Kapitel 7
Dermot saß Esther Bloom gegenüber und gab sich alle Mühe, gelassen zu erscheinen. Esther musterte ihn forschend. Sie war sechzig Jahre alt, Jüdin, etwas über eins fünfzig groß und fast zweihundert Pfund schwer. Das weiße Haar hatte sie zu einem Pferdeschwanz zusammengefasst, der beinahe bis zur Taille reichte. Sie roch eine Lüge hundert Meter gegen den Wind. Schon in dem Augenblick, in dem Dermot ihr Büro betreten und sie mit einer Umarmung begrüßt hatte, war ihr trotz seines strahlenden, übertrieben entspannten Lächelns klar gewesen, dass etwas nicht stimmte.
Esther war die Topagentin an der Westküste. Sie hatte sich vor fünfundzwanzig Jahren von Manton Gray & Associates getrennt, um ihre eigene Literaturagentur zu gründen – Bloom & Associates. Sie hatte keine Partner, fand aber, dass dieser Firmenname gut klang. Sie hatte es ihren persönlichen Klienten überlassen, ob sie bei Manton Gray bleiben oder sich weiterhin von ihr vertreten lassen wollten. Bis auf einen waren ihr alle treu geblieben – die Ausnahme war der Ehemann einer Seniorpartnerin.
Esther konnte Autoren zu ihrer Klientel zählen, um die sie alle beneideten. Geld spielte bei ihrer Arbeit längst keine Rolle mehr – sie interessierte nur noch der persönliche Erfolg.
»Esther, du weißt, dass ich dir etwas liefern könnte. Aber so arbeite ich nicht gern. Der Text ist einfach noch nicht fertig, und ich will nicht, dass du ihn in dieser Fassung zu lesen bekommst.«
Esther strich mit der Hand über den antiken Schreibtisch, als müsste sie ein Tischtuch glätten. Sie schwieg; ihr entging sein Unbehagen, das er zu überspielen versuchte, keineswegs. Das Schweigen war zu viel für ihn.
»Es ist alles da«, behauptete er und tippte sich an die Stirn. »Das meiste davon steht schon auf Papier.« Was sollte er noch sagen? »Ich meine das Konzept und die Gliederung. Die Charaktere. Alles. Ich brauche nur noch ein paar Monate, um das Ganze mit Leben zu füllen.«
Esther glaubte ihm kein Wort. Wie oft hatte sie denselben Quatsch schon von anderen Schriftstellern gehört? Tatsache war, dass sie mit ihm fühlen konnte und an Dermots Brillanz glaubte. Nicht umsonst war er für Beneath the Level für den Whiting- und den Hemingway-Preis vorgeschlagen gewesen und hatte den Booker für Incoming Tide bekommen. Deshalb hatte sie die Zügel im letzten halben Jahr lockergelassen, aber mittlerweile war es an der Zeit, ihm Feuer unterm Hintern zu machen – wenigstens ein kleines.
»Wir sprechen hier von einer Menge Geld, Dermot. Wasserman findet, dass er lange genug gewartet hat. Eine Million ist ein stattlicher Vorschuss, wenn man bedenkt, dass sich das Filmprojekt beim letzten Mal zerschlagen hat.«
»Verdammt, Esther. Wie viele intelligente und preisgekrönte Romane werden heutzutage schon verfilmt? Der durchschnittliche Kinogänger ist ein Vierzehnjähriger, der sich ansonsten die Zeit mit dem Gameboy vertreibt, wenn er sich nicht die Simpsons im Fernsehen ansieht oder sich einen runterholt.«
»Stimmt. Aber du kannst nicht von Dans Kohle leben und nichts dafür tun. Ich bin einig mit ihm – achtzehn Monate sind eine sehr lange Zeit. Er muss sich vor seinem Vorstand rechtfertigen, und das heißt, dass er wenigstens ein paar Seiten vorweisen muss.«
Dermot trank einen Schluck von seinem Glenlivet Single Malt und zuckte lässig mit den Achseln.
»Ich habe verstanden, Esther, glaube mir. Wenn Giselle noch da wäre, hättest du schon vor drei Monaten etwas bekommen. Aber sie ist weg, und so gut Neela auch sein mag – sie ist nicht Giselle. Sie versteht meine Diktion einfach nicht so gut.« Er grinste verschmitzt. »Wenn du vorhast, das jemals an Neela zu verraten, muss ich dich …«
»Musst du mich töten. Ein uralter Witz.« Sie trank ihr Glas aus. »Sieh mal, Dermot – ich weiß, dass du nach Giselles Tod eine schwere Zeit durchgemacht hast. Ihr beide wart das beste literarische Team, mit dem ich seit Jahren zusammenarbeiten durfte. Und ich weiß, wie nah ihr euch gestanden habt. Aber es wird Zeit, dass du weitermachst und begreifst, dass die Chancen, noch einmal eine Lektorin ihres Kalibers zu finden, eins zu tausend stehen. Neela ist gut, wenn auch ein wenig amateurhaft. Ich denke sehr wohl, dass sie deine Diktion versteht; du musst ihr nur etwas geben, womit sie arbeiten kann.«
Dermot nickte. Das stimmte alles. Das Jahr, in dem er mit Giselle zusammengearbeitet hatte, war großartig gewesen. Jeder Tag mit ihr war ein Festtag. Wäre er zu der Zeit nicht verrückt nach Neela gewesen, hätte er sich Hals über Kopf in Giselle verliebt. Wahrscheinlich hatte er das auch so getan und seine Gefühle vor sich selbst verleugnet. Und da war dieser eine Abend …
»Wie hält sich Nick eigentlich?« Esther holte Dermot zurück in die Wirklichkeit, in eine Wirklichkeit, die nicht nach Bulgaris White Tea duftete.
