Auf des Messers Schneide

Die nächsten Wochen beschäftigte Mathilda sich mit unterschiedlichen Fragen. Eine lautete: Wie komme ich an Rotwein? Eine andere: Wie überliste ich Conni? Und noch eine weitere: Wie drücke ich mich vor der Schule, ohne dass Conni oder Dad davon etwas erfahren? Aber auch über Kati, Franzi und ihre Schwester Merle machte sie sich Gedanken: Wie gehe ich denen am besten aus dem Weg?, lauteten diese.

Nicht, dass sie den Alkohol inzwischen brauchte. Nein, Mathilda kam auch ganz gut ein paar Tage ohne das rote Gesöff aus. Aber es machte vieles leichter. Und das gefiel ihr im Moment einfach gut. Das leichte und unbeschwerte Wattegefühl in ihrem Kopf, das war es, was Mathilda half.

So vergingen die Tage und sogar ein paar Wochen, in denen Mathilda nicht jeden Tag zur Schule ging, aber noch oft genug, dass es nicht zum Problem wurde. Heftige Migräne ging immer bei den Paukern. Und Connis Unterschrift unter die Entschuldigungsschreiben zu setzen, war inzwischen Mathildas leichteste Übung.

Nachdem sie Kati und Franzi ein paarmal ziemlich heftig vor den Kopf gestoßen hatte, ließen auch die beiden sie in Ruhe. Von ihren alten Freunden hatte sie seit dem Umzug nichts mehr gehört – aus den Augen, aus dem Sinn. So war es wohl im Leben, dachte Mathilda bitter.

Mit Merle sprach Mathilda nur ab und zu im Schulhof. Ihre Schwester hatte Conni die Pistole auf die Brust gesetzt. „Ich komme nicht eher wieder zurück nach Hause, bis du die Sauferei unterlässt. So lange bleibe ich bei Dad!“ Und das zog sie nun auch ziemlich konsequent durch.

So schien keiner wirklich zu bemerken, was mit der vierzehnjährigen Mathilda geschah. In was sie von Tag zu Tag immer mehr hineinschlitterte.

Und Mathilda selbst? Sie bemerkte nur, dass die Trennung von Tom sie vollkommen aus der Bahn geworfen hatte. Und dass dieser Schmerz nüchtern manchmal einfach nicht zu ertragen war.

Donnerstag war „Dad-Tag“. Mathilda hatte sich die letzten Wochen mit den unterschiedlichsten Ausreden davor drücken können. Doch diesmal gab es für sie kein Entkommen.

Nach der dritten Stunde täuschte sie erfolgreich einen plötzlichen Migräneanfall vor.

„Also Mathilda, langsam mache ich mir etwas Sorgen“, sagte Mathildas Klassenlehrerin Frau Gerke und machte wirklich einen besorgten Eindruck.

„Du solltest das unbedingt mal ärztlich abklären lassen. Du siehst in letzter Zeit auch sehr elend aus. Und deine Leistungen ... aber gut, wenn es dir nicht gut geht.“ Sie schaute Mathilda einen Moment nachdenklich an. Dann legte sie ihre Hand auf Mathildas Unterarm und sagte: „Ich würde gerne mal mit deiner Mutter oder deinem Vater sprechen. Noch vor den Sommerferien. Richtest du ihnen das bitte aus?“

Mathilda deutete ein Nicken an. „Mach ich“, sagte sie leise – wegen der starken Kopfschmerzen! Dann durfte sie gehen.

Weder Conni noch ihr Dad würden jemals etwas von Frau Gerkes Gesprächswunsch erfahren, beschloss Mathilda.

Ihr Dad war noch nicht zu Hause. Dafür wurde sie in der bereits geöffneten Tür von seiner aufgeregt daherplappernden Freundin empfangen.

„Ach, hallo Mathilda. Schön, dass du schon da bist. Komm doch rein. Hast du Lust auf einen Tee oder trinkst du vielleicht schon Kaffee? Ach, was rede ich denn da. Dir ist garantiert ’ne Cola lieber. Ich lauf mal schnell und hol dir eine aus dem Kühlschrank. Setzt dich doch schon mal ins Wohnzimmer. Was zum Knabbern bring ich auch mit. Und dann quatschen wir mal ganz in Ruhe, ja?“ Und damit verschwand sie im Inneren des Hauses, ohne Mathildas Antwort abzuwarten.

Was für eine Psychotante, schoss es Mathilda ärgerlich durch den Kopf. Was für eine völlig überdrehte und affektierte Tusse.

