den Knopf für den siebenundzwanzigsten Stock gedrückt; dort hatte die Gynäkologin ihre Praxis. Die Etagennummer leuchtete auf, und der Lift fuhr nach oben.
Neela bewunderte den Ausblick über die Stadt – das war eine der Hauptattraktionen des neu errichteten Gebäudes. Die Aufzüge befanden sich an einer Ecke und boten einen spektakulären Ausblick auf Los Angeles bis hin zum Ozean.
Der Lift hielt vorzeitig im achten Stock. Die Tür ging auf, und ein muskulöser junger Mann mit rasiertem Schädel trat ein. Er trug einen Overall. Trotz seiner provokanten äußeren Erscheinung empfand Neela keine Angst. Der Mann lächelte und wandte sich zur Tür.
Als der Aufzug weiter nach oben fuhr, drehte sich der Mann zu Neela um und starrte sie an. Er lächelte immer noch, aber inzwischen wirkte das Lächeln ein wenig gemein. Er umrundete sie langsam, ohne den Blick von ihr zu wenden.
Plötzlich hatte Neela Angst. Sie tastete in ihrer Tasche nach dem Handy.
Unten im Foyer schlug Dermot hektisch auf die Rufknöpfe aller Aufzüge. »Jetzt kommt schon!«, brüllte er die Metalltüren an.
Der Skinhead in Neelas Fahrstuhl beendete seinen Kreis, blieb mit dem Rücken zur Tür stehen und ließ sie nicht aus den Augen. Wieder hielt der Aufzug – diesmal in der zwanzigsten Etage. Die Tür glitt auf. Vier weitere junge Männer – alle in Overalls – standen da. Jeder hatte einen Piercing-Ring irgendwo im Gesicht. Neela stockte der Atem, als alle vier in den Fahrstuhl kamen und sie in eine Ecke drängten. Sie versuchte 911 zu wählen, aber einer der Skinheads – offenbar der Anführer – packte ihr Handgelenk und nahm ihr das Handy weg.
»Was fällt Ihnen ein?«, fragte sie.
Der Mann gab ihr keine Antwort. Er ließ das Handy fallen und zermalmte es unter seinem Stiefel.
Im Parterre öffnete sich die Tür eines Aufzugs; Dermot sprang hinein und drückte auf die Siebenundzwanzig. Die Tür schloss sich quälend langsam. Der Lift fuhr los.
Dermots Aufzug erreichte den zehnten Stock, wurde langsamer und stoppte. Die Tür öffnete sich. Nick stand lächelnd da.
»Hey! Komm rein!«, schrie Dermot. »Wir sind in ein paar Sekunden da. Danke, dass du so schnell hergekommen bist. Du bist ein Lebensretter!«
In diesem Augenblick holte Nick ein Gerät im Format eine Handys aus der Tasche und stieß es gegen Dermots Brust.
Dermot verspürte einen schrecklichen Schmerz und sank zu Boden. Nick betrachtete den Elektroschocker in seiner Hand – er war beeindruckt, wie gut er funktionierte.
»Mann, das war doch was! Was meinst du, Dermot? Ein meisterhaftes Betäubungsgerät in Form eines Mobiltelefons. Achthunderttausend Volt! Wow!«
Nick betrat den Aufzug und lehnte seinen Stock an die Wand, dann steckte er den Sicherheitsschlüssel für den Lift in das kleine Schloss unter dem Schaltbrett. Die Tür schloss sich.
Dermot keuchte vor Schmerz. »Was, zum Teufel, geht hier vor? Lieber Himmel, Nick. Du hast mich gerade elektrisiert oder so was!«
»Ein Elektroschocker, eine Betäubungswaffe«, erklärte Nick. »Komm schon, sei ein Mann, Dermot.«
Er kauerte sich neben Dermot und zog sich eine wollene Skimaske über den Kopf. »Eines muss ich dir lassen, du bist Neela wirklich schnell zu Hilfe geeilt. Gut gemacht, übrigens.«
Dermot musste sich immer noch von dem Stromschlag erholen. »Verdammt, wovon sprichst du? Wo ist Neela?«
»Du willst Neela sehen? Okay, sehen wir uns Neela an.« Nick drückte auf den obersten Etagenknopf. Die Kabine fuhr nach oben.
