Kapitel 17

Dermots Peugeot 207 stand auf der Straße. Als er einstieg, sah er, wie ein streunender Hund auf sein Haus zutrottete und die Haustür in Augenschein nahm. Dermot konnte den Blick nicht von dem Hund reißen – in diesem Teil der Stadt sah man nicht viele streunende Hunde auf den Straßen. Dieses Tier erinnerte ihn an Toto aus dem Zauberer von Oz – dürr, traurig und schlecht ernährt.

Er war drauf und dran, loszufahren, als sein Blick erneut auf den armen Köter fiel, der vor der Tür stand. Dermot schaltete den Motor aus, öffnete die Fahrertür und ging zurück zum Haus. Als er näher kam, drehte der Hund den Kopf nach ihm um und sah ihn mit traurigen Augen an. Er machte einen halb verhungerten Eindruck. Der verzweifelte, einsame Zug in dem Hundegesicht ging Dermot ans Herz.

»Wie ist dein Name, Kumpel?« Der Hund hatte kein Halsband. »Hast du Hunger?«

Das Tier sah ihn unverwandt an. Dermot gab ein schmatzendes Geräusch von sich, und der Straßenköter schien sofort zu begreifen, was er meinte. Die kleine Zunge fuhr über die Lefzen. Dann schnupperte er an Dermots Handrücken und leckte ihn ab. Süß.

»Wie wär’s? Ich nehme dich mit ins Haus und sehe nach, ob wir etwas zu fressen für dich haben. Wenn du alles, was Neela im Kühlschrank hat, aufgefuttert hast, kannst du mit mir einen Ausflug machen oder dein Glück auf den Straßen versuchen. Allerdings solltest du dich vor Cheesecake in Acht nehmen. Das ist unsere Katze. Du musst sie mit Respekt behandeln, sonst macht sie kurzen Prozess mit dir. Sie kann eine ganz schön gemeine Miezekatze sein. Bist du einverstanden?«

Der Hund kläffte einmal, und Dermot wertete das als Zustimmung. Der Tag versprach, gut zu werden – für sie beide.

Zwanzig Minuten später fuhr Dermot über den Harbor Freeway in Richtung Nordwesten. Der Hund – den er »Scarecrow« nach Totos Strohkameraden getauft hatte – saß auf dem Beifahrersitz.

Während Dermot fuhr, spulten sich Teile des Tagebuchs in seinem Kopf ab. Normale Menschen sollen von der Realität extremen Leids erfahren. Lasst sie zusehen, wie unschuldige Kinder verbrennen. Als ihm diese Gedanken durch den Kopf gingen, sprang Scarecrow auf und leckte seine Wange ab.

Dermot war eine knappe Stunde auf der Straße. Der Verkehr auf dem Santa Monica Freeway war schwach. Arnolds Tagebuch lag aufgeschlagen neben ihm, und Scarecrow hatte den Kopf aus dem Fenster gestreckt. Er schnappte nach der Luft, seine Ohren flatterten im Fahrtwind.

Dermot bremste ab, nahm das dünne obere Blatt Papier zur Hand und schaute auf die Wegbeschreibung zu den Pfahlopfern. Er fragte sich, ob es tatsächlich eine Cedar Line Road gab – auf der Karte hatte er sie nicht gefunden. Falls es diese Abzweigung nicht gab, waren die Ortsangaben und Wegbeschreibungen nur erfunden worden, um den Leser neugierig zu machen, und der gesamte Roman war reine Fiktion. Dermot hoffte sehr, dass es so war.

Dann fiel sein Blick auf einen Wegweiser zur Cedar Line Road, und sein Herz wurde schwer. Genau in diesem Moment fuhr ein Traktor hinter einem dichten Baumbestand hervor und bog auf die Straße ein. Dermot stieg auf die Bremse, und sein Peugeot kam nur wenige Zentimeter hinter dem Anhänger des Traktors zum Stehen. Der Anhänger war mit Gerätschaften beladen.

Dermot ließ das Fenster herunter und schrie. »Hey! Passen Sie doch auf! Sie hätten uns beide umbringen können.«

Ein alter wettergegerbter Fahrer bedachte Dermot mit einem verächtlichen Blick. Arschloch. Er lachte, fuhr weiter und hielt sich konstant in der Straßenmitte, so dass Dermot nicht überholen konnte.

Dermot wollte auf keinen Fall nachgeben; er hupte und drängte sich an dem Traktor vorbei, nahm dabei ein Stück einer Hecke mit, und die linken Reifen sanken tief in den Boden am Straßenrand.

Sobald er den Traktor hinter sich hatte, winkte er dem alten Griesgram, um ihn zu ärgern. Diesmal zeigte ihm der Farmer den Mittelfinger und schwenkte ihn noch einige Male hin und her-für alle Fälle.

