Lara
Laras Alkoholkarriere hatte schon früh begonnen.
„Mit dreizehn hatte ich schon meinen ersten Vollrausch“, schilderte sie Mathilda.
„Bei uns zu Hause hat es regelmäßig heftig gekracht. Ich konnte diesen ganzen Stress und Druck einfach nicht mehr aushalten.“ Während sie das Mathilda erzählte, lächelte sie, nachdenklich und verletzlich zugleich.
„Alkohol war für mich der einzige Ausweg. Ließ mich den ganzen Scheiß zu Hause wenigstens für eine Weile vergessen.“ Wieder fischte sie mit Daumen und Zeigefinger eine Zigarette aus dem zerknüllten Päckchen hervor und steckte sie zwischen ihre Lippen. Bevor sie weitererzählte, machte sie ein paar tiefe Züge.
„Ich hab das dann eine Weile so gemacht. Immer wenn es zu Hause Stress gab, habe ich die Hausbar von meinem Alten geplündert und mich heimlich besoffen.“
„Haben deine Eltern denn davon nichts mitbekommen?“, wollte Mathilda von ihr wissen, obwohl sie selbst erlebt hatte, dass Conni über Wochen nichts von ihren Saufereien mitbekommen hatte. Nun aber, wo sie so etwas aus dem Munde einer anderen hörte, kam ihr das Ganze irgendwie komisch, fast unglaublich vor. Wie konnte es sein, dass Eltern nicht mitbekamen, dass sich ihr Kind regelmäßig besoff – sich sogar an der Hausbar bediente?
„Zuerst nicht. Ich habe ja immer gesoffen, wenn die zur Arbeit waren. Und zur Schule bin ich damals auch noch regelmäßig gegangen. Und da meine Leistungen sowieso schon immer schlecht waren, ist es auch niemandem großartig aufgefallen, dass sie noch ein bisschen schlechter geworden sind. Doch dann hat mein Vater gemerkt, dass ein paar der Schnapsflaschen nicht mehr mit Alkohol, sondern mit Wasser gefüllt waren.“ Lara lachte bitter auf. Und auch Mathilda konnte sich bei dem Gedanken daran ein kleines Lächeln nicht verkneifen.
„Der ist völlig abgedreht. Hat meinen großen Bruder windelweich geschlagen, weil er ihn verdächtigt hat. Ich konnte das natürlich nicht zulassen und habe dann eben ausgepackt.“
Lara atmete tief durch und Mathilda forderte sie ungeduldig auf: „Erzähl weiter. Was ist dann passiert?“
„Na ja, ich habe das dann eine Weile gelassen. Zumal meine Eltern, nachdem ich ihnen gesagt hatte, warum ich den Schnaps weggesoffen habe, sich auch eine Zeit lang richtig zusammengerissen haben und es einigermaßen gut lief. Aber eben nur eine kurze Zeit. Mit vierzehn hab ich dann ein paar coole Leute kennengelernt. Die haben sich regelmäßig zum Komasaufen getroffen. Die waren alle etwas älter als ich und schienen das ganze Leben viel lockerer zu nehmen. Zu Hause war inzwischen wieder der gleiche Stress angesagt. Also habe ich die meiste Zeit mit meinen neuen Leuten verbracht. Wir haben uns getroffen und gequatscht und eben gesoffen. Nach einer Weile verlangten die, dass ich auch mal was zum Saufen besorgen sollte. Ich hatte aber keine Kohle. Dann bin ich eben klauen gegangen. Bei meinem Glück haben die mich natürlich gleich beim zweiten Mal erwischt. Ich wurde von den Bullen nach Hause gebracht und meine Alten tickten völlig aus.“ Wieder lachte Lara bitter auf, bevor sie weitererzählte. „An diesem Abend bin ich noch mal abgehauen, obwohl ich eigentlich Stubenarrest bekommen hatte. Und an diesem Abend bin ich dann das erste Mal mit einer Alkoholvergiftung auf der Bult gelandet.“
Mathilda schluckte. Genauso wie sie. Sie war auch mit vierzehn Jahren das erste Mal auf der Bult gelandet.
