Kapitel 25
Dermot stand schon vor Sonnenaufgang auf. Er hatte nicht mehr als eine, höchstens zwei Stunden geschlafen und fast die ganze Nacht zu ergründen versucht, was er glauben sollte. War das Tagebuch Fiktion, in der viele verschiedene Zeitungsberichte verarbeitet waren, oder handelte es sich um ein detailliertes Geständnis eines Serienkillers?
Er wog beide Seiten ab, während er eine mentale Inventur von alldem machte, was er bisher herausgefunden hatte. Der Schädel in dem Wassertank? Das war ein Tierkopf – ganz bestimmt. Die Pfähle und die Gräber? Die Holzpfosten waren an der Stelle, die Arnold beschrieben hatte, in die Erde geschlagen. Aber wenn Arnold ein böses Spiel mit ihm trieb, dann mussten die Örtlichkeiten so aussehen, wie es in dem Tagebuch stand. Und ein Mann saß in Untersuchungshaft, weil man ihn beschuldigte, das Ehepaar Zersky und den Piloten getötet zu haben. Wenn Arnold in dem Kapitel »Die Zwei im freien Fall« gelogen hatte, dann war, wie Neela meinte, die logische Schlussfolgerung, dass auch die anderen Todesfälle aus dem Tagebuch nicht so abgelaufen waren, wie er es dargestellt hatte. Nick hatte recht, was den Klebstoff an der Sesselarmlehne betraf. Den Fleck konnte alles Mögliche verursacht haben.
Vorsichtig, um Neela nicht zu wecken, schlüpfte Dermot aus dem Bett, zog sich an und machte sich in der Küche einen Kaffee. Er fütterte Scarecrow und Cheesecake, holte die Schaufel aus dem Schuppen und machte sich noch vor sieben Uhr auf den Weg.
Als er auf den San Gabriel River Freeway fuhr, war Dermot schon wesentlich entspannter. Die Sonne schien, der Himmel war strahlend blau. Scarecrow hielt das haarige Gesicht aus dem Fenster, die Ohren klebten wegen des Fahrtwindes an seinem Schädel. Die Zeichnungen und Ortsangaben sowie das Tagebuch lagen, aufgeschlagen bei dem Kapitel über die Zahnfee, zwischen Hund und Herrchen auf dem Beifahrersitz.
Dermot nahm die 210 und zweigte bei Azusa auf die San Gabriel Canyon Road ab. Nach fünfzehn Minuten entdeckte er die kleinen Seen, die Arnold beschrieben hatte, und folgte den Instruktionen. Er passierte DAS KEMPS CREEK-Schild und sah den Weg, den Arnold erwähnt hatte. Es war ein schmaler Weg mit tiefen Schlaglöchern, die, wie es schien, heftiger Regen ausgewaschen hatte. Dermot steuerte seinen Wagen um die tiefsten Furchen herum. Scarecrow stieß sich wegen der holprigen Fahrt einige Male den Kopf am Türrahmen an, ehe es ihm schlauer erschien, sich nicht mehr aus dem Fenster zu lehnen.
Wenn Sie die Baumreihe erreichen, sehen Sie die Scheune. Doch als Dermot zu der Baumreihe kam, war weit und breit keine Scheune in Sicht.
Dermot blieb stehen, beugte sich über Scarecrow und öffnete die Beifahrertür. Statt ins Freie zu springen, starrte der Terrier eine Weile auf den Erdboden, dann rollte er sich hinter dem Sitz im Fußraum zusammen. Dermot betrachtete den Hund mit einem schiefen Lächeln – Hunde, man muss sie einfach lieben. Er nahm das Tagebuch an sich, stieg aus und pfiff nach Scarecrow, weil er ihn begleiten sollte. Aber der Hund ließ sich nicht blicken.
Wo war die Scheune? Vielleicht hatte ihn Arnold diesmal in die Irre geführt. Wenn es die Scheune nicht gab, gab es auch keinen Tatort.