Neela war mittlerweile in ihrem Fahrstuhl von den fünf Männern umzingelt. Hände tasteten ihren Körper ab, strichen ihr über Brust und Hinterteil, versuchten sich unter Rock oder Bluse zu schieben. In ihrer Verzweiflung konzentrierte sie sich auf die Überwachungskamera und fing an zu schreien. Sofort legte sich eine Hand auf ihren Mund. Gleich danach wurde er mit einem Klebestreifen zugeklebt.
Als Dermots Kabine die von Neela überholte, konnte er sie sehen. Nur für ein paar Sekunden waren ihre Gesichter nur einen knappen Meter voneinander entfernt. Neela erhaschte einen sehr flüchtigen Blick auf ihren Mann. Sie blinzelte, versuchte sich auf den Punkt zu konzentrieren, aber es war zu spät … Konnte das Dermot gewesen sein? Zusammengesunken vor den Füßen eines Mannes in Nike-Jogginganzug und Skimaske?
Als Dermot begriff, was mit seiner Frau geschah, zerriss es ihm das Herz. Plötzlich aktivierte er ungeahnte Kräfte. Mit einem Schrei stürzte er sich auf Nick.
Sie kämpften um den Schocker, aber Dermot war Nick nicht gewachsen.
Auch Neela entwickelte neue Kraft. Sie schlug dem Anführer der Skinheads ins Gesicht, so fest sie konnte, und schrie aus Leibeskräften: »Fuckyou!«
Der Kopf des Mannes schnellte nach hinten, ansonsten hatte der Hieb nicht mehr Wirkung als Wasser, das vom Gefieder einer Ente perlt. Der Mann grinste lüstern und bedeckte ihre Brüste mit den Händen. »Ganz ruhig, Miststück. Ich will ja nur ein bisschen Spaß haben.«
Der Skinhead legte den Schalter für die Weiterfahrt um, und die Kabine fuhr ein kleines Stück, dann blieb sie wieder stehen, und die Tür öffnete sich.
Zu Neelas Überraschung und großer Erleichterung stiegen alle Männer bis auf den Anführer aus. Er sah sie an und grinste. »Übrigens, die Praxis ist geschlossen – sieht fast so aus, als hättest du deinen Termin versäumt. Versuchst du’s morgen noch mal?«
Der muskulöse Kerl riss ihr das Klebeband vom Mund und hielt den Lift erneut an. Die Tür ging auf, er stieg aus, und die Tür glitt wieder zu.
Als der Lift nach unten fuhr, sank Neela gegen die gläserne Wand. Sie war vollkommen fertig und in Schweiß gebadet. Sie war ungeschoren davongekommen. Aber warum? Was hatte das alles zu bedeuten? Sie musste Dermot finden.
Dermots Aufzug erreichte das Dach, die Tür ging auf, und die beiden rangelnden Männer wälzten sich heraus. Nicks Elektroschocker fiel auf den Beton.
Die Männer lösten sich voneinander und kamen mühsam auf die Füße, dann umkreisten sie sich wie Schakale.
»Für einen Krüppel halte ich mich ganz wacker, wie?«
Bis zu diesem Augenblick war Dermot gar nicht aufgefallen, dass Nick ohne Stock beweglich war wie ein Zirkusakrobat.
»Der Stock? Ich habe ihn nie gebraucht. Die zweite Operation war ein voller Erfolg, aber ich brauchte den Stock als Requisite. Ein Krüppel kann doch nicht für so viele spektakuläre Morde verantwortlich sein, oder? Ein Killer muss agil sein. Das stimmt doch, oder?«
»Wo ist Neela?« Dermot fühlte sich immer noch extrem schwach, aber ihm war klar, dass er kaum Chancen hatte, es sei denn, er spielte auf Zeit, und Nick gestattete ihm eine Erholungspause.