»Er begräbt seinen Kummer in Arbeit. Er handelt noch immer mit Kunst. Allerdings nur auf Kommission. Er wird im Auftrag von Leuten tätig, die mehr Geld haben, als sie in drei Menschenleben ausgeben können. Und dabei sackt er selbst ganz schöne Summen ein. Es scheint ihm recht gut zu gehen. Aber vielleicht rudert er ja unter der Wasseroberfläche wild herum. Wer weiß?«
»Und ertrinkt, ohne sich bemerkbar zu machen? Hoffentlich nicht. Ich habe großen Respekt vor ihm. Er ist großartig mit ihrem Tod umgegangen. Und dann noch die Tragödie mit den Zwillingen!«
Dermot war froh, Esther auf ein anderes Thema gebracht zu haben. Doch jetzt verstummte sie. Er setzte sein Glas an die Lippen, ehe er merkte, dass es längst leer war. Esther starrte ihn unverwandt an. Irgendwann richtete sie den Blick auf Dermots Kroko-Aktentasche, die nicht richtig geschlossen war. Sie entdeckte ein Manuskript – Dermot hatte Arnolds Tagebuch mitgenommen, um in der U-Bahn darin zu lesen.
»Ist das der erste grobe Entwurf, von dem du gesprochen hast – der, den ich nicht zu Gesicht bekommen soll?«
Er ergriff die Gelegenheit, sich herauszureden, beim Schöpfe, auch wenn er auf Dauer nicht damit durchkam. Zumindest konnte er ein wenig Zeit gewinnen.
»Um ehrlich zu sein, ja«, log er.
Esther streckte die Hand aus. »Darf ich?«
»Mir wäre es lieber, du würdest dir das nicht ansehen. Wie gesagt – der Text ist nicht ausgreift und noch nicht einmal für deine Augen geeignet.«
»Nicht einmal für meine Augen? Demnach bin ich eine unterbelichtete Literaturagentin, die nicht zwischen einem groben Entwurf und einer letzten Fassung unterscheiden kann?«
»Nein, nein. Das hast du vollkommen falsch verstanden. Diese Kapitel sind nicht gut genug für dich. Ich möchte dich mit etwas Großartigem überraschen, und ich verspreche dir, du wirst nicht enttäuscht. Das kannst du Dan ausrichten – es wird wie die Lizenz zum Gelddrucken.«
»Warum hast du das Manuskript dann mitgebracht?«
»Manchmal fällt mir etwas Besseres ein, und ich notiere meine Gedanken für eine Neufassung gleich an der richtigen Stelle.«
»Das verstehe ich. Also darf ich mir den Text jetzt nicht ansehen, oder? Bist du sicher, dass ich nicht einmal einen klitzekleinen Blick darauf werfen kann?«
»Lieber nicht. Vertrau mir, Esther.«
Sie musste sich die vorübergehende Niederlage eingestehen. »Also schön. Ich halte dir Dan für weitere drei Monate, so gut ich kann, vom Leibe. Dann muss ich etwas sehen. Basta. Sorg dafür, dass der Text bis dahin fertig ist, okay?«
Was sollte er darauf sagen? »Klar, Esther. Drei Monate.«
Dermot nahm die Red Line von Wilshire/Normandie nach Hause. Eigentlich hatte er keine Lust auf Arnolds Tagebuch, doch da er die LA Times schon vorher gelesen hatte, nahm er widerwillig das Manuskript aus seiner Aktentasche und blätterte zu der Stelle, an der er aufgehört hatte.
»Meine Absicht war, Leid über andere zu bringen, und zwar im selben Maße, wie ich es erdulden musste. Für alle, die mit Mühsal beladen sind, kommt die Erlösung. Leid bringt Erlösung. Kein Mensch weiß, was echte Qualen sind, wenn er nie einen wahren Verlust erlitten hat.«
Dermot atmete tief durch. Dieser Unsinn war kaum zu verkraften. Aber er hatte es Neela versprochen, also hielt er durch.
