Kapitel 18

Nach einigen Stunden weckte ihn eine Pfote, die seine Wange berührte. Es war schon nach zehn – er hatte den schönsten Teil des Tages verschlafen. Zwanzig Minuten später waren er und Scarecrow unterwegs. Der Regen hatte aufgehört, aber ein Blick in den Himmel sagte ihm, dass dies nur die Ruhe vor dem nächsten Sturm war.

Das Tagebuch lag aufgeschlagen bei dem Kapitel »Der Nichtschwimmer« auf seinem Schoß. Er glaubte zu wissen, wie er fahren musste. Nach etwa einer Stunde war jedoch klar, dass er irgendwo falsch abgebogen war und ein Stück zurück musste. Wieder verschwendete Zeit. Nach weiteren anderthalb Stunden veränderte sich die Landschaft; die Umgebung sah aus wie eine Wüste. Dermot zog die Meilen seiner vergeblichen Extratour vom Tachometerstand ab, um zu überprüfen, ob er noch auf Kurs war.

Hier gab es kaum Bäume; nur ein paar niedrige Büsche und Gestrüpp. Gelegentlich trieb der immer kräftiger werdende Wind getrocknetes Gras über die Straße. Die Szenerie erinnerte an einen drittklassigen Western.

Dermot nahm den Fuß vom Gas, als der Meilenstand auf 132 umsprang, und blieb stehen, um die Wegbeschreibung aus dem Tagebuch nachzulesen und die Landkarte zu Rate zu ziehen. Er sah, dass er bis zu der Abzweigung nach links noch ungefähr eine Meile weit fahren musste. Bei Meile 133 führte tatsächlich ein Feldweg nach links ab. Wenn man nicht speziell danach Ausschau hielt, könnte man ihn leicht übersehen. Doch es war alles so, wie Arnold beschrieben hatte.

Dermot bog ab und rollte langsam den Weg entlang.

Zwei Komma drei Meilen.

Halten Sie nach dem Farmhaus zur Rechten Ausschau, noch etwas weiter rechts steht ein Wasserturm. Man kann ihn gar nicht verfehlen.

Es dauerte zwölf Minuten, als Dermot das Farmhaus erreichte. Bei genauerer Betrachtung sah es aus, als gäbe es keine Haustür mehr. Er stieg – ohne Scarecrow – aus und ging um das Gebäude. Nicht nur die Tür, sondern auch die Fensterrahmen fehlten – das Haus war baufällig.

Schließlich öffnete er die Beifahrertür für Scarecrow, aber der Hund wollte nicht aussteigen; stattdessen verzog er sich in den Fußraum vor dem Rücksitz und rollte sich dort zusammen.

»Willst du nicht aussteigen und pinkeln, Scary? Du musst eine riesengroße Blase haben.«

Ein Stück weiter befand sich an der Stelle, die Arnold angegeben hatte, ein Wasserturm. Er ragte drohend wie ein finsterer Krieg der Welten-Roboter in den Himmel. Die Metallpfeiler und Streben schienen noch einigermaßen intakt zu sein: Man sah nur ein klein wenig Rost, ganz wie man es erwarten konnte. Sie trugen leicht das Gewicht. Eine Metallleiter führte ihn bis ganz nach oben. Gerade als Dermot den Kopf über den Rand des Wasserturms reckte, brach ein lauter Donner direkt über ihm los. Er erschrak so sehr, dass er beinahe von der Leiter gefallen wäre.

Er spähte ins Wasser, das sich in dem Tank angesammelt hatte. Der Wasserspiegel lag etwa zwei Meter tiefer. Eine Holzplanke, die keine praktische Funktion zu haben schien, führte quer von einer Seite des Tanks zu anderen. Alles war so, wie es in Arnolds Tagebuch stand. Dermot sah die Ketten in der Mitte der Holzplanke. Könnte das Arnold auf die Idee von dem Nichtschwimmer gebracht haben? Bei genauerem Hinsehen entdeckte Dermot, dass ein Stück Papier neben den Ketten an die Planke geheftet war.

