Wattegefühl im Kopf

Nachdem Mathilda ein paar Hundert Meter gelaufen war, blieb sie plötzlich wie angewurzelt stehen. Sie wusste nicht, wohin sie gehen sollte. Nach Hause wollte sie auf gar keinen Fall. Das Letzte, was Mathilda jetzt gebrauchen konnte, war eine besoffene Mutter, die mit ihr über die miesen Männer dieser Welt debattieren wollte.

Sie brauchte einen Ort, an dem sie in Ruhe nachdenken konnte. Einen Ort, an dem sie sich sicher und wohlfühlte, um wieder etwas Ordnung in das Chaos zu bringen, das in ihrem Kopf herrschte.

Ganz automatisch ging sie zurück. Zurück zu ihrer Bank. Mit der winzig kleinen Hoffnung verbunden, dass Tom dort säße und auf sie wartete.

Aber er war nicht mehr da. Und obwohl Mathilda damit auch nicht wirklich gerechnet hatte, traf sie die Enttäuschung darüber wie ein heftiger Faustschlag.

Sie setzte sich auf die Bank und kramte ihr Handy aus der Tasche hervor. Mit fahrigen Fingern wählte sie Franzis Nummer.

Nach drei Freitönen wurde am anderen Ende der Leitung abgenommen.

„Hey, Mati“, wurde sie von Franzi fröhlich begrüßt. Und etwas vorwurfsvoll fügte sie schnell hinzu: „Hat dein Liebster heute keine Zeit für dich oder warum meldest du dich mal wieder bei mir?“

Mathilda schluckte schwer. Am liebsten hätte sie das Gespräch sofort wieder beendet, doch dann riss sie sich zusammen und versuchte möglichst locker zu sagen: „Stimmt. Den hab ich nämlich in die Wüste geschickt.“

„Echt?“ Franzis Stimme klang ganz schrill vor Aufregung. „Erzähl!“, forderte sie Mathilda ungeduldig auf.

Mathilda räusperte sich. „Kannst du nicht herkommen? Ich bin im Park. Hinter dem Springbrunnen, da ist so eine Bank, ziemlich weit hinten im Gebüsch ...“

„Ne, geht leider nicht“, schnitt Franzi ihr das Wort ab. „Sonntag ist bei uns heiliger Familientag. Keine Chance für mich, da wegzukommen.“

Franzi stöhnte laut in den Hörer. „Du musst schon mit meiner Stimme vorlieb nehmen, oder bis morgen warten.“

„Dann warte ich bis morgen“, beeilte sich Mathilda zu sagen. Inzwischen war ihr sowieso die Lust vergangen, mit Franzi über Tom zu reden.

„Och, das ist jetzt aber gemein“, beschwerte sich Franzi. „Erst heiß machen und mir die Hoffnung auf eine kleine Abwechslung an diesem öden Familientag in Aussicht stellen und dann nichts als Pustekuchen. Das ist echt nicht fair, Mati“, maulte sie.

Das ist nicht fair? Weißt du oberflächliche Kuh von einer angeblich besten Freundin eigentlich, was nicht fair ist?, wollte Mathilda am liebsten in den Hörer kreischen, aber kein Ton davon kam über ihre Lippen. Stattdessen behauptete sie: „Die Verbindung ist irgendwie gerade total schlecht. Ich kann dich kaum noch verstehen. Wir sehen uns morgen.“ Damit beendete sie das Gespräch einfach, ohne Franzis Antwort abzuwarten. Einen Moment hielt sie das Handy noch unentschlossen in den Händen und überlegte, ob sie bei Kati anrufen sollte. Doch schließlich verstaute sie es wieder in ihrer Tasche.

Was sollte ein Gespräch mit Franzi oder Kati eigentlich bringen?, fragte sie sich. Die beiden hatten doch sowieso keine Ahnung. Die wussten doch nicht, wie es gerade in ihr aussah. Dass ihr Kopf sich wie leer gefegt anfühlte und dennoch auf Hochtouren arbeitete. Dass sie sich von Tom verraten und verkauft, belogen und betrogen fühlte und ihn dennoch mehr als ihr eigenes Leben liebte. Ihn so sehr liebte, dass es wehtat.

Tom.

Alles in ihr schrie nach Tom.

Mit jeder Faser ihres Körpers sehnte sie sich nach ihm. Und die Erkenntnis, dass es aus war, dass sie nie wieder mit ihren Fingern durch seine Haare fahren, seine Lippen auf ihren spüren, seine Hände umschlingen, sein Gesicht berühren konnte, raubte ihr fast den Verstand.

Mathilda zog die Beine an und umklammerte mit den Armen ihre Knie. In dieser Stellung verharrte sie so lange, bis die Sonne tief am Himmel stand und sich die Luft langsam abkühlte. Dann erst riss sie sich aus ihrer Erstarrung, erhob sich von der Bank, schüttelte ihre Beine und Arme aus und machte sich auf den Weg nach Hause.