Als der Zug im MacArthur Park hielt, stand kaum jemand auf dem Bahnsteig, um einzusteigen. Die Türen glitten auf, doch Dermot achtete nicht darauf, stattdessen las er: »Leid. Meine Parole. Ich muss anderen zeigen, was echtes Leid ist. Sie zusehen lassen, wie sich Unschuldige quälen.«
Kurz bevor die Türen zugingen, schlüpfte ein Mann ins Abteil und setzte sich neben Dermot, obwohl mindestens sechzig andere Plätze frei waren.
Dermot versuchte, den Störenfried zu ignorieren, und las weiter, obwohl ihm der Kerl mächtig auf die Nerven ging und starken Körpergeruch verströmte.
»Ich musste mit ansehen, wie meine Lieben starben. Und jetzt möchte ich anderen helfen, den Moment des eigenen Todes schätzen zu lernen.«
»Gutes Buch, wie?«, fragte der Stadtstreicher und grinste wie ein Idiot. »Hinten sind Bilder.«
Dermot schaute auf. Die Sprechweise überraschte ihn. Der Typ sah aus, als wäre er über sechzig, trotzdem redete er wie ein Kind, wenn auch mit tiefer Stimme. Von welchen Bildern redete er? Dermot hatte keine in dem Manuskript gesehen.
Der Zug bremste ab, als er sich der Station 7th Street näherte.
»Haben Sie mir diese Seiten gebracht?«, wollte Dermot wissen und hielt das Manuskript in die Höhe.
Der alte Mann griente unbeirrt und zeigte die vom Nikotin gefleckten Zähne. Dann kicherte er wie ein Achtjähriger. »Ich schätze schon, Mr. Nolan.«
Der Zug hielt, die Türen öffneten sich. Dermot und der komische Kauz starrten sich unverwandt an.
»Haben Sie das geschrieben?«
Keine Antwort.
»Ist Ihr Name Arnold?«
Wieder ein Grinsen und ein leises Lachen. Dermot wollte noch mehr Fragen stellen. Doch als sich die Türen schlössen, sprang der Kerl auf und zwängte sich in der letzten Sekunde ins Freie.
»Fang mich doch!«, rief er vergnügt wie ein Junge auf dem Schulhof. Dermot machte einen Satz, aber die Tür war bereits geschlossen. Der alte Mann presste das schmutzige Gesicht an die Fensterscheibe. Die Augen traten hervor, die Zunge leckte am Glas – Zähne und Zahnfleisch waren entblößt.
Wieder rollte der Zug an. Dermot beobachtete, wie der Penner immer kleiner wurde, bis der Zug in den Tunnel raste. Der Alte winkte.
»Und dann?«, fragte Neela, als sie zwei Gläser Shaw and Smith Sauvignon blanc einschenkte.
»Dann? Nichts. Ich bin am Pershing ausgestiegen und zurück zur Seventh gelaufen, aber von ihm war keine Spur zu sehen. Fast eine Stunde bin ich umhergelaufen.« Dermot trank einen Schluck Wein und setzte sich. »Es war …« Erfand nicht den richtigen Begriff. »Ich wäre beinahe ausgeflippt. Das unheimliche Sado-Zeug zu lesen, wenn der Spinner direkt neben mir sitzt und mich wie ein Tölpel anstarrt … Er hätte unter hundert freien Plätzen wählen können, und er rückt mir derart auf den Pelz! Und plötzlich springt er auf wie ein Kaninchen und macht sich aus dem Staub.«
Neela suchte nach den passenden Worten. »In LA gibt es bestimmt zehntausend Obdachlose, Liebling. Und weißt du, wie viele davon am Pershing Square herumhängen? Hunderte. Wie hoch stehen deiner Meinung nach die Chancen, dass er derselbe Kerl war, der dir das Manuskript gebracht hat? Komm schon – du hast ihn nur einmal gesehen, kurz bevor er fortgelaufen ist. Könntest du dich nicht geirrt haben?«
Für einen Moment erwog Dermot, seinen Polizei-Kumpel Mike Kandinski anzurufen und zu fragen, was er von alldem hielt. Doch dann verwarf er den Gedanken – es war besser, die Sache vorerst unter Verschluss zu halten.
»Warum setzt er sich dann direkt neben mich – in einem leeren Abteil? Er hat mich angeglotzt wie ein zurückgebliebener Trottel. Woher kannte er meinen Namen, wenn es nicht derselbe Typ war?«
»Du bist prominent, Dermot! Finde dich damit ab.« Sie dachte nach. »Okay. Vielleicht war er nur bekloppt.«
»Danke.« Damit quittierte Dermot ihren kleinen Scherz.
»Du hast gesagt, er hat geredet wie ein Schwachkopf – ein Kind. Wie konnte er, wenn er zurückgeblieben ist, einen Roman verfassen?«
»Das ist mir auch ein Rätsel«, räumte Dermot ein. »Aber so muss es sein. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein Stadtstreicher einen Booker-Prize-Gewinner vom Sehen kennt.«
Neela lächelte, und Dermot tat es ihr gleich. »Wahrscheinlich messe ich der Sache zu viel Bedeutung bei und bin selbst ein Dummkopf.« Er entspannte sich und zog Neela auf seinen Schoß.