Dermot begann, die Meilen auf seinem Tacho mitzuzählen. Nach fünf Meilen auf dem Feldweg sah er den See und kam in das Gebiet, in dem im Sommer die Picknicker parkten. Wie angegeben, steuerte er die rechte hintere Ecke des Parkplatzes an. Dann schaltete er den Motor ab.

Scarecrow sah ihn an und flehte stumm, Rast zu machen. Dermot streckte die Hand aus und öffnete ihm die Beifahrertür. Der Terrier sprang heraus, rannte zu einem Busch und hob eine Ewigkeit das Bein.

»Wer würde vermuten, dass so viel Pisse in einem so kleinen Hund Platz hat«, murmelte Dermot und schaute sich um. Kein Mensch war zu sehen. Die Luft war kühl. Ein Blick auf den Himmel verriet, dass Regen im Anzug war. Dies war kein geeigneter Tag, ohne Regenmantel im Topanga State Park spazieren zu gehen.

Er zog seinen Kompass zurate, wandte sich in Richtung Osten und zählte seine Schritte, die, wie er hoffte, in etwa so groß waren wie die von Arnold. Scarecrow folgte ihm gehorsam.

Nach ungefähr fünfzig Metern erreichte Dermot eine Barriere aus dichtem Dornengestrüpp.

»Verdammt«, murrte er. Nichts im Leben war einfach. Aber es hatte Sinn, dass die Sträucher Schutz boten – wenn man einen Mord begeht und Leichen vergräbt, möchte man sicherlich nicht vom Parkplatz aus gesehen werden.

Er hielt sich die Jacke vors Gesicht, damit ihn die Dornen nicht kratzten, und zwängte sich durchs Dickicht. Dabei zählte er weiter seine Schritte. Scarecrow schlängelte sich hinter ihm durchs Gestrüpp.

Bei Schritt dreihundert wurde das Dickicht lichter, und er kam besser voran. Bei Schritt siebenhundertneunzig erreichte er eine Ebene mit kaum oder gar keiner Vegetation. Dann sah er die beiden Pflöcke nur wenige Meter vor sich – einer war größer als der andere.

Scarecrow rannte los und hob das Bein an dem größeren Pflock, den Dermot genauer inspizierte. Etwa in Kopfhöhe sah er Einkerbungen rund um das Holz – solche Spuren würde man finden, wenn jemand mit einer Schnur rund um den Hals an dem Pfahl festgebunden gewesen wäre. Ähnliche Linien entdeckte er in Höhe seiner Knöchel. Interessant.

Er ging in die Hocke und inspizierte die festgebackene Erde rund um den Pfahl. Da waren schwarze Flecken. Es widerstrebte ihm, die Stellen zu berühren, denn auf den ersten Blick sahen sie aus wie getrocknetes Blut. Selbstverständlich könnte es auch etwas ganz anderes sein, doch seine Instinkte sagten ihm, dass er Menschenblut vor sich hatte. Es sei denn, es handelte sich um eine makabre Inszenierung, die ihm vorgaukeln sollte, dass hier Menschen gestorben waren. Arnold könnte die Pflöcke hier eingeschlagen, ein wenig Tierblut verspritzt und alles arrangiert haben, um ihn zu täuschen. Aber warum? Womöglich war dies die Art von schwarzem Humor, die dem Irren gefiel. Wenn ja, dann war es ihm gelungen, dass sich Dermots Nackenhärchen aufstellten.

Er ging zum kürzeren Pfahl, an den Arnold angeblich Laura Nash gefesselt hatte und vor dem noch ein Stück Seil auf einem dieser dunklen Flecke auf dem Boden lag. Es war durchgeschnitten. Dermot hob es auf und schlang es um das Holz. Es war ziemlich kurz und offensichtlich, dass ein Teil abgeschnitten und entfernt worden war.

Der Text des Tagebuchs kam ihm in den Sinn. Deshalb schneide ich ihr die Zunge heraus. Dieses Geschrei geht mir auf die Nerven. Die Temperaturen sinken allmählich. Ich habe genügend getrunken, aber die beiden gar nichts. Ich sehe, wie Nashs Zunge heraushängt. Dehydrierung ist eine böse Sache, davon kann ich ein Lied singen – ich wäre in der Wüste beinahe gestorben und weiß, wie es ist, wenn der Körper nach Wasser schreit. Also hole ich einen Krug mit Wasser aus der Kühltasche im Auto und gehe zu der Frau. Ihr nackter Körper zittert – sie verliert immer wieder das Bewusstsein. Das sind die Auswirkungen des Sonnenbrands. Ihre Reaktion ist heftig, als sie den Krug sieht: Die Macht des Durstes, nehme ich an. Ich hebe den Krug so hoch, dass es aussieht, als würde ich etwas über ihren Zungenstummel gießen. Sie reckt den Kopf und reißt den Mund weit auf. Wie ein gehorsames Kind. Ich wende mich ab, gehe zu Mr. Nash und schütte ihm das ganze Wasser über den Kopf. »Gib’s ihr, du Bestie. Gib ihr das Wasser!«, brüllt er wie ein Wahnsinniger. So viel Zorn. Sie hätten ihn hören sollen! Mein Gott! Das ist schon was. Echte Wut. Sehen Sie? Impotenz. Er kann nichts anderes tun, als ihr beim Sterben zusehen.