Mathilda schloss leise die Wohnungstür auf und blieb einen Moment lauschend im Türrahmen stehen. Erst als kein Geräusch im Inneren der Wohnung zu hören war, trat sie ein und ließ die Tür leise hinter sich ins Schloss fallen.

Auf Zehenspitzen schlich sie in ihr Zimmer. Sie warf sich auf ihr Bett, ohne zuvor die Schuhe auszuziehen oder ihre Schultertasche abzulegen. Mathilda schloss die Augen und schon war es da:

Toms Gesicht. Es lächelte sie an.

Mathildas Herz begann zu stolpern. Doch als neben Toms Gesicht ein weiteres auftauchte, zwar ungenau, da sie Tanja nur einmal kurz gesehen hatte und ihr Gesicht deshalb vor ihrem inneren Auge konstruieren musste, war es sofort wieder vorbei mit dem Herzstolpern. Stattdessen legte sich ein schwerer Eisenring um ihr Herz und ihr Magen zog sich schmerzhaft zusammen. Mathilda riss die Augen auf und wischte sich mit den Händen übers Gesicht.

Wegwischen – einfach wegwischen diese Bilder, dachte sie verzweifelt.

Mathilda drehte sich auf die Seite und starrte zum Fenster hinaus.

Toms Gesicht. Und dahinter tauchte sofort wieder Tanja auf. Und dann hörte sie wieder seine Stimme, sodass Mathilda das Gefühl hatte, jeden Moment einfach durchdrehen zu müssen.

Mathilda schaute sich hektisch in ihrem Zimmer um. Überall war Tom. In jeder Ecke lauerte sein Gesicht. In jedem Winkel überfiel sie die schmerzhafte Erinnerung. Sie hielt es einfach nicht länger aus. Mit einem Satz kam sie auf die Beine und ging mit steifen Schritten zur Tür.

Sie musste etwas tun. Sie musste Tom unbedingt aus ihrem Kopf kriegen, sonst würde sie noch total wahnsinnig werden.

Vorsichtig öffnete sie die Tür und schlich in die Küche hinüber. Auf dem Tisch standen zwei leere Weingläser.

Warum zwei? Hatte Conni Besuch gehabt? Und war dieser Besuch vielleicht noch immer in der Wohnung? In Connis Zimmer?

Mathilda ging wieder zurück auf den Flur und näherte sich leise Connis Schlafzimmertür. Sie hielt den Atem an und lauschte. Aber hinter der Tür war alles ruhig. Kurz überlegte sie, ob sie anklopfen oder die Tür einfach öffnen und nachschauen sollte, ob Conni da war und schlief, aber dann verwarf sie den Gedanken schnell wieder, weil ihr das Risiko, sie zu wecken, einfach zu groß war.

Aus Merles Zimmer kam auch kein Laut. Sicher war sie bei einer Freundin. Oder einem Freund? In letzter Zeit hatte sie auffallend oft von einem Yannick gesprochen.

Vielleicht war sie aber auch schon zu Dad gezogen, wie sie es angekündigt hatte.

Mathilda seufzte tief und ging schließlich zurück in die Küche. Sie nahm sich ein Glas aus dem Regal, öffnete den Kühlschrank und suchte nach einer Flasche Mineralwasser.

Aber außer einem Tetrapack Milch und einer Flasche Hohes C befand sich nichts Trinkbares darin. Auf Milch hatte sie keinen Appetit und Hohes C mochte sie nicht. Jedenfalls nicht dieses, in dem dicke „Plocken“ aus Fruchtfleisch träge herumschwammen.

Mathildas Blick wanderte auf den Küchentisch zurück.

Glück gehabt!

Neben einer geleerten und einer noch fast vollen Rotweinflasche befand sich auch eine Wasserflasche darauf.

Sie zog den Stuhl zurück, setzte sich an den Tisch und füllte das Glas mit Wasser. Mathilda nahm einen tiefen Schluck und stellte das Glas auf dem Tisch ab. Kaum hatte sie das Glas abgestellt, kamen die Gedanken und Bilder zurück.

Tom. Tom mit Tanja. Tom und sie. Sie alle drei. Tom und Tanja eng umschlungen. Tom und Tanja knutschend auf ihrer Bank.

Mathilda schlug mit der flachen Hand auf den Tisch, um ihren Schmerz irgendwie rauszulassen. Die leeren Rotweingläser schwankten ein wenig, kippten aber nicht um. Mathilda griff nach der leeren Rotweinflasche und roch daran. Sie rümpfte die Nase und stellte die Flasche wieder zurück an ihren Platz.

Plötzlich musste sie an Conni denken und an ihren Schmerz, den sie seit der Trennung von Dad mit sich herum- und offen zur Schau trug.

„Nur der Wein kann mir noch helfen“, hatte sie neulich zu Mathilda gesagt und ihr dabei mit dem Glas in der erhobenen Hand zugeprostet.

„Prost, Mathilda! Alle Männer sind Schweine!“ Dann hatte sie ihr Glas an die Lippen geführt, jedoch nicht getrunken. Über den Rand des Glases hinweg, hatte sie Mathilda angeschaut und gesagt: „Glaub mir Mathilda, nur auf Alkohol ist noch Verlass. Aber ganz bestimmt nicht auf die Kerle.“

Am nächsten Tag, im nüchternen Zustand, hatte sie sich dafür dann bei Mathilda entschuldigt.

