14.
DER WEG ZU DEN KATALAUNISCHEN
FELDERN UND DER UNTERGANG
DES WESTREICHES
Zurückdrängung der Germanen im Osten und
Aufstieg des Militäradels im Westen
Als die germanischen Verbände und Söldner innerhalb und neben der regulären Armee immer wichtiger wurden, veränderte sich – ähnlich wie beim Professionalisierungsschub der spätrepublikanischen Heere – auch die Rolle des Feldherrn. Seit Theodosius verlangte die Leitung der Armee besondere Führungsqualitäten und Fingerspitzengefühl.1 Nicht selten mussten Reibereien zwischen den regulären Verbänden und den in die Palatinauxilien eingereihten sowie besser bezahlten Föderaten geschlichtet werden.2 Erfolge, die früher aufgrund der intensiver trainierten und hochwertiger bewaffneten Legion als wahrscheinlich galten, hingen nun in stärkerem Maße von den politischen Rahmenbedingungen, den persönlichen Verbindungen und vom Verhandlungsgeschick der magistri militum sowie ihrer Fähigkeit ab, rasch Barbarentruppen in großer Zahl anzuwerben.
Begleitet wurde diese Entwicklung durch ein Phänomen, das schon aus der Zeit der julisch-claudischen Dynastie bekannt war3, in der außenpolitisch und militärisch angespannten Situation der Zeit nach dem Desaster von Adrianopel aber weitaus schwerer wog. Seit dem Tod des Theodosius 395 führte kein Kaiser mehr persönlich die Reichstruppen ins Feld. Zum einen waren die Söhne des Theodosius zu jung und unerfahren, was nicht mit Feigheit oder Untätigkeit gleichzusetzen ist. Sehr wahrscheinlich erachteten die kaiserlichen Berater nach dem Schlachtentod des Julian und Valens eine Anwesenheit ihres Schützlings im Felde als zu riskant.4 Dies wäre eine Parallele zu den persischen Verhältnissen (siehe >). In jedem Fall fehlten den im Palast und vom Kontakt zur Truppe abgeschirmten Kaisern die Voraussetzungen, ethnisch gemischte Verbände aufzustellen und zu führen. Das Militär wurde deshalb – wie es der Historiker Michael Whitby formuliert hat – »ausgegliedert« (»outsourced«).5
Die Distanz der Kaiser zur Armee stärkte die Stellung der Heermeister. Allerdings entwickelte sich ihr Verhältnis zur kaiserlichen Zentrale in Ost und West unterschiedlich: In Konstantinopel gewannen nach dem erfolglosen Feldzug des magister utriusque militiae Gainas gegen den rebellierenden Tribigild (siehe >) und nach dem Sturz des praepositus sacri cubiculi Eutropius politische Kreise die Oberhand, die sich gegen die germanische Dominanz im Heermeisteramt richteten. Dieser Bewegung fielen Gainas und seine Goten zum Opfer. In der Folgezeit wurden die Grenz- und Feldtruppen wieder zunehmend mit einheimischen Rekruten besetzt; die limitanei wurden sogar gegenüber dem Präsentalheer aufgewertet. Zur Grenzverteidigung griff man ergänzend auf isaurische Soldaten sowie auf nordafrikanische und arabische Föderaten zurück.6 Geschlossene Verbände germanischer Kämpfer wie die Westgoten erschienen dagegen entbehrlich, weil man anders als das Westreich nur zwei gefährdete Grenzregionen, die untere Donau und Mesopotamien, zu verteidigen hatte.7 Außerdem erfreute sich der Osten nach dem Sturz des Gainas einer rund 20-jährigen Friedenszeit und konnte in dieser ruhigen Phase eine kompetente Zivilverwaltung als Gegengewicht gegen die präsentalen Heermeister etablieren.8 Auch wenn es in der Folgezeit immer wieder fremdländische (auch gotische) magistri militum gab, unterlagen sie jetzt schärferer Kontrollen durch die zivilen Spitzenämter des praefectus praetorio und des magister officiorum.9
Anders war die Situation im Westen: Hier bestimmte seit Beginn des 5. Jahrhunderts der magister utriusque militiae den Einsatz der Armee und ihr strategisches Konzept.10 Die Heermeister neigten dazu, die Grenzverteidigung und die Limitantruppen zugunsten der Bewegungsheere und der Föderatenverbände zu vernachlässigen, weil sie auf schnelle Erfolge angewiesen waren, um ihre Position gegen Konkurrenten und gegenüber dem Kaiser zu stärken. »Im Vordergrund des Handelns stand immer die Klärung der internen Machtfrage, unabhängig davon, ob diese Priorität dem Gesamtnutzen des Reiches förderlich war oder nicht.«11 Ihre militärischen Operationen verlagerten sich deshalb von den Grenzen an das Mittelmeer und wurden vom hektischen Ringen um die Macht im Innern beeinflusst. Der magister utriusque militiae des Westens musste sich dabei immer stärker auf nichtrömische Truppen verlassen.12 Auch wenn diese formal den regulären comitatenses gleichgestellt und entsprechend (durch annonae foederaticae) versorgt und in der Regel von römischen Offizieren befehligt wurden13, lösten sich die Feldheere sukzessive aus der staatlichen Organisationsstruktur und nahmen faktisch den Charakter großer Gefolgschaftsarmeen an: Da fest stationierte Föderatenverbände und Söldner von den Heermeistern häufig nur für bestimmte Kampagnen angeworben wurden, entwickelten sie gegenüber ihrem Feldherrn eine intensivere Bindung als gegenüber dem Kaiser.14