»Oh, Neela geht’s gut. Ihr wird nichts passieren, dafür habe ich gesorgt. Du scheinst zu vergessen, dass ich Neela mag. Genau genommen habe ich sie immer schon geliebt. Wäre Giselle nicht gewesen …« Er verstummte für einen kurzen Moment. »Sobald du von der Bildfläche verschwunden bist und sie sich von dir im Stich gelassen fühlt, werde ich sie geschickt umwerben; sie wird mein sein – wie Giselle an diesem einen Abend vor langer Zeit die Deine war.«
Dermot schwang seine Rechte, aber die Faust streifte nur Nicks Kiefer.
»Das ist die richtige Einstellung, Dermot. Großartig! Du musst kämpfen, denn dies ist die letzte Chance, die du jemals haben wirst.«
Dermot machte einen Satz – diesmal wollte er sich den Elektroschocker greifen, aber Nick packte sein Bein, und er stürzte schwer. Dann nahm Nick die Waffe, steckte sie in die Hosentasche und förderte ein anderes Gerät zutage. »Es dauert zu lange, diese Geräte aufzuladen, deshalb ist es immer besser, man hat ein zweites dabei.«
Nick drängte Dermot zu der Stützmauer am Rand des Daches und drückte ihn so weit nach hinten, dass sein Oberkörper über dem Abgrund hing – die Straße war weit, weit unter ihm.»Eines muss ich dir lassen«, raunte Nick in Dermots Ohr, »du hast Mut bewiesen, als du deinen Namen für diesen Schund hergegeben hast. Ihr Schriftsteller habt eine phantastisch verdrehte Eitelkeit.«
Dermots Augen fixierten Nick.
»Anscheinend bin ich ein Naturtalent«, fuhr Nick fort. »Wir haben einen Bestseller geschrieben – gemeinsam!«
Dermot unternahm einen letzten Versuch, sich zur Wehr zu setzen, aber Nick stieß ihm mit einem Finger in die Kehle und elektrisierte ihn noch einmal mit dem zweiten Schocker. Dermot zuckte gute fünf Sekunden, dann lag er ganz still da.
»Genug mit dem beschissenen Kampf«, sagte Nick, der drohend neben seinem Opfer stand.
Dermot bekam kaum Luft, wusste jedoch, dass er Nick beschäftigen musste.
»All die unschuldigen Menschen, Nick«, sagte er. »Wie konntest du das tun?«
Nick ging in die Hocke. »Unschuldig?«, wiederholte er ungläubig. »Unschuldig?« Er schob die Hände unter Dermots Achseln, hob ihn an und lehnte ihn an die Stützmauer. Das Spiel war vorbei. Jetzt war Nick todernst. Er verstellte die Stimme und sagte heiser: »›Meine Absicht war, Leid über andere zu bringen, und zwar im selben Maße, wie ich es erdulden musste.‹ Gefällt dir der Akzent? Unheimlich, oder?« Er setzte sich im Schneidersitz vor Dermot. »›Leid bringt Erlösung. Kein Mensch weiß, was echte Qualen sind, wenn er nie einen wahren Verlust erlitten hat.‹« Er hielt inne und sprach mit seiner normalen Stimme weiter: »Und ich habe gelitten, Dermot. Und wie ich gelitten habe! Du hast ja keine Ahnung.«
Dermot konnte sich nicht rühren, und er brachte nur ein Wort heraus: »Warum?«
Nick holte tief Luft. »Giselle und ich erwarteten niemals Komplikationen bei der Geburt der Zwillinge. Warum hätten wir damit rechnen sollen? Wir waren überzeugt, dass alles ganz normal verlaufen würde.« Er überblickte die Stadt in Richtung Long Beach, während die letzten Strahlen der Sonne hinter dem Horizont versanken. »Als die Fruchtblase zu früh platzte, wussten wir, dass wir uns beeilen müssen. Aber richtig ernst war das nicht. Ein paar Minuten hin oder her – um mehr ging es nicht. An das Schlimmste dachten wir überhaupt nicht. Trotzdem fuhr ich, so schnell ich konnte, zur Klinik. Ich legte sie auf den Rücksitz und machte es ihr so bequem wie möglich. Sie strahlte richtig. Ich sehe sie noch vor mir; natürlich hatte sie Schmerzen, aber sie war glücklich und verließ sich darauf, dass ich auf sie und unsere Babys aufpassen würde.«
Er schwieg. Dermot hörte nur den Wind, bis Nick fortfuhr: »Wir hätten es schaffen können, weißt du. Wir hätten rechtzeitig dort sein können, wenn dieser Taxifahrer mit Namen Abel Conway nicht gewesen wäre.« Nick suchte Dermots Blick. »Er fuhr über eine rote Ampel. Einfach so. Er war ein Idiot. Conway fuhr bei Rot über die Kreuzung, und ich musste ihm ausweichen. Ein Range Rover rammte uns.«
Dermot versuchte, den Mund zu öffnen, doch es gelang ihm nicht.
