Kapitel 10

Abel Conway hielt sein Taxi am Straßenrand an und spähte durch die Windschutzscheibe hinauf zu dem hässlichen Gebäudekomplex.

Normalerweise machte er keine Fahrten östlich von North Hollywood, aber an diesem Morgen war nicht viel los gewesen, und er hatte den Auftrag von der Dienststelle angenommen. Jetzt bereute er das.

Wieder warf er einen Blick auf das Hochhaus. Hier konnte er nicht einfach auf die Hupe drücken und warten. Das alte Mädchen würde im siebzehnten Stock nichts davon mitbekommen; nicht einmal wenn sie im Parterre zur Straße hin wohnen würde, könnte sie ihn hören. Artie hatte ihm gesagt, dass sie über siebzig und praktisch taub war und keinen Schritt ohne ihre Gehhilfe vorwärts kam.

»Scheiße«, schimpfte Abel. Der siebzehnte Stock – genauso gut hätte man ihm ausrichten können, dass eine Million Dollar auf dem Gipfel des Everest auf ihn wartete. Abel litt unter Höhenangst. Als Kind war er nie auf Bäume geklettert, bis heute vermied er, aus Fenstern in oberen Etagen zu sehen, und er hatte sich noch nie in ein Flugzeug gesetzt. Schon wenn er auf eine Leiter stieg, um die Decke zu streichen, hatte er ein flaues Gefühl in der Magengegend und bekam Panik. In einem immer wiederkehrenden Albtraum, den er als Kind gehabt hatte, hatte er auf einem Fahnenmast gestanden, und, so weit das Auge reichte, waren nur bauschige Wolken zu sehen gewesen. Der Wind blies ihm ins Gesicht und machte es ihm schwer, das Gleichgewicht zu halten. Der Wind wurde stärker, und die Angst wurde zur Panik. Dann zu blankem Grauen. Das Ende des Traumes variierte. In einer Version fegte ein Airbus an ihm vorbei – ein Flügel berührte beinahe sein Gesicht. In einer anderen schoss ein riesiger Kondor auf ihn nieder, und er stürzte hintenüber in die Tiefe.

»Wenn du nicht ohne meine Hilfe zu dem verdammten Taxi kommst, dann ruf dir erst keines«, murrte er vor sich hin und stieg aus, um sich den Eingang des schäbigen Gebäudes genauer anzusehen. Im Grunde war es so heruntergekommen, dass er sich fragte, warum es nicht längst für unbewohnbar erklärt worden war und wieso es überhaupt noch jemanden gab, der hier hausen wollte.

Conway stieß die große Doppeltür auf und betrat die Lobby. Überall war Abfall verstreut – leere Flaschen, Pizzaschachteln, sogar ein benutztes Kondom. Bis Hüfthöhe zierten Urinflecken die Wände und halb kristallisierte, gelbliche Pfützen den Boden.

Abel beäugte die Knöpfe am Lift. Dies war der Augenblick der Entscheidung – hinauffahren und vielleicht dreißig Dollar einstreichen oder die ganze Sache vergessen und die Fahrdienstleitung so sehr verärgern, dass sie ihn eine ganze Woche von der Verteilerliste strichen? Er holte tief Luft und drückte auf den Aufwärtsknopf. Ein Ächzen drang aus den Eingeweiden des Hauses.

»Tascos Schwester erfüllt dir jeden Wunsch«, verkündete ein relativ frisches Graffito. Darunter war eine Handynummer in das Metall geritzt. »Schneejunkie? Blowjob zu Weihnachten«, stand weiter oben.

Während er wartete, ging ihm durch den Kopf, dass ihm bisher keine Menschenseele in diesem Gebäude begegnet war. Das war doch nicht möglich! Bestimmt hätte Artie Bescheid gewusst, wenn das Haus nicht mehr bewohnt wäre. Die alte Frau musste irgendwo da oben sein.

Der Aufzug hielt mit einem dumpfen Poltern im Erdgeschoss, quälend langsam öffneten sich die Türen.

Hier war alles schauerlich unheimlich. Abel rechnete fast damit, dass ein Zombie mit blutverschmierter Kettensäge aus dem Fahrstuhl springen würde. Doch mit Untoten käme er zurecht – den Lift zu betreten und nach oben zu fahren, das war etwas ganz anderes.