Ein wichtiges Indiz für die »Privatisierungstendenzen« der westlichen Heere ist die neue Kategorie von Leibwachen von einigen hundert Mann (bucellarii), die seit dem Tod des Theodosius im Gefolge der westlichen Heermeister erscheinen und nur den Befehlen ihres Herrn folgten. Ihre Ursprünge sind im germanischen Gefolgschaftswesen und in der römischen Einrichtung der persönlichen Bediensteten von Beamten und Offizieren zu suchen.15 Der oströmische Kaiser Leo I. verbot seit 468 private Leibgarden, und das Ostreich verstand es in der Folgezeit, die Bucellarier (wie die Föderatentruppen) als reguläre Elitetruppe in das Heer zu integrieren.16 Für den Westen fehlen vergleichbare Hinweise. Offensichtlich waren die Machtstellung der magistri militum und die Privatisierung des militärischen Sektors durch kaiserliche Erlasse nicht mehr rückgängig zu machen. Anstatt die Position der Heermeister institutionell durch die Stärkung ziviler Ämter einzuhegen, versuchten die Kaiser den Graben zu den Heermeistern durch verwandtschaftliche Bande zu überbrücken. Diese Heiratspolitik wurde von den magistri militum angenommen und unterstützt. Durch sie entstand eine mit dem Kaiserhaus versippte Schicht hoher militärischer Kommandeure, von der Forschung als »spätrömischer Militäradel« bezeichnet.17
Aufstieg und Fall Stilichos
Ein Höhepunkt dieser Entwicklung war die Karriere des Flavius Stilicho, Sohn eines vandalischen Kavallerieoffiziers (im Dienst des Valens) und einer Römerin. Seine ersten militärischen Meriten erwarb er sich in führender Position beim Feldzug des Theodosius gegen Eugenius und Arbogast. 384 heiratete er Serena, die Adoptivtochter des Theodosius, und stieg damit in den engeren Kreis der kaiserlichen Regierungselite auf; kurz vor dem Tod seines Schwiegervaters wurde er von diesem zum Fürsorger des jungen Honorius eingesetzt und zum magister utriusque militiae praesentalis des Westens befördert. Damit unterstand ihm das gesamte Militärpotential der westlichen Reichshälfte, zeitweise auch große Teile der von Theodosius neu aufgestellten östlichen Feldheere.18 Während er seine Stellung in Ravenna dadurch abzusichern suchte, dass er nacheinander seine Töchter dem Honorius zur (allerdings kinderlosen) Ehe gab,19 war es ein Kennzeichen seiner Militärpolitik, dass er den regulären Truppen immer größere nichtrömische Verbände angliederte. Außerdem besaß er hunnische bucellarii.20 405 besiegte er mit nominell 30 Regimentern der Feldarmee sowie alanischen und hunnischen Truppen, die ihm der hunnische Anführer Uldin gestellt hatte, bei Faesulae die angeblich 20 000 Kämpfer umfassende Armee des Radagaisus, eines ehemaligen Kampfgenossen Alarichs. Die Kerntruppe von angeblich 12 000 gotischen optimati wurde daraufhin der Feldarmee (wahrscheinlich unter die Palatinauxilien) eingereiht.21 Weniger konsequent ging Stilicho gegen die nach Italien drängenden Goten Alarichs vor. Er konnte ihnen zwar bei Verona (403) eine schwere Niederlage beibringen, doch anstatt die Armee endgültig zu zerschlagen, schloss er im Namen des Honorius einen Vertrag, der den Gotenkönig zum illyrischen Heermeister ernannte (was eine schwere Beeinträchtigung der oströmischen Autonomie bedeutete).22
Aus der Sicht Stilichos war dies nur folgerichtig. Denn anders als die Goten des Radagaisus suchte der Föderatenverband Alarichs neben Beute vor allem lukrative militärische Beschäftigungsmöglichkeiten. Angesichts der verschärften Rekrutierungsprobleme waren das kriegerische Potential der Goten und die Stellung des Alarich viel zu wertvoll, um sie zu vernichten oder einem Konkurrenten zu überlassen.23 Ähnlich hatte im Osten der Heermeister Gainas gehandelt, als er die Rebellion des Tribigild (siehe >) nicht konsequent bekämpfte, sondern Konstantinopel Verhandlungen empfahl.24 Dieses Vorgehen sollte im Westen Schule machen: »Selbst wenn besiegte Barbarenheere in die Enge getrieben waren, wurden sie selten aufgerieben, da kampferprobte Soldaten die wichtigste Ressource des spätrömischen Imperiums waren.«25
