Kapitel 28
Dermot gab etwas in die Google-Suchmaschine ein. Sekunden später erhielt er dieselbe Nachricht, die er schon kannte. Sorry, keine Informationen verfügbar für URL www.worstnightmares.net. Hatte Arnold die Site vor seinem Selbstmord geschlossen? Vermutlich. Dermot nahm sich vor, die Website regelmäßig zu prüfen, um ganz sicherzugehen. Plötzlich kam ihm ein Gedanke, und er rief Neela auf dem Handy an.
»Neela? Wie lässt man einen Website-Namen registrieren? Ich frage mich, ob wir auf diesem Weg Arnolds Identität entschlüsseln können.«
Neelas Ton verriet, dass er damit nur seine Zeit vergeudete. »Du meinst einen Domain-Namen.«
»Ja, wahrscheinlich.«
»Ich bezweifle stark, dass er seine Identität so ohne weiteres für alle preisgibt. Aber einen Versuch ist es wert. Versuchs bei Register.com – sie handeln mit Domain-Namen und können dir sagen, ob der Name noch aufgelistet ist. Ob sie dir allerdings verraten, wer ihn registrieren ließ, ist eine ganz andere Sache.«
»Danke, Neela.«
Er rief die auf der Site angegebene Nummer vom Register an und erkundigte sich bei einem Angestellten, wie man herausfinden konnte, wer einen Domain-Namen ins Register eingegeben hatte. Der Angestellte namens Andy riet ihm, es auf einer Website mit dem Titel WHOIS zu versuchen. »Das würde ich machen«, meinte Andy. »Wenn er allerdings für eine private Domain bezahlt hat, gibt es eine private Datei, die leider nicht für die breite Öffentlichkeit zugänglich ist. Ich nehme an, das FBI und die Polizei könnten dem auf den Grund gehen. Ansonsten …«
Dermot hatte nicht die geringste Ahnung, wovon der Typ redete, bedankte sich aber trotzdem. Dann tippte er »worstnightmares.net« in WHOIS ein. Kurze Zeit später sah er: THE DOMAIN EXTENSION YOU HAVE ENTERED IS NOT SUPPORTED. Was das zu bedeuten hatte, wusste Dermot auch nicht. Er würde Neela fragen müssen – sie war der größere Computerfreak.
Er nahm Arnolds Tagebuch zur Hand und studierte das handgeschriebene Titelblatt. Dann streifte er die Klammern ab, breitete die Seiten neben der Computertastatur aus und las den Prolog noch einmal ganz langsam durch: Meine Absicht war; Leid über andere zu bringen, und zwar im selben Maße, wie ich es erdulden musste. Für alle, die mit Mühsal beladen sind, kommt die Erlösung. Leid bringt Erlösung. Kein Mensch weiß, was echte Qualen sind, wenn er nie einen wahren Verlust erlitten hat.
Dermot schloss die Augen. So ein Müll. Dennoch erregten die Sätze Aufmerksamkeit. Er fing an zu tippen.
Nach einer Stunde schrillte die Türglocke. Dermot atmete unwillkürlich auf – jetzt hatte er einen guten Grund, aufzuhören.
Es war Nick. »Ich bin gerade auf dem Weg zu Sotheby’s und dachte, ich schaue herein, um dich zu fragen, ob du eine Pause bei dem, was du gerade tust, einlegen willst.« Er strahlte vergnügt. »Hast du Lust auf einen Kaffee?«
Nick und Dermot gingen zu Bill’s Corner Place, wo Dermot einen Kaffee und Nick Pfannkuchen mit Banane und Honigwaffeln bestellte.
»Meiner Meinung nach hast du die richtige Entscheidung getroffen, Dermot«, sagte Nick und schob sich eine Gabel voll Pfannkuchen in den Mund. »Ich weiß, dich treibt es in den Wahnsinn, dass Esther dir ständig in den Ohren liegt und etwas von dir lesen will, und die Geldsorgen machen die Sache auch nicht besser. Wer weiß? Während du dieses Ding umschreibst, fällt dir vielleicht was ähnlich Gutes ein. Das wäre wundervoll.«
Ein guter Gedanke. Definitiv. Aber die Wahrscheinlichkeit, dass Arnolds Machwerk eine ähnlich originelle Idee hervorbringen könnte, war nicht sehr groß. Nichtsdestotrotz lächelte Dermot, ehe er die Kaffeetasse an die Lippen setzte.
»Nick, dir ist doch klar, dass es absolut unter uns bleiben muss, wenn ich das Tagebuch umschreibe.«
»Natürlich. Das habe ich verstanden«, erwiderte Nick. »Das brauchst du mir nicht extra zu sagen.«
Dermot wurde verlegen.
»Ich vermute, dass sich dein Manuskript so erheblich vom Original unterscheiden wird, dass nicht einmal ich irgendwelche Ähnlichkeiten erkenne«, versicherte Nick. »Das ist die Macht deines Talents. Wir müssen es nur wiederbeleben. Es hat praktisch ein Jahr im Koma gelegen, stimmt’s?«
Nick gab der Serviererin ein Zeichen. »Noch zwei Kaffee. Dasselbe wie vorhin.«
»Hast du überlegt, ob du Details des Plots verändern willst?«, fragte Nick.
