Absturz
Den Weg nach Hause legte Mathilda tief in Gedanken versunken zurück. Tom, der Kuss, der Zauber und diese plötzliche Vertrautheit zwischen ihnen, so als ob sie sich schon ein ganzes Leben lang kannten. Es war alles so unglaublich. Mathilda hätte niemals gedacht, dass sie sich Hals über Kopf – einfach von einem Moment auf den nächsten – so unsterblich verlieben könnte.
Als sie die Wohnungstür aufschloss und ihr der Geruch aus der Wohnung entgegenschlug, merkte sie sofort, dass etwas nicht stimmte.
Mit steifen Schritten ging sie in die Küche und entdeckte Conni am Küchentisch. Sie hing mehr, als dass sie saß und starrte Mathilda aus glasigen Augen entgegen. Vor ihr auf dem Küchentisch stand ein leeres Weinglas. Direkt daneben befand sich eine ebenfalls leere Flasche Rotwein. Im Backofen verbrannte gerade eine Pizza.
Mathilda rannte zum Herd und schaltete den Backofen aus. Sie öffnete die Klappe, schloss sie aber sofort wieder, weil ihr eine stinkende Qualmwolke entgegenschlug.
Mathilda eilte zum Küchenfenster und riss es weit auf.
Conni hing noch immer unbeweglich auf dem Küchenstuhl. Die Beine weit von sich gestreckt, den Mund mit Lippenstift verschmiert, das rote Haar völlig zerzaust. Sie war stinkbesoffen. Das war ziemlich eindeutig.
„Verdammt!“, brüllte Mathilda.
„Was denn?“, lallte Conni unschuldig.
„Das da!“, brüllte Mathilda noch lauter und zeigte mit dem ausgestreckten Zeigefinger auf die leere Flasche und das Glas.
„Meine Güte. Ich hab nur ein Gläschen getrunken.“
„Ein Gläschen getrunken! Du bist sturzbesoffen und es ist noch nicht mal sieben Uhr.“ Mathildas Stimme überschlug sich, weil sie so fassungslos war.
Conni schüttelte so heftig den Kopf, dass die roten Locken nur so flogen. „Das ist ja mal wieder typisch. Ich bin an allem schuld. Wer hat uns denn sitzen lassen? Ich oder dein Vater?“, kreischte sie völlig außer sich. „Ich bin noch immer hier und mache dir sogar Pizza und dafür muss ich mich auch noch anbrüllen lassen.“ Sie fuhr ruckartig vom Stuhl hoch und torkelte zum Backofen rüber.
„Was hast du vor? Bist du jetzt völlig übergeschnappt?“, schrie Mathilda sie an, als sie den Backofen öffnete, um die völlig verkohlte Pizza rauszuholen.
Doch da hatte Conni schon das heiße Backblech umfasst und sich daran die Finger verbrannt. Sie schrie: „Aua!“, und ließ das Blech laut scheppernd zu Boden krachen.
Mathilda war mit einem Satz bei ihr und zerrte sie zum Waschbecken. Sie drehte den Wasserhahn auf und hielt Connis Hände, mit den Handinnenflächen nach oben, unter den kalten Wasserstrahl.
„Conni, warum machst du das?“ Mathilda hielt es nicht mehr aus. Sie fing an zu weinen. Warum ließ ihre Mutter sich nur so gehen? Warum zerstörte sie einfach alles? Gerade war sie noch so glücklich und nun ...
„Ich bin doch für euch da. Ich habe euch doch nicht einfach verlassen“, jammerte Conni.
„Hör doch endlich auf damit.“ Mathilda schüttelte den Kopf. „Ich kann das nicht mehr ertragen.“
Doch Conni war mal wieder nicht zu bremsen. „Männer sind Schweine, Mathilda. Merk dir das. Je früher du das begreifst, umso weniger Kummer können sie dir machen.“
Mathilda wollte das nicht hören. Sie wollte überhaupt nichts mehr hören. Sie ließ Connis Hände los und stürmte aus der Küche in ihr Zimmer.
„Mathilda, bleib hier!“, schrie Conni ihr hinterher.
Doch Mathilda knallte die Tür hinter sich zu und schloss ab.
„Mathilda.“ Merles Stimme klang ganz ruhig. „Mach doch bitte die Tür auf.“
Mathilda schaute zur Tür. Aber sie blieb auf ihrem Bett liegen.
Merle räusperte sich und sagte: „Conni schläft jetzt. Es tut ihr alles leid. Ich musste ihr versprechen, dir das zu sagen. Mach doch bitte auf. Ich weiß, dass es im Moment alles Scheiße ist.“
Mathilda stand langsam auf. Sie ging zur Tür und schloss sie auf.