Dermot ging auf das Wäldchen zu, das gerade mal eine Fläche von fünfzig mal hundert Metern einnahm und auf allen Seiten von offenem Land umgeben war. Etwa dreißig Meter weiter entdeckte Dermot eine Kuhle im Erdboden. Die Stelle sah aus, als hätte dort früher eine Hütte gestanden. Sein Herz sank. Der Grundriss hatte in etwa die Größe von vier nebeneinanderstehenden Dixie-Klos. Der Boden innerhalb des Karrees war hart wie Stein; darum herum sah er anders aus – so, als hätte ihn der Regen ausgewaschen.
Dermot kauerte sich nieder, inspizierte die Senke und strich mit der Hand über die festgebackene Erde. Wenn die Scheune an dieser Stelle gestanden hatte, wieso war sie dann nicht mehr da? Und wer hatte sie weggeschafft? Ein älterer Obdachloser wie Arnold? Dieser Fund verlieh Neelas Theorie, dass Arnold – wenn er der Killer war – einen Komplizen gehabt haben musste, neue Nahrung. Wie auch immer – Dermot war nicht in der Stimmung, diesen Gedanken weiterzuspinnen; es war viel besser anzunehmen, dass Arnold allein gehandelt hatte. Ein Komplize würde bestätigen, dass der alte Penner tatsächlich ein Mörder war.
Als sich Dermot auf die Hände stützte, um aufzustehen, lockerte er den Boden seitlich der Vertiefung unbeabsichtigt ein wenig auf. Er sah sich das genauer an. Seine Finger hatten etwas freigelegt, was aussah wie ein weißer Kieselstein – nicht größer als der Daumennagel eines Kindes. Er hob ihn auf und nahm ihn genauer in Augenschein. Im Grunde sah das Ding nicht aus wie ein Stein, sondern eher wie ein Stück Keramik. Er stocherte im Boden und beförderte drei weitere kleine weiße Splitter zutage. Seine Instinkte verrieten ihm, was er da gefunden hatte: Zähne.
Sein Magen krampfte sich zusammen, und er drehte die kleinen Fragmente auf der Handfläche, um sie genauer zu untersuchen. Falls das wirklich Zähne waren, mussten sie nicht zwangsläufig von Phoebe Blasé stammen. Und sie bewiesen genauso wenig, dass das Mädchen jemals hier gewesen oder gar an dieser Stelle ermordet worden war. Wieder eines von Arnolds Katz-und-Maus-Spielen? Dermot ließ seinen Gedanken freien Lauf. Die Scheune war nicht da, weil sie niemals hier gestanden hatte. Es war nicht schwer, den Boden entsprechend zu bearbeiten, damit man auf die Idee kommen konnte, dass hier einmal eine Hütte gestanden hatte. Und Arnold brauchte lediglich ein paar zerbrochene Zähne zu verstreuen, um Dermot zu überzeugen, dass Phoebe Blasé hier gefoltert und getötet worden war. Er steckte die Zahnfragmente in seine Hemdtasche und umrundete die Baumreihe.
Der verdammte Tank des Generators war leer; also ging ich zurück zum Auto, um Sprit zu holen. In diesem Moment muss sie sich entschieden haben, stark genug zu sein, um mir zu entwischen. Ich hätte sie noch einmal spritzen sollen, aber als ich sie allein gelassen habe, sah sie schlaff aus wie ein leerer Kartoffelsack – deshalb hielt ich es wohl nicht für nötig. Tatsache war, sie hat mich hinters Licht geführt. Sie war schlau – das muss ich ihr lassen. Aber ich war schlauer. Sie kam nicht weit.