»Ich wünschte, wir wären beide an Ort und Stelle gestorben. Weil Conway eine Kettenreaktion angestoßen hatte, die unvorstellbar grausam war.«
Dermots Lippen teilten sich – er wollte unbedingt etwas sagen.
Nick, der tief in seine eigenen Erinnerungen versunken war, ignorierte ihn jedoch. »Zwanzig Minuten! Ist es zu glauben? Zwanzig Minuten. So lange hat der Notarztwagen gebraucht, um zu uns zu kommen. Ich hätte Giselle auf dem Rücken in die Klinik tragen können und wäre schneller gewesen. Aber woher sollte ich das wissen? Es war wichtiger, sie ruhig zu halten. Sie verlor so viel Blut.« Nick starrte blicklos auf den Sonnenuntergang und rief sich die schrecklichen Momente ins Gedächtnis. »Als der Krankenwagen da war, schrie ich die Sanitäter an: ›Bewegt euch! Schafft sie in den Wagen! Bringt sie in die Notaufnahme! Sie stirbt!«« Er sah Dermot an. »Aber der junge Typ sagte zu mir, ich solle still sein, er habe alles unter Kontrolle.« Nick stand auf und streckte die Beine. »Aus Giselle sickerte das Leben, während der arrogante Schnösel den George Clooney in einer Arztserie spielte.« Nick lächelte Dermot an. »Errätst du’s?«
Dermot brachte den Namen heraus. »Derek Klein?«
»Er hat für seine Überheblichkeit bezahlt.« Nick zwinkerte Dermot zu. »Du hast mich eine Weile ganz schön auf Trab gehalten, Dermot. Manchmal musste ich mich wirklich beeilen. Aber mit einem Motorrad ist man immer schneller im Verkehr. Um ein Haar hättest du den Bastard gerettet. Aber sein Tod war vorherbestimmt – es erging ihm genau wie denen, die meine Babys auf dem Gewissen haben.« Nick fasste in die Tasche und holte eine Spritze heraus. »Wir wollen keine Handgreiflichkeiten mehr. Es ist besser, du entspannst dich ein wenig. Hier können wir sowieso nicht länger bleiben. Neela wird sicherlich Leute herbringen, die dich suchen sollen. Ich glaube, sie hat dich gesehen. So war es zumindest gedacht. Wir sind schon zehn Minuten hier, und ich habe einen Termin.« Er spritzte Dermot Succinylcholin und redete dabei weiter: »Giselle war verblutet, noch ehe wir in die Notaufnahme kamen. Und als ob ihr Tod nicht schon schlimm genug gewesen wäre, wartete noch mehr Leid auf mich. Unvorstellbares Leid. Es war so niederschmetternd, dass ich den Kontakt zur Menschheit verloren habe. Ich wurde zu einem Ungeheuer-zu dem Monster, das ich heute bin.«
Nick brach die Nadel von der Spritze und steckte die Einzelteile in die Tasche.
