Thema: Alkohol
Im März 2007 stirbt der erste Schüler in Deutschland an den Folgen des sogenannten „Komasaufens“ oder „Binge Drinkings“. In den Kinderkliniken werden bundesweit immer häufiger Kinder und Jugendliche mit Alkoholvergiftungen eingeliefert. Alleine im Kinderkrankenhaus auf der Bult in Hannover waren es 194 Kinder und Jugendliche im Jahr 2007 und der Trend ist weiter ansteigend (2005 waren es 110 Fälle). Etwa 60 % der Jugendlichen waren noch keine 16 Jahre alt und die Mädchen sind genauso oft betroffen wie die Jungen. Dieses Phänomen zieht sich durch alle Gesellschaftsschichten. Eine Krankenhauseinweisung hat nicht zwangsläufig Scham und Schuldgefühle oder eine kritische Auseinandersetzung mit dem Thema Alkoholkonsum zur Folge. Manch ein Jugendlicher verlässt das Krankenhaus als Held. Im Vierbettzimmer wird nach dem Erwachen der „König der durchzechten Nacht“ anhand des höchsten Alkoholwertes gekürt.
Je früher Kinder und Jugendliche Alkohol trinken, vor allem in Form eines regel- und übermäßigen Konsums, desto gefährdeter sind sie, eine Alkoholabhängigkeit zu entwickeln. Auch hinterlässt der regelmäßige Alkoholkonsum Spuren im Gehirn. Der Alkohol wird oft in Form alkoholischer Mixgetränke angeboten, wie Alkopops oder Bier- und Weinmixgetränke. Aufgrund des hohen Zuckergehaltes schmeckt man den Alkohol nicht. So werden auch Kinder und Jugendliche an den Alkohol herangeführt, denen Bier, Wein oder Spirituosen eigentlich nicht schmecken. Das sogenannte „Komasaufen“ kann zu akuter Lebensgefahr führen, was gerade von Jugendlichen unterschätzt wird. Die Schutzreflexe sind vermindert, sodass Erbrochenes nicht mehr abgehustet wird und es zum Erstickungstod kommen kann. Eine Unterzuckerung kann sich einstellen. Manch einer läuft orientierungslos umher und gefährdet sich durch Unfälle oder im Winter durch Erfrieren. Mädchen vergessen ihre Grenzen und lassen sich zu Handlungen verleiten, die sie bei vollem Bewusstsein ablehnen würden.
Das Trinkverhalten Jugendlicher ist in einem gesellschaftlichen Kontext zu sehen. Alkohol und Nikotin sind „legale Drogen“. Die etwa 40.000 Menschen, die jährlich an den Folgen des Alkoholkonsums sterben, tauchen in der Statistik der „Drogentoten“ nicht auf. Auch die 110.000 bis 140.000 Menschen, die an den Folgen des Nikotinmissbrauchs sterben, werden nicht zu den „Drogentoten“ gerechnet. Kampagnen, die auf die Spätfolgen hinweisen, wie Leberzirrhose und vorzeitiger Tod, erreichen Kinder und Jugendliche nicht. Die Spätfolgen liegen außerhalb des Erlebnis- und Erfahrungshorizontes der Jugendlichen. Viele Spätfolgen treten in einem Alter ab 50 Jahren auf. Für viele Jugendliche ist der Konsum von Alkohol positiv besetzt. Vorstellungen wie „ich habe Spaß“, „ich fühle mich lockerer“, „ich traue mir auf einer Party mehr zu“ sind verbreitet. Erwachsene leben vor, dass Ausgelassen- und Fröhlichsein mit Alkoholkonsum gekoppelt sind. In der Werbung werden positive Lebensmotive und Lebensgefühle mit Alkohol oder Tabak verbunden und richten sich gezielt an Jugendliche. Wer kennt sie nicht, die Becks- oder Marlboro-Werbung? Mit 10,1 Liter reinem Alkoholkonsum pro Kopf ist Deutschland im weltweiten Vergleich auf Platz 8. In wenigen Ländern ist Alkohol so frei verfügbar und so günstig wie in Deutschland. Rund um die Uhr kann man hierzulande Alkohol kaufen. Discounter bieten in Großstädten Spirituosen zu Niedrigpreisen bis spät in die Nacht an. Bis vor Kurzem haben Clubs und Diskotheken mit sogenannten „Flatrate“-Partys gelockt, bei denen man für 4 oder 8 Euro so viel trinken konnte, wie man wollte. Der Bierkonsum auf den Münchner Wiesen ist eine Positivmeldung in den 19-Uhr-Nachrichten wert. Politiker lassen sich parteiübergreifend mit alkoholischen Getränken ablichten. Alkohol ist ein fest verankerter und tolerierter Bestandteil unseres Gesellschaftslebens. Es kann nicht darum gehen, den Alkohol zu verteufeln und Prohibition zu fordern. Vor diesem Hintergrund kann die Problematik des „Komasaufens“ nicht nur bei den Jugendlichen gesehen werden. Eine Kriminalisierung und Stigmatisierung der Betroffenen hilft hier nicht weiter.