Wie richtig Stilicho die Lage einschätzte, zeigte sich in den Folgejahren. Die Massierung der Truppen in Italien (gegen Alarich) und Illyrien hatte die Reichsverteidigung am Rhein so ausgedünnt, dass seit 405 – wahrscheinlich ausgelöst durch einen zweiten hunnischen Vorstoß nach Europa – vandalische, suebische und alanische Verbände, außerdem alamannische und burgundische Großgruppen von jeweils mindestens 10 000 Mann, nur aufgehalten von fränkischen Föderaten und Limitantruppen, nach Gallien und von dort bis nach Italien und Spanien vordrangen. 407 setzte auch noch der Usurpator Constantinus mit Teilen des Bewegungsheeres von Britannien nach Gallien über und konnte hier zusätzliche Verbände der Barbaren gegen Honorius rekrutieren.26 Zwischen 395 und 410 wurde in den Kämpfen gegen eindringende Germanen und Usurpatoren fast die Hälfte der westlichen Feldarmee vernichtet.27 Ähnlich wie im 3. Jahrhundert wandten sich Teile der gallischen Bevölkerung aus Erbitterung über ausbleibende kaiserliche Hilfe von Ravenna ab.28 Stilicho suchte in dieser Lage umso mehr die Verständigung mit Alarich und setzte sich für dessen Geldforderungen (4000 Pfund Gold) ein. Dies machte ihn verdächtig in Ravenna, wo man wenig von den militärischen Zwängen der Zeit verstand. Als man dann noch mutmaßte, Stilicho wolle seinen Sohn Eucherius zum Kaiser im Osten erheben, wurde er abgesetzt und auf Befehl des Honorius getötet.29
Stilichos Schicksal zeigt wie ein Brennglas die Strukturprobleme des Westens seit Beginn des 5. Jahrhunderts: Wegen der enormen Schwierigkeiten bei der Finanzierung und Rekrutierung des Heeres war man dazu übergegangen, regelmäßig geschlossene germanische Verbände dem regulären exercitus anzugliedern und fallweise mit Ansiedlungsgenehmigungen (meist in Gallien) zu belohnen; um Kosten zu sparen, aktivierte man die angeworbenen Truppen erst ad hoc für einen bestimmten Feldzug und reduzierte im Gegenzug die viel teureren stehenden Verbände des Feldheeres.30
Die Abhängigkeit vom Militärpotential der Fremden, die Kriege der Thronprätendenten, die sich ebenfalls fremder Föderatenverbände und Söldner bedienten, und die ständig schwelenden Machtkämpfe in der Generalität verhinderten – anders als im Osten – ein konsequentes Vorgehen gegen die Eindringlinge, auch wenn sie militärisch besiegt waren.31 Die Invasoren zu vertreiben oder zu vernichten lag häufig weder im Interesse der Generalität noch der Thronprätendenten, weil sie sich dadurch eines wichtigen Reservoirs an Soldaten beraubt hätten. Die Zustimmung der Provinzialbevölkerung zum kaiserlichen Regiment schwand, die Regionalisierungstendenzen des 3. Jahrhunderts verschärften sich, die territoriale Integrität des Reiches wurde unterhöhlt; die Grenzverteidigung war mehr eine Sache des politischen Kalküls als der militärischen Verantwortlichkeit.
Die innenpolitischen Konsequenzen liegen auf der Hand und reihen sich ein in ein bekanntes Muster, welches das römische Kaisertum seit seinen Anfängen begleitete: Je mehr Einfluss einzelne Generäle auf die Reichspolitik mit Hilfe von Föderaten, Söldnern und Bucellariern gewannen und je intensiver ihre Bindungen zu den Berufskriegern wurden32, desto gefährlicher wurden sie für die militärisch inaktiven Kaiser, auch wenn Einzelne wie Stilicho gar nicht den Kaiserthron für sich erstrebten. In anderen Fällen veranlassten Honorius allein Gerüchte um Truppenrevolten und zwielichtiges Handeln ihrer Feldherren dazu, diese zu liquidieren.33 Das Misstrauen der kaiserlichen Zentrale, das aus mangelndem Verständnis für die militärische Lage erwuchs, und die Angst vor Bürgerkriegen raubten dem Westreich wahrscheinlich mehr militärische Führungskompetenz als die Kriege gegen die Barbaren. So hatte Honorius mit Stilicho nicht nur seinen fähigsten Heerführer umgebracht; außerdem fühlten sich viele von Stilicho angeworbene Hilfstruppen nach dem Tod ihres Soldherrn niemandem mehr verpflichtet und liefen zu Alarich über (die hunnische Leibgarde war vorher getötet worden).34 Über Nacht bildete sich ein gewaltiges Heer, dem der Westen nichts entgegenzusetzen hatte. Alarich konnte schalten und walten. Das gut befestigte Ravenna blieb zwar verschont, aber Italien und die Stadt Rom waren den Angriffen des Gotenkönigs schutzlos ausgeliefert. Von der Versorgung abgeschnitten, wurde die Tiberstadt nach zweijähriger Belagerung erobert.