Dermot versuchte sich vorzustellen, in welche Richtung Phoebe Blasé gelaufen sein könnte. Er selbst hatte seinen Wagen am Ende des Weges abgestellt – das war die plausibelste Stelle, und es war anzunehmen, dass Arnold auch dort geparkt hatte. Dann musste Phoebe Blasé in die entgegengesetzte Richtung geflohen sein – zu dem Gebüsch, in dem sie sich verstecken konnte.
Es war stockfinster, als ich zu der Scheune zurückkam und sah, dass die Tür offen stand und das Mädchen verschwunden war. Ich blieb still stehen und lauschte. Nach ein paar Sekunden hörte ich, wie es im Gebüsch raschelte, dann war alles wieder ruhig. Ich ging davon aus, dass sie beschlossen hatte, sich im Dickicht zu verstecken und abzuwarten.
Dermot ging weiter. Nach etwa zehn Metern stieß er auf einen Fleck, an dem die Pflanzen platt waren.
Ich brauchte ungefähr drei Minuten, um sie zu finden. Sie hatte sich zusammengerollt und tief in den Schlamm gedrückt. Es regnete immer noch wie aus Kübeln, deshalb dachte sie wohl, ich würde sie übersehen. Aber ich entdeckte sie. Ich muss schon sagen, das Mädchen hatte Mumm. Jedenfalls gönnte ich mir ein bisschen Spaß und rief ihren Namen, als würden wir Verstecken spielen. »Ich seeeehe dich«, flötete ich, wie es ihr Daddy gemacht hätte. Nur um festzustellen, ob sie sich rührte. Da sie mucksmäuschenstill blieb, ging ich einen Schritt auf sie zu und rief erneut. Und noch mal. Sie musste höllische Angst gehabt haben, weil ich ihr immer näher kam. Erst als uns nur noch wenige Meter trennten, bewegte sie sich. Es war nur ein kurzes Zucken, verursacht von den Schmerzen in ihrem Mund, schätze ich. Ich stellte meinen Fuß mit Nachdruck auf ihr Bein, damit sie nicht weg konnte, dann packte ich ein dickes Haarbüschel und zerrte sie wie ein Höhlenmensch durch den Schlamm zur Scheune zurück.
Für Dermot wurde es Zeit zum Aufbruch. Dieser Ort strahlte etwas Unheilvolles aus. Dermot fürchtete sich und scheute sich auch nicht davor, sich das einzugestehen. Verzweifelt versuchte er sich einzureden, dass Arnold aus Polizeiberichten und Zeitungsartikeln seine eigenen Geschichten zusammengebastelt hatte, aber mittlerweile wurde es offenkundig, dass der alte Mann zumindest einige der Verbrechen, die er geschildert hatte, selbst verübt haben musste.
Scarecrow lag immer noch zusammengerollt vor dem Rücksitz und winselte. Dermot war sicher, dass der Hund seine Blase dringend entleeren musste, deshalb öffnete er die hintere Tür und versuchte, Scarecrow aus dem Wagen zu ziehen.
»Du kommst jetzt da raus, Scary. Und zwar sofort. Ich dulde nicht, dass du in meinen Wagen pinkelst.«
Aber Scarecrow leistete erbitterten Widerstand – er zitterte am ganzen Leibe und wäre nie im Leben ausgestiegen.
Dermot funkelte den Hund böse an und musste unwillkürlich an die Gruselfilme denken, in denen Hunde spüren, dass das Böse – ein Werwolf oder Gespenster – in der Nähe war, während die Menschen ahnungslos blieben.
Dermot sah sich um. Nichts. Die Sonne schien, und die Landschaft war wunderschön. Genaugenommen wirkte alles so friedlich, dass er sich ein wenig beruhigte und entschied, den Pfählen noch einmal einen Besuch abzustatten. Er hoffte, dass sich dort seine neuen Ängste, Arnold könnte ein Serienmörder gewesen sein, ausräumen ließen.