Die Tür glitt zu. Abel drückte, tief und regelmäßig durchatmend, auf den Knopf für das siebzehnte Stockwerk. Ein Freund hatte ihm kürzlich geraten, kontrolliert zu atmen; damit könne er sich entspannen und besser mit seiner Phobie fertig werden. Der Aufzug kroch holpernd nach oben. Trotz der Atemübung schwitzte Conway wie ein Schwein. Je früher er mit der alten Lady auf dem Rücksitz von hier verschwinden konnte, umso besser.

Der Lift erschauerte und blieb stehen. Abels Blick huschte zu der Anzeigetafel. Er befand sich erst in der dreizehnten Etage. »Scheiße, Scheiße, Scheiße!«, fluchte er und schlug auf den richtigen Knopf – ohne Erfolg. Leise zischend öffneten sich die Türen.

Abel streckte den Kopf in den Flur und spähte nach rechts und links. Teppichboden oder anständige Möbel hatte er nicht erwartet, aber genauso wenig das Loch in der Mauer; dort fehlte ein Fenster samt Rahmen.

Der Wind fegte heulend durch den Korridor und wirbelte Staub, Papierfetzen und anderen Müll durch die Luft.

Was sollte er tun? Wieder nach unten fahren? Zu Fuß in den siebzehnten Stock gehen und die alte Lady suchen? Noch während er überlegte, glitten die Türen langsam zu, und Abel zog mit einer gewissen Erleichterung den Kopf zurück.

Die Kabine ruckelte und setzte den Weg nach oben fort. Abel lächelte. Es war dämlich, sich derart zu ängstigen. Er brauchte sich bloß seine Situation deutlich vor Augen zu führen. Wie viele Aufzugabstürze, bei denen die Insassen ums Leben gekommen waren, hatte es schon gegeben? Ungefähr so viele wie Flugzeugabstürze … aber weltweit kam beinahe jede Woche eine Maschine vom Himmel …

Zum zweiten Mal wurde Abel von einem mächtigen Ruck erschreckt, als der Lift anhielt. Diesmal in der sechzehnten Etage.

»Du willst mich wohl verarschen, wie?«, brummte er und sah sich um.

Dieser Flur war noch dreckiger und versiffter als der letzte. Graffiti überall, dazwischen die Tags von verschiedenen Gangs. Eine alte Mülltonne stand neben dem Aufzug, und es stank extrem nach Erbrochenem.

Abel entschied, über die Treppe ins nächste Stockwerk zu gehen. Als er den Lift verließ, fiel ihm auf, dass auch hier das Fenster am Ende des Korridors fehlte. Er stieß die schmuddelige Tür zu dem Treppenhaus mit den Betonstufen auf.

Es war keine Überraschung, dass das siebzehnte Stockwerk aussah wie die anderen. Kein Fenster, starke Zugluft und jede Menge Abfall. Darunter eine tote Ratte. Hier konnte doch niemand leben, oder? Möglicherweise hatte die alte Lady keine andere Wahl. Fast empfand er Mitleid, als er den Flur entlanglief und die Namensschilder neben den Türen las.

Vor der Tür mit dem Namen »Havencamp« blieb er stehen. »Das ist es.«

Er drückte auf den Klingelknopf, und da er keine Glocke in der Wohnung hörte, klopfte er an und rief: »Miss Havencamp? Ihr Taxi ist da!«

Alles blieb still, nur der Wind fegte ihm Abfall vor die Füße.

»Letzte Gelegenheit, Lady. Öffnen Sie, oder ich bin weg. Hören Sie mich?«

In diesem Moment ertönte ein tiefes Grollen am Ende des Flurs. Abel riss den Kopf herum und entdeckte sie – zwei bullige Rottweiler. Sie zitterten vor Erregung und warteten auf den Befehl zum Angriff. Die gefletschten scharfen Zähne wirkten mehr als bedrohlich.

Abel senkte den Blick – er hatte gelernt, dass man bösartigen Hunden nicht in die Augen sehen durfte, wenn man sie nicht noch mehr aufregen wollte. Ohnehin hätte er keine Chance, wenn sie sich auf ihn stürzen würden. Was hatten zwei Kampfhunde hier im siebzehnten Stock eines verwahrlosten Hauses zu suchen? Wo kamen sie her? Und wie konnte er ihnen entfliehen?

Beide spitzten wie auf einen unhörbaren Befehl die Ohren und kamen ein paar Schritte näher, ehe sie abrupt stehen blieben.

Okay, an ihnen vorbeizuschleichen war keine Option – ebenso wenig wie eine Konfrontation, obwohl ihm die Mülltonne als Schutzschild dienen könnte, falls er sie überhaupt rechtzeitig erreichte.