»Die Zwillinge kamen lebend auf die Welt. Eine ungeheuere Leistung der Gynäkologin. Natürlich waren es Frühchen. Ich beobachtete, wie sie einige Tage und Nächte um ihr Leben kämpften. Und sie haben überlebt! So unglaublich es auch erscheinen mag, diese winzigen Menschlein haben überlebt. Sie legten sogar an Gewicht zu.«
Dermot wusste, was jetzt kam. Der Brand. Die finale Katastrophe.
»Eine Krankenschwester namens Lucy Cowley hatte in jener Nacht Dienst.« Nick sah, dass Dermots Lippen zuckten. »Sie hatte etliche Gläser mit Ammoniak auf einem Wagen und war auf dem Weg in die Abstellkammer. Aber sie war so sehr mit ihrem verdammten Handy beschäftigt, dass sie nicht aufpasste, wohin sie ging. Der Wagen stieß gegen die Wand, und ein Ammoniak-Glas fiel und zerbrach.«
»Aber du hast sie umgebracht …« Mehr brachte Dermot nicht heraus.
»Ja. Es war ihre Schuld, dass dort Ammoniak war, das sich entzünden konnte. Aber nicht das Ammoniak hat meine Lieblinge getötet. Es war das Feuer. Ein nachlässiger Idiot hat sich in die Abstellkammer geschlichen, um dort eine Zigarette zu rauchen. Das Resultat? Whoooshl Und rate mal, wer dieser Idiot war. Richtig. Der Dummkopf von Sicherheitsmann Bruce Major. Er hat die Zwillinge auf dem Gewissen.« Tränen traten in Nicks Augen. »Das Feuer breitete sich in der Neugeborenenstation aus, wo meine beiden Kinder schliefen.« Sein Gesicht drückte die reine Verzweiflung aus.
Mit schier übermenschlicher Anstrengung gelang es Dermot, ein paar Worte zu sprechen. »Phoebe Blasé. Warum sie? Was hat sie gemacht?«
»Na ja, ich musste einige andere auswählen, verstehst du? Unschuldige Menschen, damit man die Verbindung nicht sofort aufdeckt. Manchmal kann die Polizei nämlich ganz schön clever sein. Phoebe Blasés Tod sollte dir einen zusätzlichen Schrecken einjagen. Aber genau da liegt der Hase im Pfeffer. Während ich immer wieder mordete, wurde ich mir einer bis dahin unbekannten dunklen Seite meines Wesens bewusst. Ich fand es ungeheuer aufregend, Richter über Leben und Tod zu sein.« Er lächelte betrübt. »Möglicherweise haben die Erlebnisse im Irakkrieg einen primitiven Charakterzug in mir zum Leben erweckt. Ich weiß es nicht genau. Als Soldat fand ich anfangs das wahllose Gemetzel abscheulich. Nach wenigen Wochen aber tötete ich ohne Hemmungen und staunte selbst über meine Blutgier. Als ich nach Hause zurückkehrte, hatte ich eine gespaltene Persönlichkeit. Ich konnte von Gut zu Böse umschalten, wann immer ich wollte.«
Dermot konnte allmählich wieder normal sprechen, aber seine Glieder waren immer noch betäubt.
»Willst du mich im Gefängnis sterben sehen?«, fragte er.
Nick sah ihn erstaunt an. »O nein! Ganz bestimmt nicht! Meine Güte, wie begriffsstutzig du heute bist! Ich war derjenige, der die Hinweise, die dir die Freiheit gebracht haben, geliefert hat. Alle Beweise kamen auf die eine oder andere Art von mir. Dann erleichterte mir Detective Kandinski die Sache, indem er fünf der Opfer in Verbindung bringen konnte; der gemeinsame Nenner war die Klinik, in der Giselle starb und die Zwillinge verbrannten.«
Dermot wusste, dass er nur eine Chance hatte. Er musste dafür sorgen, dass Nick weiter redete, bis Neela Hilfe bringen konnte. »Wie hast du Arnold getötet? Du warst doch bei mir, als er anrief.«
»Ah! Ja, das war ich. Das heißt, ich war bei dir bis zu der Sekunde, in der du das Haus verlassen hast. Dann setzte ich mich auf mein Motorrad. Ich war schneller als du auf all den Nebenstraßen und Abkürzungen. Das hat ausgezeichnet funktioniert.«
»Aber wie konnte Arnold …?« Die Anstrengung war fast zu viel für Dermot.