Die Sonne stand schräg am Himmel, als er den ersten Blick auf die Pfähle erhaschte. Auf der Fahrt hatte sich Scarecrow wieder auf den Beifahrersitz gewagt und schien seine eingebildete Angst überwunden zu haben. Das Leben war wieder schön. Allerdings nicht für Dermot. Sobald er die Pflöcke sah, kehrten all die vertrauten Dämonen zurück.
Er ging, mit der Schaufel in der Hand, zu dem größeren der beiden Pfähle und schaute sich die Scheuerstellen am Holz und die fast schwarzen Flecken auf der Erde noch einmal genauer an. Er ging in die Hocke, nahm eine kleine Probe von der schwarzen Erde in die Hand, spuckte darauf und rieb sie zwischen Daumen und Zeigefinger. Die Farbe wechselte von Schwarz zu Dunkelrot. Genau wie getrocknetes Blut, wenn es nass wird.
Dermot richtete sich auf. Er spürte, wie etwas sein Bein streifte, und zuckte erschrocken zusammen – aber es war nur Scarecrow. Der Hund setzte sich vor ihn und starrte ihn an. Dermot lächelte und dachte an die Lassie-Filme aus seiner Kindheit. Hierher! Komm her und sieh dir das an. Wau, wau!
Okay. Dermot beschloss, das Spiel mitzuspielen. »Was ist los, Scarecrow? Willst du mir etwas zeigen?«
Scarecrow lief los und setzte sich auf den Fleck, der Dermot beim letzten Mal aufgefallen war – auf die Grabstelle.
Dermot grub eine Stunde. Es war eine schwere Arbeit, doch er musste sichergehen, dass er nichts übersah. Nach zehn Minuten plagte Scarecrow die Langeweile, und er schnüffelte die Umgegend ab.
Dermot hatte die gesamte Grabstätte einen Meter tief ausgehoben, als er beschloss, seine Bemühungen aufzugeben. Keine Toten. Ende der Geschichte. Kurz darauf fuhr er über den Feldweg zurück und gab sich Mühe, den größten Furchen und Schlaglöchern auszuweichen. Jetzt war er wesentlich zufriedener, weil er nichts gefunden hatte. Noch ein Beweis dafür, dass Arnold ein Betrüger war. Erst da sah er Scarecrow im Rückspiegel, der, eingehüllt in eine rote Staubwolke, wie verrückt seinem Wagen nachlief.
Scheiße. Ich habe den verdammten Hund vergessen!
Er bremste abrupt ab und machte die Beifahrertür auf. Scarecrow sprang herein; er hatte ein kleines Stück Stoff im Maul. Dermot versuchte, es ihm wegzunehmen, aber Scarecrow fasste das als Aufforderung zum Spiel auf. Dermot war erschöpft und hatte keine Lust auf Hundespiele.
Als er in Richtung Highway fuhr, ging ihm ein anderer Gedanke durch den Kopf. Warum hatte Arnold einigen seiner Opfer einen Namen gegeben und anderen nicht? Wieso schreibt er von einer Miss A, statt sie beispielsweise Alice Andrews zu nennen? Dermot warf einen Blick auf die Tagebuchseiten und die Zeichnung sowie die Ortsangaben unter ihrem Namen. Ihr angebliches Grab befand sich nur fünfzehn Minuten weit weg. Am Yellow Rock.
Er trat aufs Gaspedal. Je näher er Miss A ’s »letzter Ruhestätte« kam, umso dünner war die fruchtbare, grüne Landschaft besiedelt. Er fand die Abzweigung von der Hauptstraße, die auf die Singles Ridge Road führte,
Nehmen Sie die Purvines-Road-Abfahrt und fahren Sie bis zur Fogg Road. Über einen Feldweg nach Süden. Eine Meile. Dann parken. Gehen Sie den Fußweg zur Rechten und richten Sie den Blick nach oben auf die Böschung.