Dermot stand neben dem Pfahl und beschwor unwillkürlich ein Bild von Laura Nash herauf, die sich gegen die Fesseln stemmte und blicklos auf ihren Mann starrte; sie wusste, dass ihr der Psychopath letzten Endes die Kehle durchschneiden würde. Der Gedanke erschreckte Dermot bis ins Mark. Wieder hallten Arnolds Worte in seinem Kopf wider. Die Sonne hat der Frau mächtig zugesetzt. Sogar mehr, als ich es vorausgesehen habe. Mittlerweile zittert sie heftig. Ich schaue auf die Uhr – ich habe ein Baseballspiel verpasst, aber wen kümmert’s? Ich hab kein Bier mehr, deshalb entscheide ich, den beiden ein Ende zu machen. Ich schneide Mr. Nash das Herz aus dem Leib. Einfach so. Laura zittert wie ein Schmetterling, als ich es hochhalte, um es ihr zu zeigen. Erstaunlich.

Die ausgeschabten Kerben waren auch an ihrem Pfahl in Nackenhöhe und dort, wo offenbar ihre Füße festgebunden gewesen waren.

Dermot untersuchte auch hier die trockene schwarze Erde. Scarecrow hielt etliche Meter Abstand von dem Pfahl. Dermot warf ihm einen Blick zu – saß der Hund nicht genau auf der Stelle, die Arnold als Grab der Nashs beschrieben hatte? Dermot wandte sich erneut dem Pfahl zu. Eine Vision von Arnold, der Laura die Zunge herauszieht und mit seinem Bowiemesser abschneidet, spulte sich vor seinem geistigen Auge ab.

Scarecrow winselte. Seltsam. Dermot ging zu dem Hund und zog ihn ein Stück zur Seite. Der Boden war in der letzten Zeit sicher nicht umgegraben worden, hatte jedoch im Vergleich zu der festgebackenen Erde ringsum eine deutlich andere Konsistenz. Er schätzte, dass die Fläche mit dem weicheren Boden ungefähr zwei Meter mal eins zwanzig groß war.

Er betrachtete das, was durchaus ein Grab sein konnte. Falls Arnold ihn hinters Licht führen wollte, dann hatte er mit den Detailangaben gute Arbeit geleistet.

Dermot verfluchte sich, weil er keine Schaufel mitgebracht hatte, aber er hätte nie ernsthaft geglaubt, an einen Tatort zu geraten – nicht, wenn das Buch Fiktion war. Das Letzte, womit er gerechnet hatte, war ein einsames Grab.

Der nackte Körper der Frau ist mit angetrocknetem Blut bedeckt. Ihr Mund steht offen, so dass ich den schwarzen Stumpf der Zunge deutlich sehen kann. Ich schätze, sie verdurstet, noch ehe ich mit ihr fertig bin.

Diese Worte drängten sich in Dermots Gedächtnis. Er sank auf die Knie und scharrte in der Erde. Als er ein paar Zentimeter tiefer kam, wurde die Erde noch weicher – nur die oberste Schicht war ein wenig härter.

Er hatte etwa fünfzehn Zentimeter tief gegraben, als der Hund hinter ihm aufheulte. Dermot zuckte zusammen. Scarecrow stand neben Laura Nashs Pfahl und kaute auf einem Stück Stoff.

»Hey, Scary, hör auf damit!« Der Hund trottete zum Auto. Dermot grub, so gut er es mit bloßen Händen konnte, weiter und sah sich nach einem Stock oder irgendeinem anderen Hilfsmittel um. Da war nichts.

Donner grummelte in der Ferne. Er bemerkte die dicken schwarzen Wolken, die Regen ankündigten. Vielleicht sollte er vorerst mit dem Buddeln aufhören und ein anderes Mal mit einer ordentlichen Schaufel wiederkommen. Wenn er mit den Fingern weitermachte, würde er fünf Stunden brauchen, um einen guten halben Meter tief zu kommen.

Er machte sich auf den Weg durch das Dornendickicht zurück zum Wagen. Scarecrow lag bereits im Fußraum vor dem Beifahrersitz – er war durchs offene Fenster gesprungen und sah ziemlich verängstigt aus. Seine großen Augen fixierten Dermot, während der einstieg und die Tür zuschlug. Herr und Hund waren beide verschreckt.