Auch diesmal wäre es verfehlt, von dem spektakulären Einzelereignis auf eine grundlegende militärische Schwäche zu schließen.35 Längst hatte die alte Hauptstadt ihre strategische und politische Bedeutung eingebüßt. Dennoch zeigt der Weg der Goten nach Rom die tiefgreifenden Veränderungen der letzten 20 Jahre. Das Westreich hatte in Abkehr von der integrierten Defensivstrategie alles auf die Autorität des zentralen Heermeisters gesetzt und sich dessen Kalkül gebeugt, mit barbarischen Verbänden durchschlagendere Erfolge zu erzielen als mit den regulären Feldtruppen, deren Ausbildung und Versorgung langwierig und teuer war. Das war ein Spiel mit dem Feuer: Sämtliche Planungen der Römer standen inzwischen unter dem Diktat, das Potential der gegnerischen Truppen für sich zu nutzen, und die germanischen Verbände wurden sich ihres Wertes bewusst, weil sie erkannten, wie inkonsequent ihr Gegner vorging. Bezeichnenderweise schmälerten die Niederlagen Alarichs gegen Stilicho seine Autorität gegenüber den Stammesgenossen nicht. Der Marsch durch die Reichsgebiete, die Fähigkeit, ethnisch heterogene Verbände unter ein Kommando zu integrieren, und nicht zuletzt das Angebot, ein Heermeisteramt zu übernehmen, dürften die Goten davon überzeugt haben, dass sie unter diesem König zu einer Macht gereift waren, deren Stabilität nicht mehr ausschließlich nach militärischen Kriterien zu bemessen war. Die Erfahrung, eine große Schar von Kriegern mit ihren Familien in zahllosen Kämpfen durch das Reich geführt und zu einer kampfstarken Armee geformt zu haben, veränderte offenbar auch das germanische Königtum.36 Ihm fehlte nur noch die offizielle Akzeptanz durch entsprechende kaiserliche Gesten und ein Territorium als stabile Versorgungsgrundlage.
Goten kämpfen für das Westreich
Eine für das weströmische Kaisertum naheliegende Möglichkeit der Integration barbarischer Könige schien die Ausweitung ihrer Heiratspolitik, die sie schon auf die magistri militum angewandt hatten.37 Frauen aus dem Kaiserhaus wurden nicht mehr nur den Heermeistern, sondern auch germanischen Föderatenführern und Königen zur Heirat angeboten. Das eröffnete den Kaisern zudem die Chance, in die von den Heermeistern dominierten Verbindungen zur germanischen und hunnischen Elite einzubrechen und den Mangel kaiserlicher auctoritas im militärischen und außenpolitischen Bereich zu überspielen. Diese Politik schien gegenüber den Goten angemessen, die nach Alarichs Tod (410) in Spanien zunächst für den Usurpator, dann für Honorius kämpften, weil Galla Placidia, die Schwester des Honorius, offenbar in die Gewalt Athaulfs, des Schwagers und baldigen Nachfolgers Alarichs, geraten war.38 Im Jahr 414 heiratete der Gotenkönig in römischer Generalsuniform die Kaiserschwester in Narbonne. Aber noch glaubte sich Honorius zu stark, den Anführer der gotischen Krieger und ihrer Familien einer »Ansippung« an das Kaiserhaus für würdig zu erachten − 50 Jahre später hatte man gegenüber dem Vandalen Hunerich keine andere Wahl mehr. Der Heermeister Flavius Constantius schnitt die Goten systematisch von der Versorgung ab und zwang sie, nach Spanien abzuziehen. Hier wurde Athaulf 415 ermordet und Vallia zum neuen König gewählt. Mehrere Versuche, nach Nordafrika überzusetzen, scheiterten an den widrigen Umständen und an mangelnder maritimer Unterstützung. Von Hunger und Kämpfen ausgelaugt, kapitulierte Vallia schließlich im Jahr 416 gegenüber der mit Bucellariern und Grenztruppen verstärkten Feldarmee des Constantius, übergab Galla Placidia, die ein Jahr später mit dem römischen Heermeister vermählt wurde, und trat mit seinen Goten erneut in römische Dienste.39 In den Folgejahren befreiten sie im römischen Namen (Romani nominis causa) Spanien und Gallien von Usurpatoren und unterstellten die wichtigsten westlichen Provinzen (mit Ausnahme Britanniens) wieder der Kontrolle des Kaisers.40
Als Lohn erhielten sie Siedlungsland in der Gegend von Toulouse und Bordeaux (in der Aquitania II sowie Stadtbezirken der Novempopulana und Narbonensis I), das nicht mehr die Grenzen der Provinz berührte, aber auch (noch) keinen Zugang zum Mittelmeer hatte. Immerhin handelte es sich um die reichsten und fruchtbarsten Gebiete Galliens.41 Gleichzeitig wurden Vallia und Theoderich von Constantius als Könige innerhalb des Territoriums anerkannt, ohne ein Heermeisteramt oder andere Ämter innezuhaben (wie es Alarich noch zwischen 408 und 410 gefordert hatte).42 Dies entbehrte insofern nicht einer gewissen Logik, als das Siedlungsgebiet keine Grenze hatte, die gegen einen äußeren Feind zu verteidigen gewesen wäre.43 Damit dürfte das Selbstbewusstsein der gotischen Könige inmitten eines der fruchtbarsten Gebiete des Westreiches gewachsen sein; von einem »Tolosanischen Reich« zu