Gespräch mit einer Unbekannten

Mathilda hockte auf einem großen Findling, der sich am Rande des Parkplatzes befand.

Sie wartete auf Conni. Die hatte in der Aufregung das Auto irgendwo geparkt. Irgendwo. Wie konnte man sein Auto nur irgendwo parken und dann einfach nicht mehr wissen, wo? Wie war so etwas möglich?

Mathilda fröstelte. Trotz der Wärme. Die restlichen Stunden im Krankenhaus waren wie durch einen dichten Nebelschleier an ihr vorbeigerauscht – Connis Ausraster, nachdem sie ihr gesagt hatte, sie wäre lieber gestorben, die noch immer dröhnenden Kopfschmerzen, das abschließende Gespräch mit dem Arzt, die freundlichen, aber warnenden Worte der Schwestern.

Mathilda fühlte sich schrecklich – und irgendwie schuldig. Sie suchte nach einer Erklärung. Durchforstete ihr Gehirn nach einer logischen und plausiblen Erklärung für ihr Handeln – für ihren Absturz.

Warum war sie so geworden? Wie konnte das alles geschehen?

Mathilda hatte sich immer für ein völlig normales Mädchen gehalten. Ihre Welt war in Ordnung gewesen. Nette Eltern, eine große Schwester, die zwar manchmal reichlich nervte, aber dennoch für Mathilda immer da und wichtig war, ein schönes Zuhause, gute Freundinnen, in der Schule beliebt und anerkannt – ja, bis ihr Dad sich in seine Julia verliebt hatte. Sie umgezogen waren, Conni angefangen hatte zu trinken, Tom in ihr Leben getreten und genauso schnell wieder verschwunden war und Mathilda irgendwie den Halt unter den Füßen verloren hatte, weil einfach ihr ganzes Leben zerbrach und sie nur hilflos dabei zuschauen konnte.

Ein dunkelhaariges Mädchen riss Mathilda aus ihren Gedanken. Sie kam direkt auf sie zugeschlendert. Über ihrer linken Schulter hing eine dunkelgraue Reisetasche, die schon ziemlich zerschlissen aussah. Zwischen ihren Lippen steckte eine Zigarette.

„Hast du mal Feuer?“, fragte sie Mathilda.

Mathilda schüttelte den Kopf. „Ich rauche nicht.“

Das Mädchen ließ die Tasche von ihrer Schulter auf den Boden gleiten und nahm die Zigarette aus dem Mund.

„Scheiße“, fluchte sie. „’ne Kippe hätte ich schon gerne noch vorher geraucht.“

Mathilda hatte eigentlich keine Lust, sich mit dem Mädchen zu unterhalten. Zumal die auch ziemlich abgewrackt aussah. Aber aus Höflichkeit und weil sie irgendwie das Gefühl hatte, dass das Mädchen es von ihr erwartete, fragte sie: „Musst du ins Krankenhaus?“

„So ähnlich“, gab sie murmelnd von sich, während sie in die Hocke ging und anfing ihre Reisetasche zu durchwühlen.

„Hier muss doch irgendwo das Scheißding sein ...“

„Na ja, dann wünsche ich dir alles Gute“, sagte Mathilda und wollte sich aus dem Staub machen. Ein schriller Aufschrei hielt sie zurück.

„Geil, echt geil. Da ist es“, kreischte das Mädchen und schoss wieder in die Höhe. In ihrer Hand hielt sie ein kleines pinkfarbenes Feuerzeug.

Sie steckte die Kippe wieder zurück zwischen ihre Lippen und zündete sie an.

„Tut das gut“, sagte sie, nachdem sie den Rauch tief inhaliert und wieder ausgestoßen hatte. Mathilda nickte ihr zu und wollte endlich gehen.

„Und du?“, hielt das Mädchen sie erneut zurück. „Was machst du hier?“

Mathilda wusste selbst nicht warum, aber sie blieb stehen und sagte: „Ich warte auf meine Mutter. Die sucht unser Auto. Aber das ist eine andere Geschichte.“

Das Mädchen schaute sie aufmerksam an. „Und wie lautet die erste Geschichte?“

Mathilda verstand nicht. „Welche erste Geschichte?“

„Na ja, du hast gesagt, das ist eine andere Geschichte. Dann muss es schließlich auch eine erste Geschichte geben, oder?“

Mathilda nickte. „Stimmt“, sagte sie kurz entschlossen. „Die gibt es.“

„Willst du sie mir erzählen? Ich könnte ganz gut noch ein bisschen Ablenkung brauchen.“

„Meine Mutter kann jeden Moment kommen ...“, versuchte Mathilda sich halbherzig aus der Affäre zu ziehen. Obwohl sie insgeheim nicht so bald mit Connis Auftauchen rechnete.

„Dann fass dich halt kurz.“ Das Mädchen wollte einfach nicht nachgeben.

„Okay“, begann Mathilda. Sie kannte dieses Mädchen nicht und sie würden sich nie wieder begegnen. Da konnte sie ihm alles Mögliche erzählen – oder die Wahrheit.

„Ich hatte eine Alkoholvergiftung. Bin gestern Nachmittag mit 1,9 Promille hier eingeliefert worden. Ein älteres Ehepaar hat mich bewusstlos bei uns im Stadtpark gefunden. Fast drei Flaschen Rotwein habe ich getrunken.“

Das Mädchen schien wenig beeindruckt. Sie warf ihre Kippe auf den Boden und drückte sie mit der Fußspitze aus. Sofort kramte sie eine weitere Zigarette aus der Schachtel hervor und zündete sie an.

„Und warum hast du dich besoffen?“

Mathilda zögerte. Doch dann sagte sie schließlich: „Aus Liebeskummer. Und weil meine Eltern sich getrennt haben und mein Dad nur noch Augen für seine tolle Julia hat und weil ...“ Sie stockte einen Moment, holte tief Luft und sagte schließlich: „Eigentlich, weil mein Leben zu Ende ist, bevor es richtig angefangen hat.“ Und ganz leise fügte sie hinzu. „Und weil ich Tom so sehr vermisse.“

„Oh weh, ganz schön viele Gründe. So viele hatte ich nicht. Bei mir war es in erster Linie die Langeweile – glaube ich.“

Mathilda schaute sie aus großen Augen an. „Bei dir?“, fragte sie verwundert.

Das Mädchen grinste. „Was meinst du, braucht deine Mutter noch ein bisschen? Ist noch genug Zeit, damit ich dir meine Geschichte erzählen kann?“

Mathilda hatte plötzlich das Gefühl, dass sie die Geschichte des dunkelhaarigen Mädchens unbedingt hören musste. Ganz tief in ihr drinnen schrie etwas ganz laut und unüberhörbar: „Hör dir ihre Geschichte an. Sie ist lebenswichtig für dich!“

„Die Zeit nehme ich mir“, sagte Mathilda.

Sucht

Du zitterst

Du bist nervös

Völlig unruhig

Dir wird heiß

Dir ist kalt

Sucht

Du kommst davon nicht los

Jule, 15 Jahre