Auf halbem Weg die Cedar Line Road hinunter, tauchte der alte Farmer wieder auf. Dermot und der Alte schauten sich in die Augen. Dermot bremste ab, um an ihm vorbeizurollen. Warum sollte er sich mit einem alten Mann anlegen? Doch der Farmer hatte keine Lust, an die Seite zu fahren und Dermot vorbeizulassen. Er fuhr absichtlich erst nach links, dann nach rechts, um das Überholen zu verhindern. Erst an der Kreuzung Cedar Line Road und Canyon machte er Platz.

Es wurde bereits dunkel. Dermot hielt am Straßenrand und rief Neela auf dem Handy an. Sie nahm nicht ab, also hinterließ er ihr eine Nachricht.

»Hi, Neela. Ich habe die Zeit ganz vergessen, und jetzt bin ich furchtbar müde. Ich denke, ich suche mir ein Motel für die Nacht. Ich liebe dich.«

Nach wenigen Meilen kam ein Motel in Sicht. Hinter drei Zapfsäulen befanden sich einige Gästebungalows. Ein Schild auf der linken Straßenseite wies darauf hin: THE GULLET – BREAKFAST BURGERS N STUFF. Die flackernde Neonschrift auf dem Haus verkündete. DUSTYS MOTOR INN.

Dermot rollte in Richtung Eingang. Scarecrow saß wieder auf dem Beifahrersitz, hechelte aufgeregt und machte sich bereit, bei erstbester Gelegenheit aus dem Auto zu springen und die Gegend zu erkunden. »Nein, nein, Scary. Am besten, du versteckst dich. Ich werde dich später ins Zimmer schmuggeln müssen, oder du schläfst im Auto. Also, duck dich und sei brav.«

 

An der Rezeption roch es nach Qualm und ungewaschenen Körpern. Ein beißender Uringestank deutete darauf hin, dass die Toiletten nicht sehr häufig sauber gemacht wurden.

Dermot schlug auf die altmodische Glocke, die auf dem Tresen stand. Die Fernsehstimme von Jerry Springer tönte aus dem Hinterzimmer. Er klingelte noch einmal.

Jemand rief aus dem Hinterzimmer: »Ja, ja, Moment – ich komme gleich.«

Nach einigen Sekunden schlenderte ein übergewichtiger Mann in den Rezeptionsbereich. Reste eines Hamburgers klebten in dem struppigen Bart.

»Was kann ich für Sie tun, Kumpel?«

»Haben Sie ein freies Zimmer für die Nacht?«

»Klar, Kumpel. Vierzig Dollar. Zahlbar im Voraus und sofort. Dafür haben Sie einen Fernseher und einen Videorecorder.« Er zwinkerte verschwörerisch. »Es gibt eine Sammlung mit interessanten Filmen – sie brauchen nur ein Wort zu sagen. Ich bewahre sie hier hinter der Theke auf. In allen Zimmern stehen Kaffee, Tee, Süßstoff und Seife bereit – alles, was ein anspruchsvoller Reisender verlangen könnte.« Der Dicke lächelte, schob sein T-Shirt ein wenig nach oben und kratzte sich den haarigen Wanst.

Dermot zückte seine Brieftasche und nahm zwei Zwanziger heraus. Er legte das Geld auf den Tresen und zeigte dem Mann seinen Führerschein.

»Brauche ich nicht, Kumpel.« Er nahm einen Schlüssel vom Brett. »Cabana 12.«

Dermot nahm den Schlüssel entgegen.

Das Cabana war ein Blockhäuschen – ein Schlafzimmer mit verdrecktem abgewetztem Teppich und ein kleiner, stinkender Bereich, der als Badezimmer durchgehen konnte.

Dort gab es ein Waschbecken, eine Toilette ohne Brille und eine Dusche. Die Kacheln hatten von einer Art Pilz eine grünliche Färbung. Für vierzig Dollar die Nacht hätte Dermot etwas weniger Schäbiges erwartet.

