Reiß dich zusammen!
Mathilda erwachte, weil grelles Sonnenlicht durch das offene Fenster fiel. Sie brauchte einen kurzen Moment, bis ihr bewusst wurde, dass noch immer derselbe Tag war. Nur ein paar Stunden später.
Sie schwang ihre Beine aus dem Bett und stand auf. Mit steifen Schritten ging sie durchs Zimmer und bückte sich nach ihrer Schultertasche, die noch immer an demselben Platz wie vorhin lag. Die stechenden Kopfschmerzen waren Gott sei Dank verschwunden, dafür verspürte sie in ihren Beinen ein wenig Muskelkater, konnte sich aber nicht erklären, was ihn verursacht hatte.
Mathilda kramte ihr Handy aus der Tasche hervor und betrachtete das Display. Zwei verpasste Anrufe und drei SMS wurden ihr auf dem Display angekündigt. Mathildas Herz machte einen kleinen Hüpfer vor Aufregung.
Tom?
Vielleicht war eine Nachricht von Tom dabei?
Zunächst ließ Mathilda sich die Telefonnummern der verpassten Anrufe anzeigen und musste enttäuscht feststellen, dass einmal Franzi und einmal Kati versucht hatten, sie anzurufen. Die SMS waren alle drei von Kati. Die Erste hatte sie gleich in der ersten großen Pause abgeschickt.
Hey, Mati, was geht? Krank oder verschlafen. Melde dich mal.
GLGUEDK, K!
Und in der nächsten Pause hatte sie dann diesen Text gesendet:
Was muss ich gerade von Franzi erfahren? Du und Tom, das ist Geschichte? Melde dich. Ich platze vor Neugierde!
DAD, K!
Die letzte SMS wurde nach Schulschluss, um 14:10 Uhr, von der wohl inzwischen vor Neugierde fast platzenden Kati auf Mathildas Handy verschickt. Zu diesem Zeitpunkt hatte Mathilda bereits wieder im Bett gelegen und geschlafen.
Melde dich! Ganz, ganz dringend. Ich mache mir Sorgen und Franzi auch. Habe gerade Tom gesehen. Mit einem dunkelhaarigen Mädchen aus seiner Klasse!!! Sah irgendwie komisch aus!!!
KUG,K!
Tanja. Bei dem dunkelhaarigen Mädchen konnte es sich nur um Tanja handeln. Da war sich Mathilda ganz sicher. Dieser Mistkerl, dieser verdammte Mistkerl, dachte sie bitter. Wahrscheinlich rannte er eng umschlungen mit seiner Neuen durch die ganze Schule. Nur einen Tag nachdem er sie geküsst hatte – ein letztes Mal geküsst hatte.
Mathildas Magen zog sich bei dem Gedanken daran schmerzhaft zusammen. Sie hörte ihren eigenen Herzschlag in den Ohren dröhnen, während sie mit zittrigen Fingern Katis Handynummer eintippte.
Ein Freizeichen und Kati war am Telefon.
„Mensch Mati, was ist denn los? Ich hab mir schon voll die Sorgen gemacht. Bist du echt krank oder ist es wegen Tom?“, sprudelte es nur so aus Kati heraus.
„Ich bin krank. Magen und Darm oder so was Ähnliches“, log Mathilda.
„Du hörst dich auch echt mies an. Du Arme. Tust mir wirklich leid. Und dann noch die Sache mit Tom. Aber das kann dir ja egal sein. Franzi sagt, du hast ihn abgeschossen. Hätte ich ja echt nicht gedacht, wo du doch ...“ Mathilda stoppte Katis Redeschwall, indem sie ihr einfach ins Wort fiel. „Es ist mir aber nicht egal. Absolut nicht. Das hat Franzi wohl falsch verstanden.“ Mathilda holte zitternd Luft. „Tom hat Schluss gemacht.“
„Das tut mir leid, Mati, ehrlich.“ Sie klang ernst und aufrichtig. „Ich weiß doch, wie sehr du in ihn verknallt warst.“
Mathilda schossen die Tränen in die Augen. Mit einer fahrigen Handbewegung wischte sie sich über die Augen und schniefte leise.
„Weinst du etwa?“ Kati klang jetzt richtig besorgt. „Mati, bitte wein doch nicht. Nicht ... nicht wegen so einem Arsch.“
„Er ist kein Arsch“, widersprach Mathilda leise.
„Und warum steht er dann mit seiner neuen Tante knutschend direkt auf dem Schulhof? Wo er doch jeden Moment damit rechnen muss, dass du ihn siehst. Also Mati, wenn das kein Arsch ist, dann weiß ich auch nicht.“
Mathilda hatte nicht die Kraft, nochmals zu widersprechen. Katis Worte hatten sich mit einer solchen Wucht direkt in ihr Herz gebohrt, dass ihr ganz schwindelig davon wurde.
„Hast du Zeit? Können wir uns treffen?“, sagte sie mit leiser, brüchiger Stimme.
„Klar habe ich Zeit. Wo wollen wir uns treffen?“
„Ich brauch ein bisschen frische Luft. Kannst du in den Park kommen? Kennst du den Springbrunnen, dahinter ist eine Bank, ziemlich weit hinten im Gebüsch, da warte ich auf dich, ja?“
Mathilda wusste selbst nicht, warum sie sich unbedingt an ihrer Bank mit Kati treffen wollte. Vielleicht, weil sie sich dort Tom ein wenig näher fühlte oder weil sie ganz tief in sich drinnen noch immer hoffte, dass er dort auf sie warten würde.
