Kapitel 5

»Also?«

Nachdem Dermot vom Joggen nach Hause gekommen war, überredete Neela ihn, sich das Manuskript noch einmal vorzunehmen. Trotz ihrer Ausbildung zur Kunstkuratorin fungierte sie als Dermots Lektorin und hatte ein ziemlich gutes Gespür dafür, was bei den Lesern ankam und was nicht. Aus diesem Grund und auch, um ihr seine Zerknirschung zu zeigen, hatte Dermot nachgegeben.

»Es ist totaler Mist. Nichts anderes. Du brauchst dir nur die Handschrift anzusehen«, antwortete Dermot.

»Was hat die Handschrift damit zu tun? Auf den Inhalt kommt es an. Der Stil eines jeden Schreibers ist so individuell wie sein Fingerabdruck.«

»Klar. Aber dieses Zeug? Ein Geistergestörter bringt einen Haufen Leute um, indem er ihre schlimmsten Albträume nachstellt. Die ganzen Details und Auswüchse – so was brauche ich nun wirklich nicht!«

»Damit hast du gerade Hitchcocks Psycho zum Schund erklärt, vom Omen und Das Schweigen der Lämmer ganz zu schweigen …«

Dermot hielt eine Hand hoch, um ihrem Redefluss Einhalt zu gebieten. »Hey, Hitchcock war einer der größten Gruselregisseure aller Zeiten. Meiner Meinung nach sind seine Filme nach wie vor unübertroffen. Omen kannst du dir an den Hut stecken – ich habe genug Satan-Filme gesehen. Das Schweigen der Lämmer ist etwas anderes – das ist etwas vollkommen Neues. Dieser Typ hier spielt weiß Gott nicht in derselben Liga.«

»Genau davon rede ich. Während du frische Luft in deine Lunge gepumpt hast, habe ich das erste und die Hälfte des zweiten Kapitels gelesen. Ich sage dir – dies ist anders als jeder andere Roman, den ich jemals gelesen habe. Das Website-Konzept ist frisch und originell. Diese brutalen Morde sind absolut gruselig, weil sie so emotionslos und teilnahmslos durchgeführt und geschildert werden. Es ist ein Tagebuch. Der Erzähler ist faszinierend, weil er weder ein Gewissen noch Erbarmen oder Mitgefühl hat. Es ist kaum zu fassen, was für grauenvolle Sachen in dem Buch passieren.«

»Eine Tautologie. Mitgefühl und Erbarmen.«

»Nicht exakt. Genau genommen wird Mitgefühl durch die Lebensumstände anderer Geschöpfe erregt. Erbarmen beinhaltet Mitgefühl und die Bereitschaft, zu helfen oder Gnade walten zu lassen.«

»Ich sehe da keinen Unterschied.«

»Deshalb bin ich die Lektorin und du der Schriftsteller. Wenn du Mitgefühl hast, dann tut dir dein Gegenüber leid, hast du hingegen Erbarmen, bist du geneigt, etwas gegen sein Unglück zu unternehmen – mit anderen Worten: Du agierst.«

Dermot lächelte. Es stimmte – Neela war eine großartige Lektorin, und er hatte den Booker Prize zum großen Teil ihrem Feingefühl für Sprache und Nuancen zu verdanken. Dass Giselle die Meriten als Cheflektorin eingeheimst hatte, machte Neela nichts aus.

»Meinetwegen. Aber ich kann dir schon nach den ersten Seiten sagen, dass das hier nicht mein Geschmack ist. Viel zu viel Gewalt. Der Kerl ist ein Rohling mit seiner Ruhe und der detailgetreuen Beschreibung des Todeskampfes unschuldiger Menschen – für ihn sind sie wie Vieh, das zur Schlachtbank geführt wird.«

»Du hast recht. Aber es ist mehr an der Sache. Meiner Ansicht nach versetzt sich der Autor in die Denkart eines Serienmörders, um zu demonstrieren, wie unbeteiligt und emotionslos ein Soziopath sein kann. Und ich denke, das ist ihm ausgezeichnet gelungen.«

»Aber der Inhalt, der Stil, die Wortwahl, der Aufbau? Es ist ein literarischer Albtraum.«

»Ganz recht. Aber genau das ist ja die Idee. Würdest du erwarten, dass ein Serienmörder die Sprachgewalt eines Truman Capote besitzt? Oder eines Stephen King? Nein. Denk nur an Norman Bates und Charlie Manson.«

»Serienmörder sind im Allgemeinen hochintelligent, männlich und weiß – Menschen, die ihre mörderischen Sehnsüchte ganz präzise beschreiben können.«

»Stimmt! Ich glaube, der Autor hat diese Sehnsüchte und lebt sie durch die Handlungen seiner Hauptfigur aus, eines weitaus schlichteren Gemüts.«

Dermot zuckte mit den Schultern. »Dieser Schrott interessiert vielleicht einen Psychiater oder jemanden, der eine Doktorarbeit in Kriminologie verfasst, aber für mich ist das nichts.«

»Es könnte aber sein, dass es viele andere Leser fasziniert. Damit meine ich, dass es sich gut verkaufen könnte. Richtig gut. Sieh dir Kaltblütig an.«

»Selbst wenn Capote einen Roman über die sexuellen Neigungen von Bisamratten geschrieben hätte, würde ich mir ein Exemplar kaufen. Nur, weil es Capote ist.«

»Kaltblütig basiert auf Tatsachen. Sei nicht so ein Snob. Liebling.«

»Hey, ich habe den Booker Prize! Ich darf snobistisch sein.«

Neela umarmte ihn – das zumindest war ein stichhaltiges Argument.