Er holte Scarecrow aus dem Auto, setzte ihn aufs Bett und schloss die Tür. Es war kurz vor halb sieben – eine Zeit, zu der er Neela erreichen konnte. Er erzählte ihr, wie er den Tag verbracht hatte, ohne allzu konkret zu werden. »Wer immer dieser Arnold ist, er hat alles sehr gut geplant«, sagte er. »Aber wieso sollte er sich all diese Mühe machen, nur um mir einen Streich zu spielen? Warum? Was, zum Teufel, habe ich diesem Kerl angetan, dass er mir so höllische Angst machen will? Es ist unglaublich.«

Neela war nachdenklich. »Ich frage mich, wie der alte Knabe all das gemanagt hat.«

»Keine Ahnung«, gab Dermot zu, und als Scarecrow bellte, schimpfte er: »Sei still, Scarecrow, oder willst du im Auto schlafen?«

»Mit wem sprichst du?«, wollte Neela wissen. »Hast du einen Hund bei dir?«

»Äh … ich …« Er suchte nach einer vernünftigen Begründung für die Adoption eines zweiten Haustiers. »Vor dem Haus ist mir ein ganz drolliger Hund über den Weg gelaufen. Er sieht aus wie Toto aus dem Zauberer von Ozy ist aber dünn und knochig wie eine Vogelscheuche. Ein wirklich tragischer Fall.« Scarecrow drehte Dermot den Kopf zu, als wollte er gegen die Beschreibung protestieren. »Er sah aus, als hätte er tagelang nichts gefressen, also habe ich ihm was gegeben.«

»Willst du damit sagen, dass du das kalte Lamm an einen Köter verfüttert hast? Ich werde mich scheiden lassen. Das weißt du.«

»Er war richtig ausgehungert – es hat ihm das Leben gerettet.«

Neela beruhigte sich. »Über den Hund sprechen wir, wenn du zurück bist. Ich dulde nicht, dass er Cheesecake das Leben schwer macht.« Es entstand eine kleine Pause, dann: »Wo bist du?«

»In einem heruntergekommenen Motel namens Dusty’s Motor Inn nördlich des Topanga State Park.«

»Wenn du vorhast, die Nacht dort zu verbringen, behalt deine Jacke an. Und dusch erst wieder, wenn du daheim bist.«

 

Er ließ Scarecrow im Zimmer und ging zu Gullet, wo er fünf Hamburger, eine kleine Pizza und eine Dose Cola kaufte. Zurück in der Cabana, entfernte er die durchweichten Brötchenhälften von den Hamburgern und gab Scarecrow eine ordentliche Fleischmahlzeit. Der Hund trank gierig aus dem Waschbecken im Bad, dann machte er es sich auf den Kissen bequem. Dermot setzte sich neben ihn, blätterte im Tagebuch bis zum Ende des Kapitels von den Pfahlopfern und legte sich eine Landkarte von Kalifornien zurecht, ehe er mit dem nächsten Kapitel anfing. Zu welchem fiktionalen Tatort wurde er jetzt geführt? Er nahm sich das Kapitel vor, das mit Superkleber-Lady – eine Frau, die Arnold Maria Nestor nannte – überschrieben war.

Maria Nestor war Ende vierzig. Ungepflegt. Die großen Titten hingen auf halb sechs. Ihr ganzes Leben lang war sie eine Nutte gewesen und hatte ganz anständig verdient, bis sie vierzig wurde. Wenigstens hat sie mir das online erzählt. Danach hatte sie Schwierigkeiten, das andere Geschlecht für sich zu interessieren. Na ja, Arme wie Schweinekoteletts und Hängemöpse – wer will damit schon rummachen?

Dermot trank einen Schluck Cola und las weiter.

Sie hatte einen Umwelt-Spleen und regte sich über Fabriken auf die die Erde zerstörten. Sie liebte, wie sie sagte, Protestaktionen, legte sich vor mit Holzstämmen beladene Sattelschlepper und kettete sich an die Tore von Chemiefabriken – solche Sachen eben. »Diese verdammte Gier. Sehen Sie sich an, wie sie die Landschaft zerstören«, sagte sie. »Und das alles nur wegen des schnöden Mammons. Und die Chemikalien, Traumheiler! Sehen Sie sich an, was sie in der Welt angerichtet haben.« Ich weiß noch, dass ich überlegt habe, wie ich an ein bisschen Uran kommen könnte, um es ihr in den Mund zu stopfen und sie zu zwingen, es aufzufressen.

Dermot fand die Kohleskizze von Maria Nestors Gesicht. Auf der Zeichnung hatte sie den Mund geschlossen – eine weiße, krustige Substanz bedeckte die Lippen. Blankes Entsetzen stand ihr ins Gesicht geschrieben. »Eine, die dabei ist zu sterben«, war unter die Skizze gekritzelt.

Angeblich hatte Arnold Maria Nestor in einem kleinen Ort nicht weit von Dusty’s Motor Inn entfernt umgebracht; und zwar in einem Motelzimmer über dem Lazy Lizard, einer Bar, in der sie ihre Freier aufgegabelt hatte.

Dermot streichelte Scarecrow. »Was meinst du, Scary? Sollen wir der Superkleber-Lady nachspüren?«

Dermot packte Scarecrow in seine Jacke und setzte ihn in den Wagen, dann ging er in die Rezeption und schlug auf die Glocke. Aus dem Hinterzimmer dröhnte der Applaus einer Gameshow. Dermot klingelte erneut.