»Natürlich. Wieso fragst du?«
»Na ja, ich hab auf dem Weg hierher über ein paar Ideen nachgegrübelt. Mir sind einige Sachen in den Sinn gekommen.« Er legte eine Pause ein, dann fragte er: »Was dagegen, wenn ich dir davon erzähle?«
»Ganz und gar nicht. Schieß los.«
Nick beugte sich vor und senkte die Stimme – dies war keine Unterhaltung, die andere Gäste mitbekommen sollten. »Wenn du die Einzelheiten veränderst, nimmst du Abstand von den Morden. Wenn du allerdings zu viel veränderst, könntest du die anschauliche Intensität, die Arnold erreicht hat, verwischen.«
»Das weiß ich. Mein Plan ist, Arnolds Berichte als Ich-Erzähler zu schildern. Ich werde versuchen, wie ein Psychiater zu denken, dem Arnold die Morde gesteht.«
Nick verzog das Gesicht. »Mmm …«
»Du bezweifelst, dass dieser Kunstgriff funktioniert?«
»Ich bin kein Schriftsteller. Das ist deine Domäne. Aber die Sache mit dem Psychiater könnte zu nüchtern sein und den Horror für die Leser abschwächen. Wie auch immer, du solltest das Original auf jeden Fall behalten, wenn du fertig bist.«
»Kommt gar nicht in Frage! Das wandert direkt in den Reißwolf.«
»Wahrscheinlich eine vernünftige Entscheidung. So viele Menschen können nicht anders – sie müssen belastende Beweise aufbewahren. Es ist ein eigenartiger Zwang. Nichts für ungut.«
Dermot war sofort beunruhigt. »Du gibst mir das Gefühl, ein Krimineller zu sein.«
»Sorry. Das wollte ich nicht. Erinnerst du dich an den Autor, der von dem Flugzeug geschrieben hat, das ins weiße Haus fliegt? Also nach dem elften September hat niemand behauptet, dass der Schriftsteller die Piloten angelernt oder das ganze Ding geplant hat, oder? Es ist ein eigenartiger Zufall. Fiktion.«
»Es sei denn, Al-Qaida hat die Idee aus seinem Buch aufgegriffen …«
»Unmöglich. Das Szenario gab es schon seit Jahren. Der Autor hat das lediglich in seinem Roman verwendet. Und genau das wird mit deinem Werk auch geschehen – das heißt, falls überhaupt jemand die wirklichen Verbrechen mit deinem Werk in Zusammenhang bringen sollte, was höchst unwahrscheinlich ist. Niemand kann dir etwas anderes nachweisen.
Es war …«, er legte eine kleine Pause ein, »… Zufall. Das ist alles.«
»Beruhigend«, gab Dermot zurück. Beruhigender; als du ahnst.
»Ich dachte, ich könnte die Verbrechen nach Australien verlegen«, fuhr Dermot fort. »Ich bin sicher, dass dort ganz ähnliche Gräueltaten vorkommen wie bei uns.«
Der Kaffee wurde serviert. Dermot wartete, bis das Mädchen wieder außer Hörweite war, ehe er hinzufügte: »Und ich dachte daran, einen eigenen Touch dazuzugeben.«
Nick sah ihn fragend an. »Was für einen Touch?«
»Ein Mordszenario. Eines, das auf einer realen Begebenheit basiert.«
»Du meinst, du erfindest deinen eigenen Albtraum?«
»Warum nicht? Falls sich irgendein Journalist entschließen sollte, die Fälle in meinem Roman zu untersuchen, stößt er wenigstens einmal ins Leere.«
»Das stimmt«
»Es wird eine persönliche Herausforderung, mich in Arnold zu versetzen und seine Grausamkeit mit meiner Kreativität zu paaren.«
Nick war verwirrt. »Aber ich dachte, du bist überzeugt, dass er nicht der Killer war – dass sein Tagebuch bloß auf Ereignissen basiert, denen er nachgegangen ist.«
»Na ja, das ist schon richtig«, antwortete Dermot eilends. »Ich spreche hier von der brutalen Phantasie, mit der er die Fälle ausschmückt.«
Nick nickte. »Ich verstehe. Also hast du dir einen Albtraum einfallen lassen, oder?«
»Noch nicht«, antwortete er-das Lügen fiel ihm gar nicht mehr schwer. »Aber ich bin sicher, dass das kein großes Problem darstellt. Wir alle haben Albträume – die Frage ist nur, welcher Albtraum die größten Ängste in den Menschen auslöst; welcher Albtraum sich am besten verkauft.«
»Ich denke, von denen hat Arnold die meisten bereits selbst verarbeitet«, gab Nick mit einem Kichern zurück.
Dermot nickte nur.
»Vielleicht könnte dir der Albtraum vertraut sein? Was hält Dermot Nolan nachts wach?«
Dermot musterte seinen Freund lange, dann widmete er sich schweigend seinem Kaffee.