Dermot brauchte Scarecrow nicht zu sagen, dass er im Auto warten sollte. Er folgte Arnolds Anweisungen und ging den Weg jenseits des Gatters, bis zu seiner Rechten eine Böschung kam, die bisher teilweise von einer hohen Hecke verdeckt gewesen war. Er blieb stehen und schaute hinauf zum Kamm, wo etwas den Sonnenschein blockierte. Je näher er dem Gegenstand kam, umso klarer erkannte er, dass es sich um einen Rollstuhl handelte.
Als er neben dem Rollstuhl stand, sah er zufällig zu seinem Auto. Daneben parkte ein anderer Wagen. Ein Peugeot 207, der genauso aussah wie seiner.
Dieser verdammte zweite Peugeot!
Dermot stand wie angewurzelt da und beobachtete, wie ein Mann aus dem zweiten Auto ausstieg und die Tür seines eigenen Peugeots öffnete. Unwillkürlich trat Dermot einen Schritt vor; dabei geriet er ins Straucheln und hielt sich an der Rückenlehne des Rollstuhls fest. Dann rannte er die Böschung hinunter und verlor wegen der hohen Hecke für eine Weile die Sicht auf die beiden Peugeots.
Als er das Gatter erreichte, war der zweite Wagen weg. Er riss die Fahrertür seines Peugeots auf und spähte ins Wageninnere – von Scarecrow keine Spur. Wo, zum Teufel, steckte der Hund?
Dann hörte er ein gedämpftes Kläffen. Er ging in die Hocke. Scarecrow lag unter dem Auto und drückte sich flach auf den Boden.
»Ein toller Wachhund bist du«, sagte er, während Scarecrow aus seinem Versteck kroch und Dermot die Hand leckte.
Vielleicht war es Zeit zu fahren.
Er blickte zurück zu der Böschung. Ein Rollstuhl? War das diesmal alles, womit Arnold ihn zum Narren hielt? Kein Blut? Keine Leichenteile? Dieses Mal ließ sich Dermot nicht ins Bockshorn jagen.
Es gab einen letzten Tatort, den sich Dermot anschauen wollte. Wenn er dort keine Leichen fand, dann konnte er unbeschwert nach Hause fahren. Der nächste Schritt wäre dann, die eigene Version des Tagebuchs niederzuschreiben. Er schmeckte beinahe das Geld.
Er hieß Joey Farrell, und sein Albtraum war ziemlich gewöhnlich, aber er war auch vielschichtig; das machte ihn interessant für mich. Das war etwas, wozu mir einiges einfiel – verstehen Sie, was ich meine?
Als ich ihn das erste Mal sah, wusste ich, dass er ein Irrer war. Dürr. Schneeweiße Haut – als hätte er jahrelang unter einem Stein gehaust. »Ich nehme an, man könnte es als Klaustrophobie bezeichnen«, hatte er mir online erzählt. »Aber das ist eigentlich viel zu simpel. Ich leide seit meinem fünften Lebensjahr unter Asthma und beschäftige mich vierundzwanzig Stunden am Tag gedanklich mit dem Atmen.« Der schmächtige Junge pumpte sich mit dem Inhalierfläschchen ein Medikament in den Mund, und ich musste warten, bis er wieder sprechen konnte. Das kotzte mich an. Ich habe Besseres zu tun, als einem Typen zuzusehen, wie er um Atem ringt. Während ich beobachtete, wie er keuchte und dieses kleine Plastikding in dem Mund steckte, zeichnete ich sein Gesicht – so wie es aussehen musste, wenn er im Sterben lag.