Was Jugendliche erreicht ist Authentizität und Glaubwürdigkeit. In der Öffentlichkeit sehen wir Jugendliche schon am Tage mit Bier und Schnapsflaschen. Die meisten Erwachsenen schauen weg, wie bei Mathilda, die sich auf ihrer Parkbank betrinkt. Viele Erwachsene kennen den Alkohol in schwierigen Lebenslagen als „Freund und Helfer“. Sie wollen nicht darauf verzichten. Betrunkene Eltern können ihren Kindern kein adäquates Gegenüber sein. Gewalt und Streit treten unter Alkoholeinfluss häufiger auf. Das hinterlässt Spuren in der Kinderseele. Mathilda muss mit der Trennungssituation ihrer Eltern umgehen und sich um ihre Mutter kümmern, die dem Alkohol verfällt. Ein Kreislauf von Schuld und Scham entwickelt sich. Der Kleine Prinz fragt in dem gleichnamigen Buch von Saint Exupéry den Trinker: „Warum trinkst du?“ Dieser erwidert: „Weil ich mich schäme.“ Daraufhin fragt der Kleine Prinz: „Warum schämst du dich?“
Der Trinker antwortet: „Weil ich trinke.“
Alkoholismus bei den Eltern ist ein wichtiger Risikofaktor für eine Suchtgefährdung bei den Kindern.
Jugendliche müssen lernen, mit Alkohol umzugehen. Wir vermitteln, dass Alkohol trinken etwas mit Erwachsen sein zu tun hat. Kinder und Jugendliche wollen heute immer früher erwachsen werden und entziehen sich früher dem Zugriff ihrer Eltern. Aber gerade in Zeiten des biografischen Umbruchs und der Veränderung im Rahmen der Pubertät brauchen Jugendliche ein Gegenüber, an dem sie sich reiben und entwickeln können, aber auch Orientierung und Halt finden. Wenn ein Jugendlicher Trost und Halt beim Alkohol findet, er über das Trinken Zugang zu anderen Gleichaltrigen bekommt, er seine Sorgen vergessen und endlich abschalten kann und ihm dies nicht ohne die Hilfe von Alkohol oder anderen Drogen gelingt, ist er gefährdet eine Abhängigkeit zu entwickeln. Die Betroffenen erleben den Alkohol als etwas Positives, es verschafft ihnen vorübergehende Erleichterung. So auch bei Mathilda, die ihren Liebeskummer und das Sich-von-ihrer-Mutter-nicht-verstanden-Fühlen mit Hilfe von Rotwein vergessen kann.
Antje Szillat ist es gelungen, in ihrem Buch Prost, Mathilda! ein Mädchen zu beschreiben, mit dem man sich identifizieren kann. Anfangs verlief ihr Leben ganz normal, bis sich die Eltern trennten und sie ihren Vater an seine Freundin und ihre Mutter an den Alkohol verlor. Sie findet Trost bei ihrer ersten Liebe. Als diese zerbricht, ist Mathilda alleine. Der Alkohol hilft ihr kurzfristig zu vergessen. Am Ende jeden Kapitels finden sich kurze Fallbeispiele, die zum Austausch und Gespräch in der Schule oder im Elternhaus einladen. Das Buch von Antje Szillat eignet sich sehr gut als Diskussionsgrundlage über den Umgang mit Alkohol.
Prost, Mathilda! ist es eine empfehlenswerte Lektüre nicht nur für Jugendliche, sondern auch für Eltern und Lehrer über ein Thema, das uns alle angeht.
Hannover, Dezember 2008.
Christoph Möller
Jugend Sucht: Ehemals Drogenabhängige
berichten
Verlag: Vandenhoeck & Ruprecht
ISBN-13: 978-3525491232
Cannabis, Kokain, Alkohol – zunehmend jüngere Menschen geraten in eine Drogenabhängigkeit. Dieses Buch lässt Betroffene zu Wort kommen und zeigt, wie man aus der Sackgasse der Sucht wieder herausfindet. Drogenabhängigkeit bei Jugendlichen ist ein Thema, das emotionale Reaktionen hervorruft wie Ablehnung, Angst, aber auch Unverständnis. Anliegen dieses Buches ist es, die betroffenen Jugendlichen selbst zu Wort kommen zu lassen, damit sich die Leser besser in ihre Welt hineindenken und -fühlen können.
In zehn Interviews blicken Jugendliche nach ihrer Therapie zurück auf das Leben mit Drogen. Die Erzählenden haben in ihrer Vorgeschichte Gewalt, Traumatisierungen, sexuelle Übergriffe, Ablehnung, Verständnislosigkeit, Beziehungsabbrüche erfahren. Der Weg in die Drogenabhängigkeit ist vielfach eine Flucht aus der Lebensrealität gewesen, ein Versuch, mit Drogen die Schmerzen zu lindern oder vorübergehend zu vergessen. Diese Lebensgeschichten machen vieles nachvollziehbar und verständlich. Eltern, Lehrer, professionelle Helfer und andere, die mit drogensüchtigen Jugendlichen zu tun haben, können hierdurch Zugang zu ihnen erhalten und Verständnis entwickeln.