sprechen, wie es in der Literatur mitunter heißt,44 erscheint allerdings unangemessen. Die Bezeichnung entspringt einer Perspektive, die das Abkommen aus dem Wissen um den späteren Untergang des Westreiches und der Etablierung germanischer Reiche interpretiert. Im Jahr 418 wurde jedoch die Vereinbarung von der römischen Seite nicht als Dauerlösung angesehen. Wahrscheinlich wurden die gotischen Herrscher nach dem altrömischen Prinzip des hospitium publicum als Staatsgäste aufgenommen und versorgt, indem man sie und ihr Gefolge den einzelnen Gemeinden der Provinz zuordnete. Dieser Versorgungsanspruch galt jedoch nur in dem beschriebenen Gebiet. Von einer Abtretung von Reichsterritorium konnte weder rechtlich noch faktisch die Rede sein.45 Es war ein aus den Umständen geborenes Provisorium, das sich aus den Lehren der Ereignisse um die Alarich-Goten ergab.46 Die Goten sicherten sich die regelmäßige Versorgung in einem wirtschaftlich florierenden Gebiet und hatten fortan keinen Anlass mehr, im Reich unkontrolliert umherzuziehen. Ein zweiter Vertrag enthielt ihre Verpflichtung als foederati gegenüber Rom, ohne dass die Römer den gotischen Königen dafür – wie früher im Fall Alarichs – ein Heermeisteramt übertragen mussten.47 Auch wenn längere Verhandlungen nötig waren, um die Militärpflicht einzufordern, konnte der Heermeister hoffen, mit Hilfe der gotischen Verbände nicht nur das von Bürgerkriegen und plündernden Invasoren heimgesuchte Gallien und Spanien dauerhaft zu sichern, sondern auch die territoriale Flanke nach Nordafrika zu kontrollieren.48
Die Hunnen und die Schlacht auf
den
Katalaunischen Feldern
Das neue Konzept erwies sich als erfolgreich: Die Goten zeigten sich als loyale Verbündete. Constantius stabilisierte mit ihrer Rückendeckung das Westreich gegen Usurpatoren und Barbaren. 417 heiratete er die Kaiserschwester Galla Placidia und wurde 421 als Lohn für seine Erfolge zum Mitkaiser neben Honorius ernannt.49 Wie labil allerdings die Gesamtlage des Westens war, bewiesen die folgenden Jahrzehnte, als mit dem Hunnenkönig Attila ein neuer Akteur das Feld betrat.
Die historische Bedeutung der Hunnen ist in den letzten Jahrzehnten mehrfach korrigiert worden: Zu Beginn des 5. Jahrhunderts bildeten sie keinen einheitlichen, unbesiegbaren Machtblock, sondern waren in unabhängig voneinander operierende Kriegergruppen aufgesplittert. Sie waren auch nicht der »Erzfeind der römischen Zivilisation«.50 Ihr Verhältnis zum Imperium schwankte zwischen aggressiven Plünderern und kampfstarken Söldnern. Ihre Angriffe galten im ersten Drittel des Jahrhunderts vor allem dem Ostreich, während sie für die Heermeister des Westens zu den begehrtesten Hilfstruppen zählten.51 Insgesamt passten sie also in ein Gesamtbild, das den Römern seit Jahrhunderten von den Grenzregionen an der Donau vertraut war. Doch anders als die Germanen haben die Hunnen wegen ihrer ausgeprägt pastoralen Lebensweise wohl nie feste Siedlungsplätze innerhalb der Reichsgrenzen angestrebt. Deshalb entstand bei ihnen auch kein gentiles Königreich, wie dies bei manchen germanischen Kriegerverbänden auf Reichsgebiet seit Alarich der Fall war. Territoriale Expansion gehörte nicht zu ihren vorrangigen Zielen, nicht einmal eines Königs wie Attila. Die Hunnen herrschten ausschließlich über Menschengruppen, vor allem über zahllose germanische Völkerschaften jenseits der Donau. Ihre Herrschaft blieb jedoch stets labil. Ohne einen Regierungsapparat beruhte sie auf der Fähigkeit der Anführer, durch Raubzüge genügend Geld und Gold zu erwerben, um ihre Stellung abzusichern und die Zahl der Kampfwilligen zu vergrößern.52 Deshalb waren sie auch nie eine existentielle Gefahr für das Imperium. In gewisser Hinsicht entlasteten sie sogar die Regierungen in Konstantinopel und Ravenna von dem Dauerdruck an der Donaugrenze, indem sie zahllose germanische gentes und Kriegergruppen an sich banden und von einem dauerhaften Eindringen ins Reichsgebiet abhielten.53
Für die römischen Zeitgenossen überwogen freilich die unmittelbar spürbaren Nachteile: Abgesehen davon, dass die hunnischen Raubzüge den ökonomischen Niedergang der Balkangrenzgebiete beschleunigten, entzogen die Hunnen dem Imperium nicht nur erhebliche materielle Ressourcen, sondern auch potentielle germanische Söldner, die seit Beginn des 5. Jahrhunderts die Wahl hatten, unter einem hunnischen Anführer oder einem römischen Heermeister zu Ruhm und Reichtum zu gelangen. Sicher überwog bei den meisten nach wie vor der Reiz, in einer Welt Karriere zu machen, deren Reichtum, Leistungsfähigkeit und Organisationshöhe einzigartig und beispiellos war. Die Anziehungskraft des Imperiums war noch im 5. Jahrhundert so groß, dass selbst zahllose Hunnen ein dauerhaftes Leben unter römischen Fahnen vorzogen.