»Du willst wissen, wie ein Zurückgebliebener zusammenhängende Sätze formulieren kann? Ich musste ihn viele Stunden unterrichten, Dermot. Tage. Ja, Wochen. Und ich hielt ihn mit jeder Menge Bier bei Laune. Wir wurden fast Freunde. Für ihn war ich eine Art Vaterfigur. Diese heisere Stimme war eigentlich seine – ich habe sie nachgeahmt. Wir verbrachten Stunden miteinander und tranken zusammen. Er las die Sätze ab, die ich für ihn geschrieben hatte. Ich trug ihm auf, dass er die Worte ganz unten auf der Seite vorlesen solle, wenn du ihm eine Frage stellst, die er nicht versteht. Es ist wirklich erstaunlich, was man von einem Obdachlosen mit leerem Magen verlangen kann. Ich war sozusagen sein Retter, verstehst du? Er konnte nicht schreiben, nur einigermaßen gut lesen – gut für einen Zehnjährigen, meine ich. Ich musste alles in Druckbuchstaben schreiben. Er hat seine Aufgaben wunderbar erledigt. Er hat sogar ganz artig auf mich auf dem Dach der People’s Bank gewartet. Er rechnete mit einem Kasten Bier – wie gewöhnlich. Aber stattdessen belohnte ich ihn mit der Ewigkeit.« Nick lachte. Dann sah er auf seine Uhr. »Genug geplaudert. Wir müssen los, bevor Neela mit der Kavallerie anrückt.«
Er schleppte Dermot zurück in den Aufzug und stellte mit dem Schlüssel, den er vorher dem Hausmeister gestohlen hatte, sicher, dass niemand den Lift rufen konnte. Nach zwei Minuten waren sie in der Tiefgarage. Nick trug Dermot zu einem Peugeot 207- schwarz mit getönten Scheiben. Er legte seine Geisel neben dem Auto ab.
»Ein hübsches Auto, nicht? Dies ist mein Zweitwagen. Es gibt so wenige schöne Autos.« Wieder lachte er. Es war kaum zu übersehen, dass er sich köstlich amüsierte. »Natürlich! Das hätte ich fast vergessen – du fährst ja auch dieses Modell. Sehr praktisch; so konnte ich dafür sorgen, dass du in der Nähe der Tatorte gesehen wurdest.«
Nick öffnete den Kofferraum und hob Dermot hinein, ohne sich um scharfe Kanten zu kümmern.
»Eines muss ich dir noch erzählen. Ich beabsichtige, weiterhin das zu tun, was mir so viel Freude bereitet. Ich fürchte, ich bin regelrecht süchtig nach dem Tod. Nenn es Besessenheit, wenn du willst. Ich liebe es, die Menschen auf meine besonders unterhaltsame Art von ihren schlimmsten Albträumen zu befreien. Aber ich möchte in meiner Schlechtigkeit noch einen Schritt weiter gehen. Überleg mal – was könnte faszinierender oder eine größere Herausforderung sein, als die eine Person zu töten, die ich liebe? Jemanden, der mir sein Leben anvertraut?«
Nick neigte sich über Dermot, weil er auf seine Reaktion neugierig war. Dermots Augen sprühten Funken.
»So ist es gut. Du hast es verstanden.«
Vorsichtshalber klebte Nick seiner Geisel den Mund zu, für den Fall, dass sie genügend Energie für einen Schrei aufbringen sollte. Selbstverständlich war das kaum möglich. Mittlerweile wusste Nick, wie man Sux dosierte.