Abel bemühte sich um ein beschwichtigendes Lächeln, ohne die Köter direkt anzusehen. »Ganz ruhig, Jungs«, flötete er in dem Versuch, seine Angst zu verbergen. »Wo kommt ihr her? Habt ihr euer Herrchen verloren? Wie heißt ihr? Mann, ihr beide seht verdammt niedlich aus.«

Er rückte Zentimeter für Zentimeter nach rechts, griff nach der Mülltonne und hob sie langsam an, bis er sie vor der Brust hatte. Die Hunde rührten sich nicht. Sieben, acht Meter trennten sie. Es blieb Conway nichts anderes übrig, als sich behutsam auf den Aufzug zuzubewegen und zu hoffen, dass er hineinkam, bevor sich die Hunde auf ihn stürzten und ihn zerfleischten. Und dann musste das Ding auch noch gleich funktionieren!

Noch drei Meter. Zwei fünfzig. Es sah wirklich gut aus. Die Hunde waren nach wie vor reglos. Zwei, einen, einen halben Meter. Noch immer rührten sich die Bestien nicht.

Abel streckte die Hand nach dem Rufknopf aus. Plötzlich hörte er ein lautes Pling!, und die Türen öffneten sich, ohne dass er den Knopf berührt hatte. Er atmete erleichtert auf. Das verdammte Ding fuhr noch, Gott sei Dank. Vielleicht reagierte es noch auf seinen Befehl von vorhin. Er bewegte sich rückwärts auf den Lift zu und redete dabei weiterhin auf die Hunde ein. »So ist es gut, Jungs. Ich hab noch etwas zu tun. Einen schönen Tag wünsche ich euch.«

In dem Augenblick, in dem sein rechter Fuß den Kabinenboden berührte, vernahm er das Knurren. Er brauchte sich nicht umzudrehen, um zu wissen, dass er in der Falle saß – im Aufzug waren noch zwei Hunde.

Hinter ihm zwei Köter im Aufzug, zwei andere im Korridor vor dem Zugang zur Treppe.

»Ich hasse mein Leben.«

Was, zum Teufel, blieb ihm jetzt noch? Nichts. Das Dilemma aussitzen? Wäre möglich. Aber damit würde er lediglich darauf warten, in Stücke gerissen zu werden. Offenbar hatte ihn jemand hergelockt und das Ganze inszeniert. Aber wer und warum? Vielleicht seine Ex?

»Hey, Gina?«, rief er. »Bist du das? Hör mal, ich weiß, dass ich mich beschissen verhalten habe. Ich hätte aufhören sollen, als du es gesagt hast. Das ist mir jetzt klar. Aber, hey, bis zu dem Moment, schien es, als wären wir beide dabei …« Er besann sich und lächelte dümmlich. »Woher hätte ich das wissen sollen?«

Keine Antwort. Nur das Knurren der Hunde, das gelegentliche Tropfen von Speichel auf den nackten Beton und der Wind, der durch die Fensteröffnung pfiff, waren zu hören.

Das Fenster – es war die einzig verbliebene Möglichkeit. Abel konnte kaum fassen, dass er das überhaupt in Betracht zog. Was sollte er machen? Fliegen wie ein Vögelchen?

Eine halbe Minute verstrich. Plötzlich spitzten die Köter wieder die Ohren. Sie bebten vor Anspannung, und Abel wusste, dass es das Fenster sein musste. Zur Hölle, er würde sowieso auf grausame Weise sterben. Vielleicht gelang es ihm, zum Nachbargebäude zu springen. Wäre ein Feuer ausgebrochen, würde er auch lieber aus dem Fenster springen, als bei lebendigem Leibe zu verbrennen – und was war jetzt anders?

Es kostete ihn zwei Minuten, rückwärts zum Fenster zu kommen. Er spürte, wie ihm der Wind in den Nacken blies. Er drehte sich vorsichtig zur Seite und spähte in den Abgrund. Genauso gut hätte er von der Plattform des Empire State Buildings hinunterschauen können. Es kam gar nicht in Frage, dass er sich da hinauswagte. Auf keinen Fall. Er war kreidebleich vor Angst. Er würde warten. Das musste er. Möglicherweise griffen ihn die Bestien gar nicht an. Wer weiß?

Plötzlich kamen alle vier Hunde näher. An ihrer Absicht konnte kein Zweifel bestehen. Sie rückten ihm auf den Pelz, um ihn zu töten. Welche Chancen hätte er gegen sie? Mit einem wäre er vielleicht noch fertig geworden, aber mit vieren?

