Kapitel 23

Dermot sah den Wagen zum ersten Mal, als er von West Temple aus die Zufahrt zum Santa Ana Freeway nahm. Er dachte immer noch darüber nach, wie Nick und Neela seine Weigerung, mit Arnolds erbärmlicher Geschichte zur Polizei zu gehen, beurteilten, als er den Peugeot entdeckte. Fünf Autos und ein Truck trennten sie. Dasselbe Peugeot-Modell. Schwarz. Getönte Scheiben.

Alle moralischen und ethischen Überlegungen verflogen, während er seine Aufmerksamkeit auf das Zwillingsauto konzentrierte. War es ihm vorher schon aufgefallen? War es vor ihm gefahren, als er die North Grand Avenue verlassen hatte? Es konnte ihn kaum verfolgen, wenn es vor ihm fuhr.

Jetzt hab ich dich, du Bastard. Dieses Mal sehe ich dich ganz deutlich. Ich träume nicht – du bist real.

Dermot verließ die Kriechspur und überholte die Fahrzeuge, bis nur noch ein Wagen und ein Truck zwischen seinem und dem anderen Peugeot waren.

Das musste mehr als ein Zufall sein. Er war dem Zwillingswagen an den unterschiedlichsten Orten begegnet – auf dem Land und in der Stadt. Dieselbe Farbe. Dasselbe Baujahr. Dieselben getönten Scheiben. Dem musste Dermot auf den Grund gehen.

Er überholte den Truck und scherte hinter einem Mercedes 55 wieder in die Spur. Das Tempo des Peugeot blieb gleichbleibend knapp unter dem Limit. Das linke Fenster war zehn Zentimeter heruntergelassen. Es war verlockend … wenn Dermot an ihm vorbeifuhr, konnte er vielleicht einen Blick auf den Fahrer werfen.

Er überholte den Mercedes und fädelte sich hinter dem Peugeot wieder auf der rechten Fahrbahn ein. Jetzt übernahm der Adrenalinstoß die Oberhand über den gesunden Menschenverstand, und eine gewisse Aggressivität bestimmte seinen Fahrstil. Er betätigte ein paar Mal die Lichthupe, dann drückte er lang und anhaltend auf die Hupe.

Die Wirkung auf den anderen Peugeot-Fahrer war erschreckend. Der Wagen schwenkte vehement über zwei Fahrspuren und hätte um ein Haar einen Saab auf der mittleren Fahrbahn gerammt. Dann beschleunigte er.

Du willst ein Rennen? Okay, das kannst du ha beul Dermot trat das Gaspedal durch und überholte ein Fahrzeug nach dem anderen.

Der Fahrer des Doppelgängerautos hatte ihn überrascht und war mittlerweile etwa acht Wagenlängen voraus. Doch Dermot, der sich immer schon als exzellenten Fahrer angesehen hatte, nahm die Verfolgung auf.

Der Zwilling bog am Harbor Freeway ab; Dermot blieb ihm auf den Fersen. Beide Peugeots fuhren achtzig oder neunzig Meilen die Stunde und schlängelten sich wie Wahnsinnige durch den Verkehr. Dermot war tatsächlich der bessere Fahrer und holte Stück für Stück auf. Bald fehlten ihm nur noch gute fünf Meter, und er betätigte wieder die Lichthupe. Der andere beschleunigte noch ein wenig mehr. Beide rasten jetzt mit fast hundert Sachen die Straße entlang. Dermot fühlte sich einigermaßen wohl bei der Geschwindigkeit, aber die anderen Autos machten Schlenker, um ihm auszuweichen. Die Frage war: Wie kam der andere Fahrer zurecht? Wie war sein Reaktionsvermögen?

Unter der Wilshire-Überführung machte Dermot Boden gut und setzte zum Überholen des Doppelgängers an. Dabei beobachtete er, wie das Seitenfenster nach oben glitt. Wieder hatte er keine Chance, den Fahrer zu sehen. Verdammt!

Jetzt durchströmte ihn das Adrenalin, und er scherte hinter dem anderen Peugeot wieder ein, um von neuem Hupe und Lichthupe einzusetzen. Der Doppelgänger schwankte vehement und nahm die Ausfahrt auf die West Eighth Street. Dermot blieb dicht hinter ihm. Sie erreichten die erste von mehreren Ampeln auf der Columbia.