Demgegenüber stand der Ruf einer außergewöhnlichen Kampfkraft, den sich die hunnischen Räuberscharen über Jahrzehnte erworben hatten. Er beruhte auf einer für Römer und Germanen ungewohnten Kampfesweise.54 Die Hunnen waren leicht bewaffnete Bogenkämpfer zu Pferde. Sie beschossen mit neuartigen Komposit- oder Reflexbögen ihre Gegner zunächst aus einer Entfernung von bis zu 200 Metern, um sie in einer zweiten Phase durch vorgetäuschte Fluchten aus ihrer Formation zu locken. Ließ sich der Gegner darauf ein, wendeten sie plötzlich und machten den zerstreuten Verfolger mit Bogen, Lasso und einem langen »Hiebschwert« endgültig nieder.55 Eine vergleichbare leichtbewaffnete Reiterei mit Bogen besaßen nur die Sasaniden. Im römischen Heer war sie schwach ausgebildet, und die Germanen hatten sie wohl ebenfalls nur in geringem Umfang.56 Hunnische Soldverbände wurden deshalb bevorzugt von Heermeistern wie Stilicho und später Aëtius gegen die Germanen eingesetzt. Zu Beginn des 5. Jahrhunderts gehörten sie zum Rückgrat der westlichen Feldarmeen.57
Gefährlich wurde es für die römische Seite, wenn die Hunnen selbst mit unterworfenen germanischen Volksstämmen ins Feld zogen. Auf die Kombination germanischer und hunnischer Kampfesweise konnte sich die römische Armee schwer einstellen. Bis in die 20er Jahre des 5. Jahrhunderts war dieses Manko noch kalkulierbar. Denn die hunnischen Reiterverbände wurden von wechselnden Anführern befehligt. Erst als sich Attila um 445 nach der Ermordung seines Bruders Bleda zum alleinigen König aufschwingen und seine Herrschaft im Raum der Ungarischen Tiefebene und der südrumänischen Walachei zentralisieren konnte, setzte eine folgenreiche Wende ein.58 Zunächst verbot er seinen Stammesgenossen jegliche Kriegsdienste für die Römer. Damit fehlte den Römern die Möglichkeit, Hunnen gegen Hunnen kämpfen zu lassen.59 Anders als seine Vorgänger gab er sich ferner nicht mehr damit zufrieden, Plünderungszüge in die Balkangebiete zu unternehmen und sich danach hinter die Donau zurückzuziehen. Jetzt zielte er sogar auf die Einnahme von befestigten Städten und drang dabei fast bis vor die Tore Konstantinopels vor.60 Das Geld, das zuvor über Solddienste in die Hände hunnischer Kämpfer floss, erhielt er nun in größerem Umfang über Jahrgelder, die Konstantinopel für das Stillhalten der Hunnen bezahlen musste.
Diese Gelder erlaubten es Attila, die Zahl seiner Verbündeten zu erhöhen und die Loyalität der in seinem Machtbereich lebenden germanischen und alanischen Verbände zu festigen.61 Sie stellten seitdem einen Großteil der hunnischen Armee und übernahmen die militärtechnischen Erfahrungen, die hunnische Söldner unter römischen Befehlshabern gesammelt hatten. Ein Markstein in dieser Entwicklung war wohl auch die Vergabe des Heermeisteramts an Attila in den 440er Jahren wahrscheinlich durch den jungen Westkaiser Valentinian III.62 Der Zugang zu der und die partielle Angleichung an die Militärtechnik Roms dürften dadurch noch einmal erleichtert worden sein. Spätestens nach der Besiedlung der ungarischen Tiefebene setzte innerhalb der hunnischen Armee ein struktureller Wandel ein. Die Verlagerung des Herrschaftsraums von der Steppe in die ungarische Steppenwaldzone verschlechterte die naturalen Bedingungen für die bis dahin ausschließlich auf den Reiterkampf beruhende Kriegsführung. Wahrscheinlich ergänzten die Hunnen ihre nomadische Lebensweise durch begrenzten Ackerbau. Folgerichtig wurden hunnische Fußtruppen gegenüber der Reiterei aufgewertet und zunehmend mit Brustpanzern und Helmen bewaffnet.63 Ferner verschafften römische Überläufer, Gefangene und die wachsende Zahl ehemals reichsangehöriger Untertanen dem Hunnenkönig Kenntnisse zum Bau von Belagerungsmaschinen und Torsionsgeschützen.64 Mit der Zentralisierung der Herrschaft unter Attila, der partiellen Abkehr vom nomadischen Wanderleben und der Veränderung der Kriegsziele ging also auch ein struktureller Wandel der Waffentechnik einher. Denn allein mit berittenen Bogenschützen waren weder die wachsende Zahl der Unterworfenen zu kontrollieren noch neue Gebiete großflächig zu plündern.