»Ja, ja, Moment, ich komme ja schon!« Der dicke Manager erschien. »Was kann ich noch für Sie tun? Es ist schon spät.« Er stocherte mit dem Nagel des kleinen Fingers zwischen den Zähnen.

»Kann ich hier irgendwo ein Bier bekommen?«

»Im Gullet – so viel Sie wollen. Allerdings keine harten Sachen.«

»Gibt’s eine Bar in der Nähe? Ich habe von einem Schuppen mit dem Namen Lazy Lizard gehört.«

»Ja, klar. Der ist drüben in Shute.«

»Wie weit ist das?«

»Zehn Minuten, würde ich sagen.« Er grinste. »Ist das alles, was ich im Moment für Sie tun kann?«

»Ja. Danke.«

Der fette Manager grinste noch mehr. »Damen auf dem Zimmer, das kostet extra zehn Dollar.«

»Ich werd’s mir merken«, erwiderte Dermot mit unbewegter Miene.

 

Das Lazy Lizard war eine alte Spelunke mit Gästezimmern. Auf dem leuchtenden Schild fehlte das zweite L und das zweite A, aber das spielte keine Rolle; es trug lediglich zu dem Bild des Verfalls bei.

In der Bar saßen junge Männer; die Frauen waren meist Flittchen mittleren Alters, und der Alkohol floss reichlich. Dermot wirkte fehl am Platze, und das blieb den Anwesenden keineswegs verborgen, als er zur Theke ging.

»Was darf ich Ihnen bringen, Fremder?«, fragte der Barmann mit dem Charme eines Charles Manson.

»Einen großen Jack Daniels und ein Bier zum Nachspülen«, antwortete Dermot.

Im nächsten Augenblick glitt eine Frau um die Sechzig auf den Barhocker neben ihm. »Du bist bestimmt aus der großen Stadt, oder?« Der übliche Anmachspruch von Nutten; sollte doch der Kerl nach Sex fragen – sie hatte nicht vor, sich von einem Undercover-Cop von der Sitte aufs Glatteis führen zu lassen.

»Stimmt«, entgegnete er.

»Wie wär’s, wenn du zwei Jacks draus machst, Big Boy?«

Dermot sah, dass der Barmann auf die Bestellung wartete und die Bourbonflasche schon über ein zweites Glas hielt. »Klar. Warum nicht?« Dermot sah den Barmann an. »Machen Sie zwei, bitte.«

Der Barmann stellte die Drinks vor sie, und die Frau fuhr mit knochigen Fingern über Dermots Schenkel. »Lust auf ein bisschen Gesellschaft später? Wäre mir eine Freude«, flüsterte sie ihm ins Ohr.

»Nichts für ungut, Süße, gerade heute Abend muss ich leider passen. Aber es war ein nettes Angebot. Danke.« Es war besser, sich nicht mit den Leuten hier zu überwerfen; nicht, wenn er auf Informationen aus war.

Sie runzelte theatralisch die Stirn. »Mann, du brichst mir das Herz.« Dann grinste sie – ihr fehlte der Schneidezahn links unten. Blaubarts Mätresse.

Dermot überblickte die Gäste in der Bar. Einige harte Biker-Jungs saßen an einem großen Tisch. Einer beugte sich vor, starrte Dermot an und sprach aus dem Mundwinkel mit seinem hässlichen Freund. Alle lachten, und Dermot wusste, dass der Witz auf seine Kosten ging, aber das scherte ihn nicht – vorausgesetzt, sie nahmen sich nicht vor, ihn später einfach nur zum Spaß totzuschlagen.

Er trank seinen Jack und ging zum Ende des Tresens, wo der Barmann Gläser spülte.

»Kann man hier ein Zimmer mieten?«, fragte er. Der Barmann musterte ihn von oben bis unten. »Nicht für heute«, fügte Dermot hinzu. »Vielleicht ein anderes Mal. Ich bin Vertreter und neu in dieser Gegend, werde aber regelmäßig hier durchkommen. Wäre ganz nützlich, wenn ich beim nächsten Mal über solche Dinge Bescheid wüsste.«

»Klar. Wir haben Zimmer für Stunden und Zimmer für eine Nacht. Sauber und anständig. Möchten Sie sich eines ansehen?«

Der Barmann nahm einen Haufen Schlüssel vom Regal, suchte einen heraus und gab ihn Dermot.

»Hinten die Treppe hinauf.«

»Danke. Es dauert nicht lang.«

»Lassen Sie sich ruhig Zeit. Aber nicht so lange, dass ich Sie holen muss.«

 

Als er hinter die Bar ging, schaute Dermot zurück zu der Nutte, die versucht hatte, mit ihm ins Geschäft zu kommen. Das bereitwillige Lächeln war verschwunden. Sie sah mit einem Mal zehn Jahre älter aus – müde, angetrunken und ohne Hoffnung.