Merle stand vor ihr. Ihre Augen sahen traurig aus. „Wir müssen jetzt zusammenhalten, Mathilda. Wir müssen stark für Conni sein. Hörst du?“
Merle streckte die Arme nach ihr aus und nahm sie in den Arm. Mathildas Knie wurden weich. Sie ließ sich in die Arme ihrer großen Schwester sinken und wünschte sich plötzlich nichts mehr, als wieder sechs Jahre alt zu sein. Von ihrer großen Schwester getröstet, ihrem Dad beschützt und von ihrer Mom eine Gutenachtgeschichte vorgelesen zu bekommen.
„Dabei kannst du doch am allerwenigsten etwas dafür. Das weiß Conni auch.“ Sie streichelte Mathilda über die Haare. „Aber vielleicht ist sie auf dich so wütend, weil du immer Dads Liebling warst.“ Ununterbrochen strich Merles Hand über ihr Haar. „Meine kleine schöne Schwester. Dads Liebling.“ Jetzt klang Merles Stimme plötzlich bitter.
Mathilda löste sich aus ihrer Umarmung und trat einen Schritt zurück.
„Merle, glaubst du wirklich, dass ich Dads Liebling bin? Ich glaube das nämlich nicht. Und selbst wenn es so wäre, was hätte es mir genützt? Mich hat er doch schließlich auch sitzen lassen, oder nicht?“
Merle schaute sie einen Augenblick schweigend an. Dann straffte sie ihre Schultern und sagte mit fester Stimme: „Recht hast du. Und wir sind ganz schön blöd, dass wir uns seinetwegen die Augen rot heulen. Wie sieht’s aus. Hast du auch so einen Hunger wie ich?“
Mathilda zeigte ein schiefes Grinsen und nickte.
„Dann ab in die Küche. Ich hau uns ein paar Eier in die Pfanne. Und morgen reden wir mit Conni. So kann es nicht weitergehen, okay?“
„Okay!“, erwiderte Mathilda.
Etwas später, Mathilda hatte drei Rühreier und zwei dicke Scheiben Weißbrot dazu verdrückt, traute sie sich, Merle auf Tom anzusprechen.
„Geht eigentlich ein Tom bei dir in die Klasse? So ein Typ mit etwas längeren dunklen Haaren?“ Sie versuchte, ihre Stimme so gleichgültig wie nur möglich klingen zu lassen.
Merle schaute sie dennoch prüfend an. „Warum willst du das wissen?“
„Ach, nur so.“ Mathilda spürte zu ihrem Ärger, dass ihr die Röte ins Gesicht schoss.
„Nur so? Und warum wirst du dann knallrot?“ Da war sie wieder. Merle, die ätzende Superzicke. Mathilda bereute es sofort, dass sie ihre Schwester auf Tom angesprochen hatte.
„Vergiss es einfach.“ Mathilda gab vor, interessiert in der Zeitschrift zu lesen, die auf dem Küchentisch lag.
Aber Merle wollte so schnell nicht aufgeben. „Das ist kein Typ für dich, Schwesterherz. Keine Chance, glaub mir. Der steht nicht auf kleine Mädchen. Seine Eltern haben Geld wie Heu und er jede Woche ’ne andere. Der ist ganz bestimmt nicht deine Kragenweite.“
Mathilda hätte ihrer Schwester am liebsten ihre Hand auf den Mund gedrückt.
Sei doch einfach still. Was weißt du schon von ihm? – Du hast doch nicht die geringste Ahnung!, wollte sie Merle ins Gesicht schreien. Aber dadurch würde sie Merle nur noch misstrauischer machen.
Also presste sie ihre Lippen zusammen und schluckte ihre Worte hinunter.
„Ich bin müde“, sagte sie zu Merle und stand auf. Sie stellte ihren Teller ins Spülbecken und ging zur Tür. Im Rausgehen drehte sich Mathilda noch einmal zu Merle um und sagte leise: „Danke für die Eier ... und ... und ... du weißt schon wofür.“
„Kein Thema“, erwiderte Merle und zwinkerte ihr zu.
Über viele Jahre bestimmte der Alkohol mein Leben – hatte es vollkommen im Griff. Den Glauben an mich selbst hatte ich längst verloren. Schon ganz früh, in meiner Jugendzeit. Nichts überzeugte mich mehr. Ich verstand einfach nicht, dass mein Leben auch ohne Alkohol einen Sinn haben – lebenswert sein sollte.
Schon mit neun Jahren erlebte ich den ersten Vollrausch, unter „guten“ Freunden, die alle wesentlich älter waren. In der Pubertät suchte ich Anerkennung – und fand diese nur im Alkohol. Doch er trieb mich immer wieder in die Sackgasse. Immer wieder kam es zu Rückfällen und diese endeten meistens in der Notaufnahme. Jetzt bin ich seit sechs Jahren trocken. Ich darf und (hoffentlich) werde niemals mehr auch nur einen Tropfen Alkohol anrühren. Und das ist gut so.
Christopher, 31 Jahre