Im Jahr 450 beschloss Attila, in die Tat umzusetzen, was sich in den Jahren zuvor abgezeichnet hatte.65 Das Verbot hunnischer Söldnerdienste zielte auf das Westreich, während der Osten kaum noch hunnische Truppen anwarb. Zudem hatte der Westen mit gravierenden militärischen Problemen im Süden (Afrika, Spanien) zu kämpfen, und deshalb rechnete Attila mit geringerem Widerstand. Vielleicht hat er seine Pläne sogar mit anderen germanischen Königen des Westens wie etwa Geiserich koordiniert. Als schließlich der neue Ostkaiser im Jahr 451 eine starke Feldarmee in Thrakien zusammenzog und den Hunnen die Goldtribute verweigerte, wendete sich Attila endgültig nach Westen und stieß mit einem (angeblich 500 000 Mann starken) Heer hunnischer, ostgotischer, burgundischer und alanischer Verbände über den Rhein nach Gallien.66
Im Westreich hatte sich im Jahr 429 nach einer Reihe undurchsichtiger Intrigen und militärischer Konflikte (in Italien), welche die materiellen und militärischen Ressourcen des Westens noch einmal erheblich schwächten, Flavius Aëtius als magister utriusque militiae (und patricius) durchgesetzt. Er nahm in der Folgezeit eine ähnliche Stellung ein wie zuvor Stilicho.67 Vorher hatte er als magister militum per Gallias erfolgreiche Kampagnen in Gallien geführt und sich die germanischen Föderaten als Ersatz für die ausgedünnte römische Armee gesichert.68 Ähnlich wie Stilicho über Uldin hunnische Auxilien erhielt, so besaß Aëtius ferner exzellente Verbindungen zu dem Hunnen Ruga. Mit hunnischen Verbänden, germanischen und sarmatischen Föderaten und Bucellariern konnte er in Gallien die Autorität des Reiches wiederherstellen.69 Zwischen 435 und 437 zerstörte er aus ungeklärten Gründen das junge Königtum der Burgunden auf dem linken Rheinufer (ihr Untergang wurde später Kernthema des Nibelungenliedes). Die überlebenden Burgunden wurden als Föderaten zur gallischen Grenzverteidigung eingesetzt.70
Attila kannte den Wert der dicht besiedelten gallischen Gebiete als wichtigstes Reservoir kampffähiger Föderaten genau, als er in Gallien einfiel und damit auch das tolosanische Siedlungsgebiet der Westgoten bedrohte, anstatt sich (wie rund 40 Jahre zuvor Radagaisus) von Pannonien nach Italien zu wenden.71 Die unmittelbare hunnische Bedrohung erleichterte Aëtius die Einforderung der gotischen Föderatenpflicht. Allerdings zögerten die Goten, weil sie von Aëtius in den letzten Jahrzehnten mit hunnischen Hilfstruppen unablässig bekriegt worden und wenig geneigt waren, gegen die unter Attila dienenden Ostgoten zu kämpfen. Erst nach mehreren diplomatischen Missionen gelang es, König Theoderich (I.) zum Waffengang gegen Attila zu bewegen.72 Gemeinsam zwang eine gemischte Armee aus gotischen Föderaten, zahlreichen anderen germanischen und sarmatischen Kontingenten und einem kleinen Kern römischer Verbände unter dem Oberbefehl des Aëtius die Hunnen, die Belagerung von Aurelianis (Orléans) abzubrechen und sich auf die Champagne zurückzuziehen.73 Hier kam es am 20. Juni 451 auf dem weiten Gefilde vor der späteren Stadt Châlons-sur-Marne, das nach einem alten keltischen Stamm »Katalaunische Felder« hieß, zur letzten großen Schlacht, die ein Heermeister des Westens im Namen des Imperiums gegen eine feindliche Invasion führte.74
Attila war sich seit dem Rückzug von Orléans des Sieges nicht mehr sicher. Am Tag der Schlacht formierte er seine Truppen erst sehr spät im Zentrum neben den Ostgoten auf dem linken und anderen Germanen auf dem rechten Flügel. Allein diese Aufstellung spricht gegen den Einsatz hunnischer Reiterei, die sich normalerweise von den Flügeln und nicht im Zentrum am besten hätte entfalten können.75 Aëtius dagegen hatte die unzuverlässigen, aber mit der hunnischen Kampfesweise bestens vertrauten Alanen ins Zentrum gestellt, die Westgoten nahmen den rechten, der Rest und wahrscheinlich auch die wenigen römischen Truppen den linken Flügel ein. Damit war klar, dass Aëtius nach alter Tradition die Goten als kampfstärkste Einheit einschätzte und ihnen die entscheidende Rolle in der Schlacht zuwies. Bevor der eigentliche Kampf entbrannte, versuchten beide Heerführer die nahen Hügelketten zu besetzen. Unmittelbar vor Kampfbeginn war es den Westgoten und Römern offenbar gelungen, einen beträchtlichen Geländevorteil zu erzielen.76