»Ich bitte dich lediglich, noch ein paar Kapitel zu lesen. Wer weiß – vielleicht bringt es dich auf eine Idee.«

»Glaubst du etwa, dass ich Horrorschund schreiben sollte?«

»Ganz und gar nicht. Aber denk darüber nach, was ich über die Verkäuflichkeit solcher Bücher gesagt habe. Du kannst dich nicht in einen literarischen Kokon einspinnen und außer Acht lassen, wofür der durchschnittliche Leser bereit ist, Geld auszugeben.«

»Hey …«

»Ja, ich weiß. Du hast mittlerweile drei Millionen Bücher verkauft und den Booker Prize verliehen bekommen. Aber Stephen King hat hundertmal so viel verkauft, weil er seinen Markt genau kennt. Wenn du den Respekt und die Wertschätzung der literarischen Gesellschaft haben willst, bitte … Mach so weiter und warte noch zehn Jahre auf eine geeignete Inspiration. Wieso klinkst du dich in dieser Zeit nicht für ein Jahr aus und schreibst etwas weniger Anspruchsvolles?« Sie schlang den Arm um Dermots Hals, setzte sich auf seinen Schoß und schmiegte sich an ihn. »Lies einfach noch ein paar Kapitel.« Sie küsste ihn zärtlich. »Wenn du mir dann sagen kannst, dass ich mich irre, lass ich dich damit in Ruhe.«

Die Berührung ihrer Lippen reizte ihn, und er küsste sie auf den Hals. »Okay. Ich lese es. Das tue ich nur für dich.«

»Versprochen?«, hakte sie nach und lehnte sich an ihn, während sie die Hand zwischen seine Beine gleiten ließ.

Ihre Körperwärme, der Duft von Gautier auf ihrer Haut, der Geruch ihres Haars – er hatte anderes im Sinn als das Tagebuch, genau wie sie. Innerhalb von Sekunden waren sie bis auf die Unterwäsche ausgezogen und küssten sich leidenschaftlich.

Neela setzte sich rittlings auf seinen Schoß und legte die Arme um seinen Hals, dann schob sie mit einer Hand ihr Höschen beiseite, damit Dermot in sie eindringen konnte. Nach einer Sekunde löste er sich von ihr.

»Ich laufe schnell nach oben und hole …«

»Hey, hey – das brauchen wir nicht«, flüsterte sie ihm ins Ohr und bewegte den Oberkörper hin und her.

»Neela. Es dauert nur eine Sekunde.«

Mit rauer Stimme wisperte sie: »Es ist okay.«

»Nein, Neela – ich meine es ernst.« Er schob sie so behutsam wie möglich von sich.

Sie erstarrte und funkelte ihn zornig an.

»Ich ertrage das nicht mehr, Dermot. Ich wünsche mir Kinder. Hast du mich verstanden? Es ist an der Zeit. Wenn du keine Kinder haben willst, dann halt mich nicht länger hin. Es reicht!«

Sie erhob sich und lief ins Badezimmer.

»Neela! Du weißt, wie die Dinge stehen. Wir sind augenblicklich nicht in der Position, an Kinder zu denken. Wir haben nichts – kein Geld. Wir sind bis zur Halskrause verschuldet. Esther schreit nach Text, Text und noch mal Text, und ich kann nichts vorweisen. Wasserman liegt ihr in den Ohren, weil er endlich etwas sehen will für sein Geld. Wir haben seinen Vorschuss komplett ausgegeben, und mein Kopf ist nach wie vor leer! Sei doch vernünftig. Wir haben ein Problem!«

Als sie die Badezimmertür erreichte, wirbelte sie zu ihm herum. »Was du nicht sagst! Du bildest dir vielleicht ein, eine Art literarischer Lance Armstrong zu sein, der jedes Jahr den großen Preis gewinnt, aber das ist im Grunde nicht möglich. Vielleicht kriegst du wieder eine Auszeichnung, wahrscheinlich wirst du eine bekommen, aber bis dahin dauert es noch Jahre. In der Zwischenzeit brauchen wir Geld! Und was noch wichtiger ist – du musst eines meiner Eier befruchten, ehe sie das Verfallsdatum erreichen.«

Sie knallte die Tür so heftig zu, dass die Wände zitterten.