Dermot staunte jedes Mal, wie sich Arnolds Worte in sein Gedächtnis einbrannten. Die Bilder waren lebhaft und doch so abscheulich. Zusammengeklebte Lippen? Menschen, die durch bauschige Wolken fielen …
Sobald ich ihn aus dem Kofferraum des Wagens geholt hatte, fesselte ich ihn an einen großen Stein. Es gab nicht allzu viele Bäume in dieser Gegend, und ich wusste, dass der Felsbrocken schwer genug war, um ihn an Ort und Stelle zu halten. Er brauchte gute dreißig Minuten, um wieder zu sich zu kommen. Das ist immer sehr lustig – die erste Reaktion und die Erkenntnis, die ganz langsam in den Augen aufleuchtet. Erst fragen sie sich: »Was, um alles in der Welt …? Dann: »Was mache ich hier eigentlich?« Danach: »O Scheiße!!»Es ist fast wie die verschiedenen Phasen, die man durchschreitet, wenn man sich allmählich bewusst macht, dass man Alkoholiker ist. Verleugnen, akzeptieren und der ganze Quatsch. Solange er besinnungslos war, stülpte ich ihm eine dicke, durchsichtige Plastiktüte über den Kopf und band sie um den Hals zu. Nur ein kleiner Gummischlauch hing heraus – ein Ende ragte in die Tüte, das andere Ende war mit einer Sauerstofflasche verbunden.
Als ich sah, dass er die Augen öffnete, wartete ich auf seine Reaktion. Das war das beste Schauspiel, das ich gesehen hatte, seit ich beobachten konnte, wie den Zerskys fast die Augen aus den Höhlen gefallen wären, kurz bevor ich sie aus dem Flugzeug stieß. Das war etwas anderes.
Farrell schaute sich um und versuchte herauszufinden, wo er sich befand. Er war extrem verängstigt. Ich sah, wie er versuchte, seine Arme zu bewegen, und es nicht konnte. In diesem Augenblick musste ihm klar geworden sein, dass er gefesselt war und in großen Schwierigkeiten steckte.
Ich blickte ihm direkt in die Augen und strahlte ihn mit meinem schönsten Lächeln an. Dann drehte ich den Sauerstoff ab und saugte die Luft aus der Tüte. Dabei ließ ich Farrell nicht aus den Augen.
Den Bruchteil einer Sekunde später schmiegte sich das Plastik an sein Gesicht wie eine zweite Haut. Das Beste von allem war, dass er den Mund aufgerissen hatte, ehe die Plastiktüte geschrumpft war. Das bedeutete, dass er den Mund nicht mehr zubekam! Und ich konnte ihm in den Rachen schauen, bis ich das Ventil wieder öffnete und Sauerstoff in die Plastiktüte ließ. Die Wirkung war phantastisch! Farrell japste fürchterlich, sog die Luft in sich ein und stieß sie wieder aus. Und die ganze Zeit starrte er mich an und flehte mit Blicken um Gnade.
Dermot hielt am Straßenrand, um in der Wegbeschreibung zum Plastiktüten-Mann nachzulesen. Er war fast eine Stunde auf einem Feldweg nach Nordwesten gefahren und näherte sich Tujunga Wash. Die Sonne ging unter-er musste sich beeilen.
Ungefähr eine Stunde spielte ich mit Farrell. In einer Minute war er nahezu tot, in der nächsten schenkte ich ihm ein bisschen Leben. Alles lag in meiner Hand. Und dabei wusste ich die ganze Zeit, wie viel diesem Dummkopf das Atmen bedeutete.
Dermot parkte an dem angegebenen Platz, öffnete den Kofferraum und holte die Schaufel heraus. Wieder weigerte sich Scarecrow zunächst, aus dem Auto zu springen.
Oben auf dem Hügel entdeckte Dermot eine Sauerstoffflasche und einen Schlauch – beides war von Wind und Wetter stark angegriffen. Auch eine hübsche Inszenierung. Arnold hatte sich das richtige Equipment beschafft und extra für Dermot hier ausgelegt.
Ganz schwach vernahm er ein Pfeifen im Dämmerlicht. Er suchte das Umfeld aufmerksam mit Blicken ab – da war niemand. Sekunden später kam Scarecrow mit angelegten Ohren auf ihn zugerannt. Das Tier machte einen verschreckten Eindruck und drängte sich an seine Beine.