Ich musste nicht lange fragen, um herauszufinden, wo sie herumlungerte. Ich glaube, sie dachte, ich würde ihr ein paar Drinks spendieren und sie für Sex bezahlen.

Dermot überlegte, ob die jämmerliche Frau an der Bar wusste, wie viel Glück sie gehabt hatte, weil sie an dem Abend, an dem Arnold hier gewesen war, nicht an der Theke gesessen hatte. Sofort rief er sich ins Gedächtnis, dass Arnolds Tagebuch Fiktion war. Vielleicht hatte Arnold die Bar besucht und sich hier umgesehen, ehe er das Kapitel verfasst hatte.

Dermot machte die Tür hinter sich zu.

Er befand sich in einem dunklen, kahlen Flur, in dem ein Zigaretten- neben einem Getränkeautomaten stand. Eine Holztreppe führte nach oben.

Ein schmuddeliger Teppichläufer war im oberen Flur ausgelegt, Türen wiesen in regelmäßigen Abständen davon ab. Sie waren nummeriert. Dermot schlug Arnolds Tagebuch auf, um sein Gedächtnis aufzufrischen. Sie führte uns ins Zimmer Nummer 10. Ich stand knapp hinter ihr und schnupperte an ihrem Haar. Es roch nach Peroxyd und Fleischeintopf.

Dermot hatte den Schlüssel für Nummer 8 bekommen, trotzdem versuchte es bei der 10. Die Tür war nicht abgeschlossen, und er ging hinein und knipste das Licht an.

Da war ein Bett auf der rechten Seite, ein Sessel, aus dessen Armlehne die Eingeweide herausquollen, weil jemand den Bezugsstoff mit einem Messer aufgeschlitzt hatte, stand daneben.

Er starrte erst auf das Bett, dann auf den Sessel. Arnolds Recherchen waren sehr akkurat: Rosshaar quoll aus der linken Armlehne. Und etwas Hartes klebte an der rechten.

Das Zimmer war ganz gemütlich im Vergleich zum Rest des Etablissements. Sie zog ihre Kleider aus, als ob sie es eilig hätte. Ich holte die kleine Whiskyflasche aus der Tasche. Sie lächelte, fiel in den Sessel und streckte die Hand aus. Woher sollte sie wissen, was ich in den Schnaps gemischt hatte? Ich musste lachen – sie sehnte sich so verzweifelt nach Alkohol!

Dermot kratzte an der harten Substanz an der Armlehne. Auf dem Bild, das er sich von der Frau gemacht hatte, griff sie nach dem Glas, das Whisky vermischt mit Sekundenkleber enthielt.

Sie haben ja keine Ahnung, wie schnell das Zeug hart wird. Sie keuchte und röchelte, als wäre sie zwei Wochen in der Wüste umhergeirrt. Sie hatte die Hälfte bereits geschluckt, ehe sie begriff, was los war. Ein Tropfen hing an ihrer Lippe – er war bereits fest. Es gelang ihr gerade noch, die Lippen einen kurzen Moment zu teilen, als wollte sie schreien, aber das Zeug in ihrem Mund und in der Luftröhre machte das Atmen unmöglich. Plötzlich krallte sie die Fingernägel wie eine Verrückte in ihre Lippen. Es waren künstliche Nägel, und ich beobachtete, wie einer nach dem anderen abbrach, während sie sich in dem Sessel wand. Ein dicker Tropfen Klebstoff spritzte auf die Armlehne. Ich ließ ihn dort.

Dermot nahm die Finger von dem Fleck.

Ich wusste, dass ich sie nicht in dem Zimmer liegen lassen konnte. Deshalb sah ich ihr beim Sterben zu, dann steckte ich sie in einen Sack und trug sie hinunter zu meinem Wagen. Ich fuhr ein paar Meilen und legte sie in das Grab, das ich in der Nacht zuvor ausgehoben hatte.

»Sind Sie fertig da oben, Mister?«, rief der Barmann von unten.

»Klar«, antwortete Dermot. »Bin gleich unten.«

 

Die Nutte war noch an der Bar, als Dermot zurückkehrte. Ein junger Mann in kariertem Hemd und Jeans – jung genug, um ihr Enkel zu sein – saß neben ihr. Sie raufte ihm das Haar im Nacken, als Dermot näher kam.

Er sah noch, wie sie den Achtzehnjährigen hinter sich her in Richtung Hintertreppe zog. Sie zwinkerte Dermot zu und verschwand.