Mathilda betrat den Flur, schlenderte ins Wohnzimmer hinüber und setzte sich aufs Sofa. Sie schaute sich verwundert im Raum um. Ihr Dad hatte das Wohnzimmer in den letzten Wochen völlig neu eingerichtet. Junge und ultramoderne Möbel, in fetzigen, fast schon zu schrillen Farben.

Na ja, dachte Mathilda bitter, die Einrichtung passt jetzt wenigstens zu seiner neuen Flamme – schrill und hohl. Wie Merle es hier auch nur einen Tag lang aushalten konnte, war Mathilda ein absolutes Rätsel.

Die schrille, hohle Nuss kam beladen mit einem knallroten Tablett, das farblich zu ihren lackierten Nägeln passte, zurück ins Wohnzimmer. Sie stellte das Tablett auf dem Wohnzimmertisch ab und setzte sich Mathilda gegenüber. Dann schraubte sie die Colaflasche auf und schenkte zwei Gläser ein.

„Bitte“, meinte sie und reichte Mathilda das eine gefüllte Glas.

Mathilda schaute ihr direkt in die Augen, ohne das Glas in ihrer Hand zu beachten. Verächtlich schürzte sie die Lippen und sagte: „Ich kann mich nicht erinnern, dass ich bei Ihnen was bestellt habe.“

„Äh ... wie bitte? Und sag doch bitte Julia zu mir ...“, stammelte sie.

„Julia?“ Mathilda spürte, wie die Wut langsam in ihr hochkroch. „Julia soll ich Sie nennen?“ Sie lachte verächtlich auf. „Ich nenne Sie lieber Schlampe!

Julia wich erschrocken zurück. Ihr Gesicht sah aus, als ob Mathilda ihr mitten hinein geschlagen hätte.

„Warum ... warum bist du so frech zu mir?“, stammelte sie mit tränenerstickter Stimme. „Was habe ich dir denn getan?“

Mathilda hob die Augenbrauen und legte gespielt ratlos den Zeigefinger auf ihren Mund. „Hm ... lassen Sie mich doch mal überlegen. Was haben Sie mir eigentlich getan?“ Ihre Stimme triefte vor Ironie. „Ach ja, jetzt fällt es mir wieder ein. Sie haben meiner Mutter den Mann ausgespannt. Stimmt ja. Jetzt weiß ich es wieder.“ Sie ließ den Zeigefinger sinken und grinste Julia frech ins Gesicht.

„So ... so ... ist das doch gar nicht gewesen. Das stimmt so einfach nicht. Dein Vater ...“

Mathilda fiel ihr grob ins Wort. „Verschonen Sie mich bitte mit ihrem Gelabere. Ich habe keine Lust, mich länger mit Ihnen zu unterhalten.“ Damit wandte sie sich von Julia ab und starrte stur zum Fenster hinaus.

Aus dem Augenwinkel sah sie, dass Julia langsam aufstand und mit schleppenden Schritten das Wohnzimmer verließ. Vom Flur her hörte sie sie leise aufschluchzen. Kurze Zeit später öffnete sich die Haustür und schlug anschließend mit einem lauten Knall wieder ins Schloss.

Mathilda atmete tief durch. Zufrieden ließ sie sich aufs Sofa zurücksinken. Sie fühlte sich klasse. Richtig klasse! Es hatte unheimlich gut getan, dieser total dämlichen Tante richtig wehzutun.

So wehzutun, wie sie Conni wehgetan hatte – und wie Tanja und Tom ihr, Mathilda, wehgetan hatten.

Mathildas Dad kam eine halbe Stunde später nach Hause. An der Art, wie er die Haustür aufschloss, seine Aktentasche auf die Kommode knallte und mit energischen Schritten ins Wohnzimmer stürmte, konnte Mathilda erkennen, dass seine Julia ihm schon von ihrem kleinen Gespräch berichtet hatte.

„Sag mal, Mathilda, was fällt dir eigentlich ein?“ Seine Stimme bebte vor Wut. „Was denkst du dir eigentlich? Wie kannst du es wagen, Julia eine Schlampe zu nennen?“

Mathilda zuckte mit den Achseln. „Wenn es doch die Wahrheit ist“, sagte sie unschuldig.

Mathildas Dad schnappte empört nach Luft. „Das nimmst du sofort zurück. Hast du mich verstanden?“

„Nein, das werde ich nicht.“ Mathilda schaute ihm fest in die Augen, während sie langsam den Kopf schüttelte.