Dermot strengte seine Augen an, aber der Zettel war zu weit weg. Er sah lediglich, dass handgeschriebene Worte auf dem Papier standen. Doch welche? Er musste wissen, was dort stand.

Es war nicht leicht, aber er rutschte vorsichtig vom Rand des Tanks und legte den Oberkörper auf die Planke. Sie war gute fünf Zentimeter stark und mehr als fünfzehn Zentimeter breit, und das Holz sah ordentlich aus.

Er kroch ein Stückchen weiter, gerade als der Himmel alle Schleusen öffnete und ein monsunartiger Regen einsetzte. Tropfen, so dick wie Trauben, prasselten auf ihn nieder. Seine Kleider waren innerhalb weniger Sekunden durchweicht. Dennoch rückte er Stück für Stück, jedoch mit extremer Vorsicht, weiter vor – das Letzte, was ihm jetzt noch fehlte, war ein Sturz in diese abgestandene Brühe unter ihm.

Er war nur noch eine Armlänge von dem Papier entfernt, als er das Holz zum ersten Mal ächzen hörte. Er erstarrte und atmete so flach wie möglich. Geh zurück.’, schrie sein Verstand. Aber das konnte er nicht – noch nicht.

Nach zwanzig Sekunden war er nahe genug. Entsetzt erkannte er Arnolds kindliche Schrift … Sein Mund wurde plötzlich staubtrocken, als er die Nachricht las: Mr. Nolan, ich dachte nicht, dass Sie es so weit schaffen. Aber da es Ihnen doch gelungen ist, sollten Sie sich den Schnitt gleich hinter diesem Zettel ansehen. Arnold.

Wie betäubt vor Angst konzentrierte sich Dermot auf die angegebene Stelle. Dort war die Planke zu drei Vierteln angesägt. Sein Herz pochte so heftig, dass die Planke anfing zu vibrieren.

Dann hörte er den scharfen Knall, als das Holz brach. Er fiel … Ihm blieb gerade noch genug Zeit, die Hand auszustrecken, um nach dem Rand des Tanks zu greifen. Ohne Erfolg. Seine Mühen wurden nur mit einer Risswunde an der linken Hand belohnt. Er tauchte fast waagerecht in das zehn Fuß tiefe Wasser ein. Unter der glatten Oberfläche war die Brühe dickflüssig wie Abwasser.

Der Kälteschock und die instinktive Angst vor dem Ertrinken raubten ihm die Sinne. Dermot ruderte mit Armen und Beinen und versuchte zu ergründen, ob es einen Weg aus dem Tank gab. Während des Sturzes hatte er Augen und Mund geschlossen gehalten, doch das faulige Wasser bahnte sich einen Weg in seine Nasenlöcher, als er versuchte, sich an die Oberfläche zu kämpfen. Er hatte Mühe, sich zu orientieren, und griff nach allen möglichen Dingen, die in dem Tank herumschwammen – halb verrottete Äste, tote Vögel und Nagetiere. Die Panik zog ihn nur noch tiefer in den Morast.

In seiner Verzweiflung öffnete er die Augen – er musste sehen, wo er war, um auftauchen und Atem schöpfen zu können.

In dem Moment sah er den Kopf.

Er dümpelte nur wenige Zentimeter vor seinem eigenen durchs Wasser. Die verfaulten Augäpfel schienen Dermot direkt anzustarren.

Dermot riss den Mund auf, um einen Angstschrei auszustoßen – eine verständliche, aber kaum kluge Reaktion.

Er schlug mit der unverletzten Hand nach dem Kopf und trat heftig nach oben. Nach drei Stößen mit den kräftigen Beinen gelangte er endlich an die Oberfläche. Er schnappte nach Luft, würgte und übergab sich gleichzeitig. Noch immer regnete es in Strömen. Der Windmühlenmechanismus pumpte jede Menge Wasser aus dem Auffangbecken in den Tank, und der Wasserspiegel war bereits merklich angestiegen. Das hieß, Dermot konnte den oberen Rand des Tanks besser erreichen.