Nick fuhr zu einem Lagerhaus in Inglewood. Er hatte die Räumlichkeiten schon vor Monaten angemietet. In einer Ecke gab es eine Kochstelle, eine Toilette und Waschgelegenheit in einer anderen und zudem einen kleinen Raum, den Nick schalldicht isoliert und mit Schlössern und Riegeln abgesichert hatte.
Dermot wurde in dem Raum an die Wand gekettet, und Nick führte seinen Monolog fort. Er genoss den Moment der Rache.
»So – hast du noch Fragen, die ich für dich klären kann, Dermot? Tu dir keinen Zwang an – du wirst hier einige Zeit verbringen. Ich muss mich um eine passendere Bleibe kümmern, die nicht so weit weg von zu Hause liegt.«
Dermot starrte den Mann an, den er so viele Jahr als Freund angesehen hatte. Das Ted-Bundy-Prinzip gab es also doch. Er hätte nie gedacht, dass Nick auch nur einer Menschenseele etwas antun könnte.
»Warum ich?«, wollte Dermot wissen. »Was habe ich dir angetan?«
Nick blieb einige Zeit still, dann sagte er: »Ist das dein Ernst, Dermot? Denkst nach all den Jahren immer noch, dass du dieses Spiel mit mir treiben kannst? Du bist ein Schriftsteller. Du solltest wissen, wann eine Geschichte beginnt und mit wem sie endet. Die Antwort auf beide Fragen lautet: mit dir.«
Dermot runzelte die Stirn und versuchte, einen Sinn in Nicks Worten zu finden. War es möglich, dass dieser ganze Wahnsinn das Ergebnis einer schwachen Stunde war, in der er und Giselle, berauscht von momentaner Leidenschaft, miteinander geschlafen hatten? Das konnte doch nicht sein!
»Du weißt es, Dermot, stimmt’s? Ich sehe es dir an.«
Dermot schloss die Augen, als wollte er die Erinnerung ausschließen. Aber das ging nicht. Im Bruchteil einer Sekunde war er wieder im Haus seines Verlegers – die korrigierten Druckfahnen lagen auf dem Tisch neben einer leeren Flasche Rotwein, und er und Giselle umarmten sich.
»Dies sollte nicht …«, hatte er gesagt.
Aber Giselle hatte ihn nur noch fester an sich gedrückt. »Ich weiß. Dies darf nicht noch mal passieren«, bemerkte sie, als sie den Rock anhob. »Nie wieder.«
An diesem Abend schliefen sie miteinander, und es blieb das einzige Mal. Sie erwähnten den Vorfall nie, weil es für beide zu schmerzlich war, zwei Menschen gleichzeitig zu lieben.
»Es war ein einziger schwacher Moment. Neela hat nie davon erfahren«, stammelte Dermot.
»Und ich werde ihr nicht davon erzählen. Warum sollte ich sie für dein Vergehen bestrafen? Aber ich werde mit ihr das machen, was du mit Giselle getan hast. Das ist nur fair.«
Nick stellte sich unter ein hohes Fenster. »Ich nehme an, du möchtest wissen, wie ich es herausgefunden habe.«
»Giselle hat es dir bestimmt nicht erzählt.«
»Selbstverständlich nicht. Es war die DNA. Der Autopsiebericht nach dem grausamen Tod meiner Babys verriet mir, dass ich nicht ihr leiblicher Vater war.« Er bedachte Dermot mit einem hasserfüllten Blick. »Meine Frau ist gestorben. Meine Kinder sind bei einem Brand ums Leben gekommen, und dann erfuhr ich, dass mein ältester und engster Freund mit meiner Frau geschlafen hatte, nur weil er eines Tages scharf auf sie war. Du hattest dich entschieden, mit deiner eigenen Frau noch keine Kinder zu bekommen, aber bei meiner hast du nicht aufgepasst und ihr gleich Zwillinge gemacht!« Er legte eine Pause ein, dann redete er ganz langsam und betont: »Du kommst in meinem schlimmsten Albtraum vor. Also werde ich dich in deinem besuchen.«