»Hast du dich doch entschieden, ein paar Abenteuer zu erleben, Scary? Wird aber auch Zeit.«
Dermot schlug das Tagebuch auf.
Nach einiger Zeit langweilte mich das Spiel – in einer Sekunde war Farrell drauf und dran, das Bewusstsein zu verlieren, in der nächsten füllte sich die Tüte mit dem köstlichen, frischen, berauschenden Lebenselixier. Irgendwann sagte ich dem Spinner Adieu und winkte zum Abschied. Zwei Minuten und fünf Sekunden später starb er. Keine schlechte Zeit für einen Asthmatiker. Ich begrub ihn achtzehn Schritte von dem Felsbrocken entfernt auf der anderen Seite des Hügels.
Dermot ging die achtzehn Schritte; Scarecrow lief voraus und scharrte bereits in der losen Erde. Er scheuchte den Hund weg und fing an zu graben. Mittlerweile war es kühler, deshalb war es nicht ganz so anstrengend.
Anfangs sah er das zerfledderte Plastikstück gar nicht. Es war ein Quadrat mit höchstens fünfzehn Zentimetern Seitenlänge. Erst Scarecrows Reaktion auf den Fund gab ihm zu denken. Der Hund schnupperte an der Erde, die den Fetzen bedeckt hatte und wurde stocksteif. Dann fing er an zu heulen.
Dermot kniete sich nieder und zupfte ein weitaus größeres Plastikstück aus der Erde. Es fühlte sich feucht an. Der Gestank war so ekelerregend, dass Dermot würgen musste. Er ließ das Plastik fallen, zog ein Taschentuch aus der Hosentasche und hielt es sich vor die Nase. Dabei inspizierte er die kaputte Tüte genauer. Sie war sicherlich groß genug, um einen menschlichen Kopf zu bedecken, aber nicht mehr, und die eine Seite war offen. In der Tüte befand sich eine breiige Masse. Es schien fast, als wäre der Schädelknochen herausgefallen und hätte nur das menschliche Gewebe zurückgelassen, das an dem Plastik haftete.
Dermot grub weiter und stieß ziemlich schnell auf etwas Festes, das die Größe eines kleinen Fußballs hatte.
Dermot ging in die Hocke und wischte behutsam die Erde von seinem Fund. Es war nicht nötig, noch weiter zu graben. Dies war ein menschlicher Kopf, der vor Maden nur so wimmelte. Übelkeit machte Dermot zu schaffen, und er richtete sich schwankend auf. In diesem Augenblick wurde ihm bewusst, dass sich sein Leben unwiderruflich geändert hatte.
Er schaufelte Farrells Grab ohne Bedenken wieder zu. Er hatte einen endgültigen Entschluss gefasst. Niemand würde jemals von diesem Grab oder von Arnold und seinem Tagebuch erfahren.
»Lass uns von hier verschwinden, Scary. Wir kommen nicht mehr zurück. Nie wieder.«
Der Traumheiler beobachtete, wie Dermots Wagen vorbeifuhr. Die belaubten Äste, die er vor einer Stunde von den Bäumen geschnitten hatte, waren die perfekte Tarnung für seinen Peugeot 207. Er lachte über Nolans Gesichtsausdruck. Verwirrung. Totale Konfusion gepaart mit erbärmlicher Angst. Der Plan funktionierte. Dermot hatte den Rollstuhl, aber keine Leiche gefunden. Und das baugleiche Auto war ihm unheimlich.
Es war lustig, das exakt gleiche Modell zu fahren. Anfangs hatte er kein besonderes Motiv dafür gehabt. Es war bloß noch eine Methode mehr, Nolan in den Wahnsinn zu treiben, während er versuchte, den Geschehnissen auf den Grund zu gehen. Die Menschen nahmen immer an, dass es Gründe für alles geben müsste. Der Traumheiler wusste es besser. Die Menschen lebten und starben ohne ersichtliche Gründe. Der Traumheiler hatte selbst erlebt, dass auch Unschuldige ohne jeden Grund ihr Leben verloren. Er hatte schreckliches Leid gesehen. Also … gab es einen Gott? Ganz bestimmt nicht.