„Alkohol ist natürlich keine Lösung, Schatz. Das weiß ich selbst. Aber im Moment bin ich so weit unten, dass ich es manchmal mit klarem Kopf einfach nicht ertragen kann. Das ist nur eine Phase. Das geht wieder vorüber. Du musst dir deswegen keine Sorgen machen.“

Und dann war sie wieder für einen Moment Mathildas Mom gewesen. Die echte Conni! Nicht die Frau, die ihre Sorgen und ihren Kummer nur noch mit Hilfe von Alkohol in den Griff bekommen konnte, weil sie sich im nüchternen Zustand so jämmerlich, klein und ungeliebt fühlte.

Mathilda griff nach der fast vollen Weinflasche. Ohne lange darüber nachzudenken, stand sie auf, ging zum Hängeschrank rüber, holte sich ein sauberes Weinglas und füllte es mit der dunkelroten Flüssigkeit randvoll.

Mit dem Glas in der einen Hand und der Flasche in der anderen, ging sie die zwei Schritte zurück zum Tisch und setzte sich wieder auf den Stuhl.

Sie hob das Glas an ihre Lippen und trank einen kleinen Schluck. Der Wein schmeckte unerträglich herb und zog ihr die Kehle zusammen. Trotzdem nahm sie einen weiteren tieferen Schluck aus dem Glas, bevor sie es wieder auf den Tisch abstellte.

Herb ist besser als süß, schoss es ihr durch den Kopf. Von süß hatte sie erst mal genug, seitdem sie sich im Park nach drei Flaschen Alkopops übergeben musste. Das Zeug würde sie nie wieder anrühren, hatte sie sich damals geschworen. Aber dieser Wein war einigermaßen erträglich.

Mit der Erinnerung an den Abend im Park kamen auch sofort wieder die Gedanken an Tom und das Ende ihrer Liebe – seiner Liebe – zurück.

Der Schmerz schlug über ihr zusammen, nahm sie in den Griff und vertrieb jeden klaren Gedanken aus ihrem Kopf. Sie bemühte sich tief durchzuatmen, aber alles, wozu sie fähig war, waren kurze japsende Atemzüge.

Mit einer hektischen Bewegung griff sie nach dem Weinglas, führte es erneut an ihre Lippen und trank mehrere tiefe Schlucke, bis sie es schließlich ganz geleert hatte.

Sie musste sich ein bisschen schütteln, als sie das Glas wieder auf den Tisch zurückstellte und es erneut bis kurz unter den Glasrand mit Rotwein auffüllte. Nach dem nächsten Schluck wurde ihr etwas schwindelig, aber auch irgendwie leichter im Kopf. Es fühlte sich alles ein wenig wie in Watte gehüllt an. Die Gedanken an Tom schmerzten nicht mehr so sehr. Überhaupt erschien ihr plötzlich alles gar nicht mehr so schlimm und aussichtslos.

Mathilda trank auch das nächste Glas aus und das übernächste, bis schließlich die Flasche restlos geleert war und sich ihr Kummer und der Schmerz überhaupt nicht mehr so quälend und brennend anfühlten.

Ganz im Gegenteil. Je mehr sie trank, desto leichter fiel es ihr, in Gedanken an einer Tom-zurück-Eroberungsstrategie zu arbeiten, von der sie sich am Ende ganz sicher war, dass sie zum Erfolg führen würde.

Als sie wenig später vom Tisch aufstand, war sie betrunken genug, um sich irgendwie gut zu fühlen, aber noch so nüchtern, dass sie sämtliche Spuren ihres Saufgelages in der Küche beseitigen konnte. Dann torkelte Mathilda in ihr Zimmer zurück.

Wenn sich Conni am nächsten Morgen nach dem Verbleib der noch fast vollen Flasche erkundigen sollte, würde sie ihr einfach erzählen, dass sie den Inhalt in den Ausguss geschüttet hätte. Merle hatte das schließlich auch schon ein paarmal gemacht, wenn sie sich mal wieder, wegen Connis häufigen Alkoholkonsums, über sie geärgert hatte.

Genauso würde sie es auch begründen. Mit diesen Gedanken schlief Mathilda wenig später ein.

In Deutschland leben 2,5 bis 3 Millionen Alkoholkranke, davon etwa eine halbe Million im Alter zwischen 12 bis 21 Jahren. Bundesweit ist ein Anstieg von Alkoholintoxikationen bei Minderjährigen zu beobachten, wobei der Anteil der unter 15-Jährigen bei 38 Prozent liegt und die Mädchen deutlich stärker vertreten sind als Jungen.

(Quelle: „Jugend Sucht“ von Dr. Christoph Möller, Oberarzt der Kinder- und Jugendpsychiatrie und Leiter der Therapiestation Teen Spirit Island im Kinderkrankenhaus auf der Bult, Hannover)