„Das war echt heftig. Ich habe gedacht, ich bin tot. Ein Radfahrer hat mich mitten auf dem Fußweg in der Innenstadt gefunden. Von meinen Leuten weit und breit keine Spur. Mit Blaulicht ging’s dann ab ins Krankenhaus. Als ich wieder aufgewacht bin, wusste ich erst gar nicht, wo ich bin und ob ich überhaupt noch lebe. Ich war total verkabelt und überall hat es gepiepst. Ich dachte: Geil, jetzt bist du tot. Überall habe ich Alkohol gerochen. Und das Getränk, das mir die Schwester gegeben hat, hat auch nach Alkohol geschmeckt, habe ich mir eingebildet. Allmählich habe ich dann begriffen, dass ich im Krankenhaus bin, auf der Intensivstation!“
Erneut unterbrach Lara, damit sie den kleinen Rest ihrer Zigarette auf den Boden fallen lassen und ihn mit der Fußspitze ausdrücken konnte. Diesmal nahm sie sich jedoch nicht augenblicklich eine neue aus der Schachtel.
„Die Ärzte haben mir dann erzählt, was geschehen ist. Dass ich zwei Promille hatte und total unterkühlt war. Am nächsten Tag hatte ich gleich ein Gespräch mit einem Drogenberater. Er ist zu mir ins Zimmer gekommen. War total seltsam, weil ich mich ja an nichts mehr erinnern konnte. Am Nachmittag war ich dann wieder zu Hause.“
Sie räusperte sich geräuschvoll. Mathilda nutzte die kurze Unterbrechung und sagte: „Genauso war es bei mir. Und wie haben deine Eltern darauf reagiert?“
„Meine Mutter ist gleich in der Nacht ins Krankenhaus gekommen, hat sie mir erzählt. Die war total geschockt und echt betroffen, glaube ich. Mein Vater hat sich nicht blicken lassen. Der war einfach nur stinksauer.“
„Und was war mit deinen neuen Freunden?“, wollte Mathilda wissen, während sie sich darüber Gedanken machte, dass auch ihr Dad nicht im Krankenhaus gewesen war. Wo war er gewesen?
„Meine Leute fanden mich cool. Jeder von denen hatte schon mal eine Alkoholvergiftung. Das gehört dazu, haben die mir gesagt. Ich hab mich dann aber trotzdem ein bisschen von denen zurückgezogen. Kurze Zeit später habe ich die Schule mitten in der neunten Klasse geschmissen. Ohne Abschluss! Das war mir völlig egal und mein Vater hatte dann endgültig die Schnauze voll von mir. Ich bin zu meinem älteren Bruder gezogen. Der war inzwischen ausgezogen. Es hat nicht lange gedauert, da habe ich mittags am Bahnhof gesessen und gesoffen. Bis dahin hatte ich schon zig Anzeigen wegen Ladendiebstahl am Haken.
Nach der nächsten Alkoholvergiftung haben die mich im Krankenhaus mehr in die Mangel genommen. Ich habe dann so eine Art Kurzzeittherapie angefangen. Weniger aus Überzeugung. Ich war damals der Meinung, dass ich kein Alkoholproblem hätte. Die Therapie habe ich dann gleich wieder abgebrochen. Doch bei der dritten Einlieferung ins Krankenhaus habe ich dann beschlossen, eine freiwillige Therapie in Teen Spirit Island zu machen.“
Mathilda schaute Lara fragend an.
„Was ist Teen Spirit Island?“
Lara ließ ein leises Lachen hören. „Schau mal dahinten. Da siehst du es. Direkt vor deinen Augen.“ Sie deutete mit der ausgestreckten Hand auf ein blaues Gebäude, das mitten im Grünen direkt vor ihnen lag. Nur gute zwanzig Meter und ein hoher Zaun, der das gesamte Grundstück umfasste, trennten sie voneinander.
„Darf ich vorstellen: mein Zuhause für die nächsten Monate. Und diesmal werde ich es schaffen. Diesmal halte ich durch.“
Zur Bestätigung ihrer Worte streckte sie ihr Kinn kämpferisch vor, bevor sie sich mit spitzen Fingern die nächste Zigarette aus der Schachtel fischte.
„Diesmal? Was heißt diesmal?“, wollte Mathilda wissen.
„Nach der ersten Therapie bin ich wieder rückfällig geworden. Obwohl ich diese harten Wochen hinter mir hatte. Mein Aufenthalt bei Teen Spirit Island begann mit dem Entzug. Ich habe zwar Medikamente bekommen, die den Entzug erträglicher machten, aber ich hatte ein echt schweres Alkoholproblem. Zugleich hatte ich aber wohl auch großes Glück, denn das ist hier in Niedersachsen die einzige Therapiestation für drogenabhängige Kinder und Jugendliche. Doch dann habe ich mittendrin einfach abgebrochen. Warum weiß ich heute nicht mehr. Plötzlich hat mich alles angekotzt und die haben mich tierisch genervt. Die ersten Wochen in der Therapie waren echt schlimm. Ich habe meine Freunde und meine Familie vermisst und dann schließlich geglaubt, ich könnte es auch alleine schaffen.“
„Und nun bist du wieder zurückgekommen. Warum?“, wollte Mathilda wissen.