Würde der Fahrer hier ein Risiko eingehen? Absolut!

Der Wagen schoss über die Kreuzung. Dermot folgte viel zu dicht, aber nur so konnte er einen Zusammenstoß mit einem BMW der Grün hatte und von links kam, gerade noch vermeiden.

Plötzlich trat der andere Fahrer auf die Bremse und schlitterte auf die West Seventh. Dermot tat es ihm gleich und war recht zuversichtlich – der Typ war kein so toller Fahrer, wenn es über Nebenstraßen ging.

Der andere Peugeot raste um eine Kurve und war für vielleicht zwei Sekunden außer Sicht. Dermot hörte Sirenen hinter sich und sah in den Rückspiegel. Zwei Streifenwagen tauchten wie aus dem Nichts auf und schlössen allmählich mit Blaulicht und Sirene zu ihm auf.

Die nächste Kurve hätte Dermot beinahe nicht geschafft. Seine Aufmerksamkeit galt jetzt den Cops, die ihn verfolgten. Er trat auf die Bremse, und sein Auto kam nur wenige Zentimeter rechts von dem anderen Peugeot zitternd zum Stehen.

Ohne auch nur einen Gedanken an die Polizisten zu verschwenden, sprang Dermot aus seinem Auto und rannte zu dem anderen Peugeot. Plötzlich flog die Fahrertür auf, und eine Frau so um die Dreißig stieg aus, kreischte hysterisch und fuchtelte mit den Armen. Dermot hielt mitten im Lauf inne und starrte die Frau an.

»Meine Tochter ist noch im Wagen!«, schrie sie den Cops zu. »Helfen Sie ihr!«

Vier Officers gingen vorsichtig auf Dermot zu. Alle hatten ihre Waffen gezogen; einer zielte auf Dermot.

»Hinlegen! Los!«

Dermot starrte die noch immer schreiende Frau an. Einer der Cops brüllte. »Auf die Erde legen, Gesicht nach unten!

Los! Strecken Sie die Arme mit den Handflächen nach unten aus. Keine falsche Bewegung!«

Dermot hob die Arme und kniete sich nieder, dann streckte er sich auf der Straße aus und drehte die Handflächen nach unten. Verdammt, was habe ich getan? Sein Gesicht berührte den Asphalt.

Die Cops bewegten sich langsam in seine Richtung. Aus den Augenwinkeln sah Dermot ein kleines Mädchen, das aus dem zweiten Peugeot hüpfte und in die ausgebreiteten Arme seiner Mutter lief. Beide heulten haltlos. Die Cops legten Dermot Handschellen an und setzten ihn auf den Rücksitz eines Streifenwagens.

 

Im Hollenbeck-Polizeirevier wurde Dermot der üblichen Routine unterzogen und von einem Detective Sergeant Aaron Sassine vernommen.

»Was hat Sie auf die Idee gebracht, dass Sie von einem Auto, das mit ihrem identisch ist, verfolgt werden, Mr. Nolan?« Sassine sprach langsam und beruhigend – seine übliche Herangehensweise.

»Ich habe einen ähnlichen Wagen in den letzten Tagen des Öfteren gesehen. Genügend oft, um zu wissen, dass das kein Zufall mehr sein konnte.«

»Mr. Nolan, eines wollen wir klarstellen: Sie wussten gar nichts mit Gewissheit. Und bei dieser Gelegenheit hat es sich erwiesen, dass es ein Zufall war. Richtig?«

»Dieses Mal, ja. Hören Sie, es tut mir aufrichtig leid, dass ich der Frau und ihrer Tochter Angst eingejagt habe. Ich dachte, in dem Wagen säße jemand anderes.«

Sassine lehnte sich auf seinem Holzstuhl zurück und schwieg. Er sah Nolan, der ebenfalls kein Wort mehr von sich gab, unverwandt an. Irgendwann richtete der Detective den Blick auf das mit Computer beschriebene Papier, das vor ihm auf dem Tisch lag. »Sie haben keine Vorstrafen, Mr. Nolan.