Tom wartete nicht auf Mathilda. Natürlich hatte sie das schon vorher gewusst. Trotzdem war sie in den Park gerannt, so schnell und ohne Pause, dass ihr Herz gegen die Rippen hämmerte und ihre Lunge explodieren wollte. Und trotzdem war sie unendlich enttäuscht darüber, dass die Parkbank leer war. Kein Tom, der mit offenen Armen auf sie wartete.
Mathilda japste nach Luft und ließ sich schwerfällig auf die Bank plumpsen. Wenige Augenblicke später kam auch schon Kati um die Ecke gebogen. Sie schaute sich suchend um, schien die Bank, die ziemlich gut verborgen schon fast im Gebüsch stand, nicht gleich zu entdecken.
„Hier bin ich“, rief Mathilda noch immer ganz atemlos.
Kati fuhr herum und lächelte ihr entgegen.
„Hast du die Bank dahin gestellt?“, wollte Kati verwundert wissen, während sie sich neben Mathilda setzte. „Die findet man ja echt nicht.“
Mathilda schüttelte den Kopf. „Nein. Die Bank steht schon immer hier. Aber vielleicht hat irgendjemand sie weiter nach hinten gezogen. Tom hat ...“ Sie stockte.
Ein Schatten flog über ihr Gesicht. Kati schaute sie besorgt an und legte dann den Arm um Mathildas Schultern. „Mensch, Mati, lass dich doch nicht so hängen. Das geht vorüber. Andere Mütter haben auch schöne Söhne. Ganz bestimmt. Du musst dich irgendwie ablenken oder so.“
„Das habe ich ja versucht“, murmelte Mathilda. Ihre Zunge fühlte sich schwer an, als ob sie wieder von dem Rotwein ihrer Mutter getrunken hätte.
Kati schaute sie fragend an. „Was hast du versucht?“
„Mich abzulenken. Ich habe mich gestern Abend mit ’ner Flasche Rotwein besoffen. Deswegen habe ich heute Morgen auch verschlafen und ...“ Weiter kam sie nicht, denn Kati ließ ihren Arm von Mathildas Schulter sinken, drehte sie so zu sich um, dass sie ihr beide Hände auf die Schultern legen konnte, und sagte mit fassungsloser Stimme: „Du hast dich besoffen? Spinnst du denn total? Du siehst doch Tag für Tag, was der verdammte Alkohol mit deiner Mutter macht. Du jammerst mir und Franzi doch schon seit unserem Kennenlernen davon vor. Und jetzt fällt dir nichts Besseres ein, als dich genauso wie deine Mutter sinnlos zu besaufen?“
An Mathildas Schläfe zuckte ein Muskel. Sie wusste ja, dass Kati recht hatte. Sie wusste ganz genau, dass Alkohol weder ihre noch die Probleme ihrer Mutter lösen konnte. All das wusste Mathilda. Doch in diesen Moment hätte sie Kati für ihre Worte am liebsten mitten ins Gesicht geschlagen und sie zum Teufel gejagt.
Sie tat es nicht. Sie biss sich auf die Unterlippe und beherrschte sich.
Mit unterdrückter Wut auf der Zunge, presste sie leise hervor: „Alles klar. Das ist genau die richtige Standpauke, die mir jetzt noch gefehlt hat. Danke dafür.“
„Weißt du, Mati, ich würde ja nicht so einen Stress hier veranstalten, wegen einmal besaufen, wenn ich nicht wirklich Angst um dich hätte. Du bist so ’n Typ Mädchen, das schnell aus der Bahn zu werfen ist, weil du immer so lieb und gutgläubig bist und man irgendwie alles mit dir machen kann.“
Die redet mit mir wie mit einem kleinen Kind, dachte Mathilda bitter.
Sie presste die Lippen zusammen und Kati seufzte. „Jetzt bist du sauer, ja?“
Mathilda schüttelte den Kopf und schwieg weiter.
Kati ignorierte Mathildas trotzige Miene und sagte: „Gut. Dann schlag dir jetzt den Idioten aus dem Kopf und reiß dich ein bisschen zusammen. Du warst gerade mal ein paar Wochen mit dem zusammen. Ein paar unbedeutende Wochen. Also Schluss jetzt mit diesem Geheule und nach vorne geschaut.“
Unbedeutende Wochen? Hatte Kati wirklich gerade unbedeutende Wochen gesagt? Diese Worte brannten. Diese Worte waren eindeutig zu viel für Mathilda.
Mit einer ruckartigen Bewegung schüttelte sie Katis Hände von ihren Schultern ab und schoss in die Höhe. Ihre Augen funkelten vor Zorn, als sie ihr ein Spucke sprühendes „Blöde Kuh!“ zuschrie. Mathilda machte auf dem Absatz kehrt und rannte einfach davon. Hinter sich hörte sie Kati laut rufen: „Mati, bleib doch hier. Ich will dir doch nur helfen. Ich bin doch deine Freundin ...“
Schöne Freundin, dachte Mathilda, während sie fast blind vor Tränen durch den Park rannte.
Es gibt zwei Mädchen in meiner Klasse, die ständig saufen. Komasaufen. Die dröhnen sich mit Alkopops zu und finden sich dann total geil. Mich wollten sie auch schon mal überreden. Aber ich wollte nicht. Ich habe dann versucht, ihnen mal ins Gewissen zu reden. Zumal die eine von den beiden schon ein echtes Problem mit dem Alk hat. Aber die meinten nur, ich sei eine blöde Spießerin.
Merle-Marie, 14 Jahre