„Weil die da drinnen mir Kraft geben. Und an mich glauben. Das habe ich erst richtig begriffen in der Zeit, in der ich wieder draußen war. Der Rückschritt in meine alte Zeit – in die Realität hat mir gut getan, damit ich sehen konnte, wo ich eigentlich stehe. Und das war noch verdammt weit unten. Die Leute bei Teen Spirit Island regeln meinen Tagesablauf, damit ich erst gar nicht auf falsche Gedanken kommen kann. Sie nehmen mich ernst. Und sie zeigen mir, dass es sich zu leben lohnt – ohne Alkohol oder andere Drogen.“ Lara sah jetzt richtig hoffnungsvoll aus. Doch dann verzog sie ihren Mund zu einer gequälten Grimasse und fügte hinzu: „Nur dass die mir die Zigaretten abnehmen, das nehme ich denen echt übel.“ Sie grinste breit und zwinkerte Mathilda zu. „Deswegen muss ich jetzt schon mal ordentlich auf Vorrat rauchen.“ Ihr Ton klang nun richtig heiter und irgendwie gelöst.
„Warum hast du mir das alles erzählt?“, fragte Mathilda, während sie nun nicht länger ihre Tränen unterdrücken konnte.
Lara wirkte einen Moment so, als hätte sie Mathildas Frage nicht gehört. Sie hockte gedankenversunken auf dem großen Stein und wippte ein bisschen vor und zurück, wie zur Beruhigung.
Mathilda musterte ihren Körper. Das gelbe Shirt, das unter den kurzen Ärmeln Laras dünne Arme zum Vorschein kommen ließ. Die Haut wirkte blass und durchsichtig, wie Pergamentpapier. Laras Körper war von der jahrelangen Sucht regelrecht ausgemergelt. Nein, so will ich nicht werden, dachte Mathilda.
Schließlich hob Lara den Kopf und schaute Mathilda direkt in die Augen.
„Ich habe dich hier sitzen gesehen und plötzlich mich selbst gesehen. Vor drei Jahren. Als ich das erste Mal hier auf der Bult gelandet war. Ich dachte: Der geht es jetzt so, wie es mir damals ging. Und so blöd das jetzt klingen mag, da hab ich beschlossen, ich muss ihr unbedingt meine Geschichte erzählen. Ich muss es ihr erzählen, damit ihr diese Geschichte – dieser Weg erspart bleibt.“
Sie stand auf und bückte sich nach ihrer Reisetasche. Dann streckte sie Mathilda ihre Hand entgegen und sagte leise: „Wünsch mir Glück. Und lass die Finger vom Alkohol. Das ist keine Lösung. Das macht alles nur noch schlimmer. Du hast jetzt eine zweite Chance. Genauso wie mir die Leute von Teen Spirit Island eine zweite Chance gegeben haben. Verspiel sie nicht.“
Dann überquerte sie mit aufrechtem Rücken und schwingendem Schritt die Straße, ging zum Tor und streckte ihren Finger nach dem Klingelknopf aus. Kurze Zeit später erschien eine junge Frau auf der anderen Seite des Tores. Mathilda konnte noch sehen, wie die beiden sich freundlich begrüßten, eh sie zusammen hinter dem Tor verschwanden.
Teen Spirit Island Hannover
Teen Spirit Island ist eine Station mit 12 Therapieplätzen der Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie im Kinderkrankenhaus auf der Bult. Hier werden Kinder und Jugendliche bis 18 Jahren mit Drogenabhängigkeit von Cannabis, Heroin, Amphetaminen, Tranquilizer, Kokain, Alkohol und anderen Suchtstoffen bzw. deren Kombinationen und mit Internet- und Computersucht stationär behandelt. Daneben bestehen in der Regel jugendpsychiatrische Erkrankungen wie Störungen der Persönlichkeitsentwicklung, emotionale Störungen, Essstörungen oder Psychosen. Eigenmotivation ist die Basis der Behandlung. Diese schließt den körperlichen Entzug ein und ermöglicht eine psychiatrisch-psychotherapeutische Behandlung bis zu zwölf Monaten. Eine ambulante psychiatrische Nachsorge kann sich bei entsprechender Indikation anschließen.