Nicht einmal einen Strafzettel für zu schnelles Fahren – das heißt, bis heute nicht. Das spricht zu Ihren Gunsten.«

»Ich halte mich an die Gesetze und respektiere die Obrigkeit. Heute fühlte ich mich lediglich provoziert von jemandem, der den gleichen Wagen fuhr wie die Lady und ich, und zwar derart provoziert, dass ich so handeln musste, wie ich es getan habe. Ich dachte, der Typ, der mich verfolgt, würde hinter dem Steuer sitzen. Ich musste herausfinden, wer am Steuer saß.«

Sassine musterte Dermot kühl. »Die Tochter der Fahrerin war klug genug, uns mit ihrem Handy anzurufen, solange sie noch im Auto saß. Sie dachte, Sie würden ihre Mutter vom Freeway in den Gegenverkehr drängen und sie beide töten.« Er machte eine Pause, dann: »Warum sollte Ihnen jemand nachstellen? Haben Sie Feinde? Übersehe ich hier eine private Verbindung? Haben Sie eine Affäre mit einer verheirateten Frau? Gibt es jemanden in Ihrem Bekanntenkreis, der zu Gewalttaten neigt?«

»Nein. Natürlich nicht. Und ich schulde keinem Wucherer Geld – abgesehen von meinem Verleger.«

Sassine verstand den Scherz offensichtlich nicht.

»Ich bin ein bekannter Schriftsteller. Einige halten mich sogar für einen Promi. Das ruft hin und wieder die schlimmsten Leute auf den Plan. Ständig nerven mich Menschen, die mir ein Manuskript zeigen wollen, das sie selbst verfasst haben. Aber ich habe gar nicht die Zeit, das alles zu lesen, deshalb werfe ich die Sachen meistens sofort in den Papierkorb. Das führt oft zur Verbitterung. Die Leute meinen, dass ich sie ignoriere, und werden wütend. Und ich dachte, der Typ, der mich im Peugeot verfolgt, wäre einer dieser Kandidaten.«

»Das klingt, als wäre so etwas schon einmal vorgekommen, Mr. Nolan. Ist es so?«

Diese Frage verblüffte Dermot. »Na ja, nicht mir persönlich, nein. Aber ich kenne etliche Schriftsteller, denen nachgestellt wurde.«

»Können Sie mir ein Beispiel nennen? Von Autoren, denen jemand nachgestellt hat?« Sassine hatte nicht vor, Dermot so schnell vom Haken zu lassen. »Nur damit ich weiß, welches Ereignis Sie so sehr gestört hat. Wieso haben Sie sich berechtigt gefühlt, einem anderen Wagen mit viel zu hoher Geschwindigkeit etliche Meilen weit zu folgen? Dabei haben sie einen Unfall und den Verlust von Menschenleben riskiert.«

»Na ja … ich habe in den Zeitungen oft gelesen, wie Prominente verfolgt werden. Tom Cruise, Nicole Kidman, Prinzessin Diana, um Himmels willen!«

Sassine betrachtete Dermots Gesicht. Dann lächelte er und beugte sich über den Tisch. »Mr. Nolan, hier geht irgendetwas vor sich, was Sie mir verschweigen. Das ist zumindest mein Eindruck. Nichtsdestotrotz sind Sie im Straßenverkehr noch nie auffällig geworden, und andere Vorstrafen haben Sie auch keine. Einer meiner Kollegen erzählte mir, dass Sie ein sehr anständiger Kerl sind, also werde ich Sie nicht weiter unter Druck setzen. Was die Geschwindigkeitsüberschreitung und die aggressive Fahrweise angeht, erteile ich Ihnen eine strenge Ermahnung, die in Ihrer Akte vermerkt wird für den Fall, dass Sie jemals daran denken sollten, ein derartiges Verhalten zu wiederholen. Sie werden einen Strafzettel wegen Tempoüberschreitung bekommen. Nehmen Sie ihn mit nach Hause und denken Sie darüber nach, was Sie getan haben. Und jetzt können Sie gehen.«

Dermot sandte ein stilles Dankgebet an Mike Kandinski, nahm seine Sachen und machte sich davon.