Instinktiv hob er die Hand zum Hals – die Kehle wäre das erste Angriffsziel – und spähte wieder durch das Fenster. Das Gebäude nebenan war ebenfalls ein verlassenes Mietshaus, ganz ähnlich dem, in dem er stand. Doch an der Seite war eine Feuerleiter befestigt, die über die gesamte Höhe reichte. Die Lücke zwischen den Häusern war höchstens drei Meter breit. Konnte er das schaffen?

Die Köter waren direkt hinter ihm, als er auf das Sims stieg. Sein Herz raste, als würde es gleich explodieren. Er schwankte leicht, ehe er sich an beiden Seiten der Öffnung abstützte. Er konzentrierte sich eisern auf die Feuerleiter gegenüber.

Na dann, los. Abel bekreuzigte sich, Tränen flossen ihm über die Wangen. Leb wohl, grausame Welt, dachte er und verzog das Gesicht.

Die Hunde sprangen hoch. Abel setzte an.

Er flog mit außergewöhnlicher Anmut durch die Luft, wenn man bedachte, dass er fünfundvierzig Jahre alt und vollkommen außer Form war. Der Selbsterhaltungstrieb bewirkt Wunder. Er macht Unmögliches möglich. Seine rechte Hand berührte das untere Metallgeländer der Feuerleiter, und seine Finger schlössen sich um eine Sprosse. Die linke Hand rutschte ab, und er schwang wie eine Marionette dreimal hin und her, bevor er die Leiter mit der freien Hand zu fassen bekam. Er konnte nicht glauben, dass er noch am Leben war, und schrie vor Freude, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, dass er sich fünfundvierzig Meter über dem Erdboden befand.

Dann ließ er den Tränen freien Lauf. Er hatte seine Phobie besiegt. Es war ein großartiger Moment!

Whoaah! Ich hab’s geschafft! Verdammt, ich hab’s geschafft. Nie wieder werde ich mich vor der Höhe fürchten. Bestimmt nicht. Jetzt gelingt mir alles!

Er schaute zu dem Fenster des anderen Hauses auf – die vier Höllenhunde starrten auf ihn nieder; sie schnappten in die Luft und knurrten wütend. »Schätze, ich hab euch enttäuscht, Jungs«, spottete er. »Geht und fresst Miss Havencamp – erste Tür links hinter euch«, schrie er.

Während Abel das andere Bein auf die Leiter schwang, hörte er eine leise, kehlige Stimme.

»Sehr eindrucksvoll, Mr. Conway.«

Die Stimme überraschte ihn. Er schaute sich um. Woher, um alles in der Welt …? An den Fenstern über und unter ihm war niemand.

»In deinem Alter und bei dem Gewicht hätte ich dir das nicht zugetraut. Aber so wird es erst interessant. Du erstaunst mich.«

Abels Blick suchte beide Gebäude ab, ohne jemanden zu entdecken. Die Stimme schien körperlos zu sein. Dann sah er einen winzigen Lautsprecher auf dem Fenstersims über ihm.

»Das war echt zirkusreif. Wäre ich ein Direktor, ich würde dich auf der Stelle engagieren.«

»Wer, zur Hölle, sind Sie? Helfen Sie mir, um Himmels willen.«

»Wer ich bin? Komm schon. Denk nach, Dummkopf. Ich bin der Traumheiler, Abel. Du erinnerst dich doch bestimmt an mich, oder?«

Abels Gedanken rasten. Der Traumheiler? Wer war das? Mit einem Mal fiel es ihm ein. Der Typ aus dem Internet! Das Flugblatt, das man ihm auf der Straße in die Hand gedrückt hatte. Der seltsamen Chatroom mit dem dunklen unheimlichen Kerl, der offenbar ein Irrer war.

Atemlos und erschöpft hakte Abel sein Bein um eine Metallsprosse und rief: »Warum haben Sie das mit mir gemacht, Sie verdammter Bastard? Was habe ich Ihnen angetan?«

Keine Antwort.

»Helfen Sie mir, und ich stehe für den Rest meines Lebens in Ihrer Schuld. Helfen Sie mir nur ins Haus, ja? Bitte.«

»Auf keinen Fall würde ich jemals einen armen Chauffeur wie dich retten, Abel.«

Plötzlich hörte Abel ein metallisches Knirschen über seinem Kopf. Er sah auf und erschrak zu Tode. Einer der Metallbolzen, mit denen die Leiter in der Mauer verankert war, brach aus. Materialermüdung? Nein. Eine Niete platzte ab. Dann eine zweite.

Die Leiter gab nach, Abel spürte, wie sein Rettungsanker unter ihm zusammenbrach, und er fiel …