Er umfasste mit beiden Händen die Kante und zog sich neben der Metalleiter hoch.

Der Himmel war pechschwarz. Blitze zuckten alle paar Sekunden auf, und der ohrenbetäubende Donner folgte beinahe sofort. Das Gewitter war direkt über Dermot, der Wind heulte unheilvoll. Und der Regen? Inzwischen ergoss sich eine regelrechte Wasserwand über ihn.

Behutsam setzte er den Fuß auf die erste Leitersprosse; seine Hände waren wie erfroren. Er klammerte sich wie ein Wahnsinniger an das Geländer. In der Ferne hörte er Scarecrow heulen.

Er kletterte die Leiter hinunter, rannte zu seinem Peugeot, sprang hinein und startete den Motor. Dann wendete er und trat aufs Gas.

Als er das verlassene Farmhaus passierte, nahm er aus den Augenwinkeln einen anderen schwarzen Peugeot 207 wahr – einen, der genauso aussah wie seiner. Das Zwillingsauto stand vor der Haustür. Die Nerven in seinem Rückgrat explodierten, als ob ihn gerade der Blitz getroffen hätte.

Als er den Highway erreichte, nahm er sein Mobiltelefon zur Hand. »Das reicht, Scary«, sagte er im Flüsterton mehr zu sich selbst als zu dem Hund. »Ich werde mir nicht noch mehr von Arnolds Scheiße antun! Auf gar keinen Fall! Ich rufe die Cops, sobald ich nach Hause komme.«

Erst dann merkte er, dass das Wasser aus seinem Nokia-Handy tropfte.

Scheiße, Scheiße, Scheiße!

Frustriert warf er das kaputte Telefon auf den Rücksitz, legte den Gang ein und raste davon.

Der Regen wurde fast waagerecht gegen seine Windschutzscheibe gepeitscht, als er endlich auf den Linley Place abbog. Dermot hatte fast drei Stunden hinter dem Steuer gesessen, und seine Kleider waren trotz der Autoheizung immer noch nass und stanken bestialisch.

Etliche Blocks rund um den Pershing Square herrschte Stromausfall; Notfallteams liefen herum und versuchten, den Schaden zu beheben. Die Ampeln waren ausgeschaltet, und in den Häusern rund um das seine brannte kein Licht.

Er parkte, klemmte sich Scarecrow unter den Arm, rannte zur Haustür und öffnete sie. Als er sich umdrehte, um die Tür hinter sich zu schließen, erhaschte er einen kurzen Blick auf einen schwarzen Peugeot 207, der gerade vorbeifuhr. Der Verkehr auf dem Freeway war auf den letzten fünfzehn Meilen nur sehr stockend vorangekommen. Dermot schlug die Haustür zu und tapste in die Küche, wo er Scarecrow auf den Boden stellte. Dann zündete er ein paar Kerzen und eine Paraffinlampe an. Im Kühlschrank gab es nichts, was einem Cairn-Terrier, der etwas auf sich hielt, schmecken würde, deshalb füllte Dermot eine Schüssel mit Cheesecakes Trockenfutter. Scarecrow inhalierte das Katzenfutter förmlich und zog sich anschießend gehorsam auf den Teppich zurück, den Dermot in die Ecke in der Küche gelegt hatte. Danach ging Dermot leise nach oben, duschte im Gästebad und verarztete seine verletzte Hand mit einem Pflaster. Schließlich schlich er ins Schlafzimmer. Obwohl es noch nicht spät war, schlief Neela bereits. Vielleicht hatte sie wieder einen ihrer Migräneanfälle gehabt. Dermot schlüpfte äußerst behutsam neben ihr ins Bett. In weniger als einer Minute schlief er tief und fest.