Ihr Dad fuhr sich mit beiden Händen übers Gesicht und durch die Haare, während er tief durchatmete. Dann begann er hektisch im Raum auf und ab zu gehen.

Mathilda beobachtete ihn schweigend. Ihr Gesicht war unergründlich. Aber in ihr drinnen brodelte es. Es kochte fast über – wollte unbedingt raus – endlich raus.

Ihr Dad baute sich schließlich vor ihr auf und meinte verständnisvoll: „Es ist für uns alle nicht so einfach. Das weiß ich ja, Mathilda. Aber Conni und ich, das ging einfach nicht mehr. Doch damit hat Julia wirklich nichts zu tun. Oder hat Conni dir diesen Floh ins Ohr gesetzt?“ In diesem Moment explodierte Mathilda.

„Sie hat damit nichts zu tun?“, keifte sie los. „Das ist doch wohl nicht dein Ernst? Natürlich ist sie schuld. Schuld daran, dass Mom nur noch ein Häufchen Elend ist und zu einer regelrechten Säuferin geworden ist. Du hast Conni einfach ausgetauscht. Gegen eine jüngere, bessere, neuere – gegen eine schrille, hohle SCHLAMPE!“ Das letzte Wort hatte

Mathilda so laut gekreischt, dass ihr die Kehle brannte. Sie räusperte sich geräuschvoll und fuhr mit etwas leiserer Stimme fort. „Ich hasse dich Dad. Wie konntest du nur. Ja, Conni hat wirklich recht: Männer sind Schweine.“ Damit stand sie auf und wollte das Wohnzimmer verlassen. Doch ihr Dad war schneller und hielt sie am Arm zurück.

„Bitte, Mathilda, lass uns in Ruhe miteinander reden.“ Seine Stimme vibrierte. Ob vor Wut oder Entsetzen, darüber war sich Mathilda nicht ganz im Klaren.

Sie schüttelte langsam den Kopf. Ihre Wut war nun völlig verraucht. Dafür hatte sich ein anderes Gefühl in ihr breit gemacht: Traurigkeit.

„Lass mich bitte gehen, Dad“, flehte sie leise. „Ich möchte hier nicht mehr bleiben. Das ist mal mein Zuhause gewesen. Ein Zuhause, in dem ich mit meiner Familie gelebt habe. Ich kann es nicht ertragen, zu was es jetzt geworden ist. Das hat nichts mehr mit mir zu tun. Du hast nichts mehr mit mir zu tun.“

Sie schüttelte seine Hand von ihrem Unterarm ab und machte einen erneuten Versuch, zu gehen.

„Nein. Das klären wir jetzt und hier“, bestimmte ihr Dad und hielt sie wieder zurück. In diesen Moment klingelte sein Handy. Er schien kurz hin- und hergerissen zu sein, zwischen seiner Tochter und dem Läuten des Handys. Schließlich griff er in die Brusttasche seines Hemdes, kramte das Handy hervor und warf einen kurzen Blick aufs Display.

„Es tut mir leid“, meinte er entschuldigend zu Mathilda. „Da muss ich mal kurz rangehen.“ Und schon war er im Flur verschwunden.

Mathilda folgte ihm auf den Flur und konnte gerade noch hören, wie er „Hallo Julia“ sagte, bevor er in seinem Büro verschwunden war und die Tür hinter sich schloss.

Das war eine klare Entscheidung, dachte Mathilda. Eine ganz klare Entscheidung. Für Julia und gegen sie, seine Tochter.

Mathilda entdeckte seine Geldbörse auf der Kommode. Ohne lange nachzudenken, griff sie danach und kramte einen Fünfzigeuroschein heraus. Blitzschnell verschwand der Schein in ihrer Hosentasche und die Geldbörse wanderte an seinen alten Platz zurück. Mathilda öffnete die Haustür, ließ einen letzten Blick über den Flur, zum Wohnzimmer bis hin zu der angrenzenden Küche schweifen, atmete tief durch und verließ das Haus.

Hier würde sie nie wieder herkommen, beschloss sie. Niemals wieder!

Mit sechzehn habe ich mir aus Liebeskummer auf einer Party einige gemischte Superalkoholika reingekippt, als ob ich Wasser trinken würde.

Der Arzt in der Notaufnahme sagte später zu mir: „Du warst nur noch zehn Minuten vom Tod entfernt!“

Susanne, 18 Jahre