Er hörte das schwache Klopfen aus dem Kofferraum. Wieder eine falsch berechnete Dosis Succinylcholin. Dies war der passende Zeitpunkt, ihr noch etwas zu spritzen.
Er bereitete die Injektion vor, ging zum Heck des Wagens und öffnete den Kofferraum. Wanda Bell bewegte sich – höchstwahrscheinlich eine Reaktion auf den leichten Wind: Sie spürte, dass der Kofferraum offen stand.
Sie war ordentlich gefesselt mit den Händen auf dem Rücken; sogar die Unterarme waren an den Ellbogen zusammengebunden, genau wie die Knie und die Fußknöchel. Paketband klebte auf Mund und Augen – der Traumheiler wollte ihr die Überraschung nicht verderben. Alles musste perfekt sein, bevor er ihr das Klebeband von den Augen nahm und ihr ihren schlimmsten Albtraum zeigte.
Er brauchte nur zehn Minuten, um zu dem Parkplatz am Ende der Fogg Road zu fahren. Die Gegend war menschenleer. Er hievte Rollstuhl-Wanda aus dem Wagen und warf sie sich über die Schulter. Sie war bewusstlos, deshalb zappelte sie nicht mit den Beinen. Ihm blieben gute zwanzig Minuten, um sie herzurichten.
Der Rollstuhl lag auf der Seite. Der Traumheiler legte seine Last daneben und richtete den Stuhl mit behandschuhten Händen auf. Er hatte gesehen, dass Nolan ihn mit bloßen Händen angefasst hatte. Das war ein riesiger Vorteil.
Er setzte Wanda in den Stuhl, löste die Fesseln an Händen und Armen und legte ihre rechte Hand auf das elektrische Kontrollkästchen, die linke auf die Armlehne. Als Nächstes stellte er ihre Füße auf das Trittbrett, dann zog er vier lange Kabelstücke aus der Tasche, mit denen er die Oberarme knapp unter der Schulter und die Oberschenkel ganz oben abband, so fest er konnte. Die Kabel gruben sich tief ins Fleisch, doch er achtete darauf, dass die Haut nicht verletzt wurde – er wollte nur die Blutzufuhr komplett unterbinden, kein Blutbad anrichten. Schließlich befestigte er die Frau an dem Rollstuhl, vergewisserte sich, dass der Knebel nicht verrutschen konnte, und nahm seinen Platz hinter dem Rollstuhl ein, um den Ausblick, den Rollstuhl-Wanda haben würde, sobald sie die Augen aufmachte, nicht zu verstellen.
Als das Tageslicht schwand, studierte er die Farbe ihrer Gliedmaße. Sie waren angeschwollen und tiefrot. Inzwischen dürfte sie jegliches Gefühl in Armen und Beinen verloren haben. Der Traumheiler fragte sich, wie lange es dauern würde, bis das Gewebe nekrotisch wurde. Für diesen Fall war das allerdings nicht relevant; Wanda würde wahrscheinlich an einem Herzanfall sterben, bevor es so weit war.
Endlich flatterten ihre Lider. Der Traumheiler betrachtete ihr gequältes Gesicht und konnte förmlich beobachten, wie ihr Denkvermögen einsetzte. Wo bin ich? Ich kann mich nicht bewegen. Ich bin festgeschnallt. Beine. Arme. O mein Gott! Schließlich erkannte sie, dass sie in einem Rollstuhl saß.
Es wurde Zeit, Rollstuhl-Wanda allein zu lassen. Der Traumheiler tätschelte ihren Kopf und machte sich auf den Weg zu seinem Auto.