Als er zu seinem Peugeot kam, saß Scarecrow folgsam auf dem Beifahrersitz und spitzte die Ohren. Er ließ den Hund heraus, damit er sich die Beine vertreten und erleichtern konnte, solange er die Koordinaten des Ortes checkte, an dem Arnold die Leiche der Nutte begraben hatte – falls es diese Leiche überhaupt gab. Das Grab war angeblich nur 4,3 Meilen in westlicher Richtung zu finden, aber es wäre nicht gerade schlau, mitten in der Nacht, ohne Schaufel und Taschenlampe nach Toten zu suchen.

Als er den Wagen wieder vor der Cabana im Dusty’s abstellte, bemerkte Dermot, wie die Vorhänge am Fenster der Rezeption ein klein wenig zur Seite geschoben wurden. Das Gesicht des fetten Managers zeigte sich – offensichtlich hoffte er auf zehn Dollar extra für »eine Dame auf dem Zimmer«. Dermot wartete, bis der Vorhang wieder an seinen Platz fiel, ehe er Scarecrow in seine Jacke wickelte und ins Zimmer trug.

Als er auf dem Bett lag, zog er in Erwägung, Neela noch einmal anzurufen, aber es war schon spät. Er würde sich am Morgen bei ihr melden, wenn er ein wenig klarer sah, was das Tagebuch betraf – ob es ein Tatsachenbericht oder fiktiv war.

 

Dermot wachte mitten in der Nacht von einem vertrauten Motorengeräusch auf dem Parkplatz auf. Er schaute auf die Uhr – es war kurz nach drei Uhr. Er sprang zum Fenster und zog den Vorhang auf. Sobald sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, sah er, dass ein Peugeot 207 ganz langsam an seinem Fenster vorbeifuhr-auf niedrigen Touren, um unnötigen Lärm zu vermeiden.

Dermot, der bis auf die Unterhose nackt war, riss die Tür auf, rannte dem Auto hinterher und stieß wilde Beschimpfungen aus. Eine Reaktion erfolgte sofort. Der Fahrer des Peugeots trat aufs Gas, raste in Richtung Highway und verschwand mit qualmenden Reifen.

»Scheiße!« Dermot atmete schwer nach der Anstrengung.

»Großartig! Jetzt sitze ich hier mit einem verdammten Hund und ohne verdammtes Fahrzeug fest.«

Während er langsam zurück zum Eingang des Motels ging, versuchte er, zu Atem zu kommen. Der Manager stand in Unterhemd und Shorts mit einer Taschenlampe in der Hand vor der Tür. In etlichen Blockhütten brannte mittlerweile Licht, und die Gäste standen an der Tür und fragten sich, was das ganze Geschrei zu bedeuten hatte.

»Haben Sie ein Problem?«, wollte der Manager wissen.

»Ja. Man hat mir mein Auto gestohlen«, erklärte Dermot. »Das ist mein Problem. Werden hier draußen viele Fahrzeuge geklaut?«

»Seit ich hier bin, kein einziges. Also seit elf Jahren. Ich schätze, Sie hatten einfach Pech.« Er lächelte.

»Haben Sie die Nummer der Polizei am Ort?«

»Klar. Aber sind Sie sicher, dass es Ihr Wagen war? Haben Sie nachgesehen?«

»Ich kenne doch mein eigenes Auto.«

»Haben Sie gesehen, wer am Steuer saß?«

»Die Scheiben sind getönt.«

»Aber die Nummernschilder haben Sie gesehen, oder?«

Dermot öffnete den Mund, hielt dann aber inne. Tatsächlich hatte er gar nichts gesehen, aber wie groß war schon die Wahrscheinlichkeit, dass es zwei identische Peugeots auf einem so abgelegenen Parkplatz gab?

»Wie wär’s, wenn wir beide nachschauen würden, bevor wir zu nachtschlafender Zeit die Cops alarmieren?«

»Warum nicht?«

Auf dem Parkplatz leuchtete der Manager die geparkten Fahrzeuge ab. Dermot sah seinen Peugeot sofort.

»Scheiße … da steht er. Es muss hier einen zweiten geben.«

»Sie können ja ihren kleinen Zwilling genauer inspizieren, aber ich gehe zurück in mein Bett. Vielleicht finden Sie eine andere Möglichkeit, sich zum Narren zu machen.« Er marschierte zurück zur Rezeption, während Dermot seinen Wagen aufschloss und einstieg. Alles sah genauso aus wie vorhin. Nach ein paar Minuten ging er in sein Zimmer und zog die Vorhänge zu. Wie groß standen die Chancen, dass zwei identische Peugeots 207 auf ein und demselben Motelparkplatz abgestellt wurden? Dermot schloss für eine Sekunde die Augen und genoss die Erleichterung, die ihn erfüllte. Er hatte nach wie vor die Möglichkeit, am Morgen diesem Nest zu entfliehen. Ehe er sich’s versah, schlief er ein.