Trotz dieser für Aëtius günstigen Ausgangslage ist bis heute nicht ganz klar, weshalb die Schlacht nach einem äußerst blutigen Kampftag zugunsten der römisch-westgotischen Koalition ausfiel. Ein wichtiger Grund ist wohl darin zu sehen, dass die hunnische Reiterei keine nennenswerte Rolle spielte, obwohl das Gelände eigentlich für den Kavallerieeinsatz wie geschaffen war.77 Wahrscheinlich bestand Attilas Invasionsarmee – wenn überhaupt – nur aus einem sehr geringen Anteil hunnischer Reiter78 – eine Folge der Gewichtsverlagerung auf die Infanterie in den Jahren zuvor. In diesem Rahmen war es Attila aber auch nicht mehr möglich, die Gegner durch Scheinfluchten zu täuschen; außerdem kontrollierten die Römer und Westgoten von den Hügeln das Schlachtgeschehen; überraschende Flankenangriffe wie bei Adrianopel waren damit ausgeschlossen, zumal Attila die hunnischen Kämpfer ins Zentrum gestellt hatte.79 Attila musste sich der gegnerischen Kampfesweise anpassen und minimierte damit die Vorteile der traditionellen hunnischen Waffengattungen.
Auf diese Weise konnte Aëtius zum letzten Mal in der Geschichte des Weströmischen Reiches zusammen mit den westgotischen Föderaten einen durchschlagenden Erfolg erzielen, obwohl schon in der ersten Kampfphase der hochbetagte Gotenkönig gefallen war. Attila spielte Aëtius in die Karten, indem er seine Hunnen gegen die schwächste Position des Gegners im Zentrum vorpreschen ließ. Damit drohte die Überflügelung durch die westgotischen Verbände. Während die Römer ihre Defensivstellung hielten, drängten die Westgoten so massiv von der Flanke aus gegen die Hunnen, dass sie sich bei Beginn der Dämmerung in ihre Wagenburg zurückziehen mussten. Attila, der bei diesem ersten Gegenangriff beinahe gefallen wäre, traf in der Nacht die Vorbereitungen für seine eigene Totenfeier.80
Die Schlacht auf den Katalaunischen Feldern demonstrierte wie keine andere die Möglichkeiten, die sich aus der Kombination römischer Defensivtaktik mit germanischem Offensivdrang gegen einen Feind ergaben, der sich seiner wichtigsten taktischen Vorteile beraubt hatte. Umso überraschender war es für die Zeitgenossen, dass Aëtius am nächsten Tag die westgotischen Verbündeten entließ und den Hunnen die Chance eröffnete, sich über den Rhein zurückzuziehen.81 Vielleicht waren die Westgoten nicht an einer Vernichtung des hunnischen Heerbannes interessiert, weil sie in der Folge mit massiven Angriffen des Aëtius auf ihr Gebiet hätten rechnen müssen.82 Der Geschichtsschreiber Iordanes meinte dagegen, dass umgekehrt Aëtius im Falle einer Vernichtung der Hunnen die »Unterdrückung des Römischen Reiches von den Goten« fürchtete.83 Berücksichtigt man die Heerespolitik weströmischer Heermeister seit Stilicho, liegt tatsächlich die Vermutung nahe, Aëtius habe die Hunnen in der Schlacht besiegen, aber nicht vernichten wollen, um die Chance zu wahren, die Truppen Attilas wie früher für seine Ziele einzusetzen. Vergleichbare Beweggründe hatten Stilicho seinerzeit zu der inkonsequenten Haltung gegenüber den besiegten Goten Alarichs bewogen, und so war es auch diesmal, zumal Aëtius auf eine lange Freundschaft mit den Hunnen und eine genauso lange Feindschaft gegenüber den Westgoten zurückblicken konnte.
Die mittelfristigen Folgen der Schlacht ähneln denn auch in auffälliger Weise den Kämpfen, die Stilicho gegen Alarich geführt hatte. Wie seinerzeit die Goten unter Alarich fiel jetzt der geschlagene Gegner ein Jahr später in Norditalien ein, ohne dass die Römer erneut auf die Hilfe der Föderaten zählen konnten.84 Angeblich soll es dem Geschick Papst Leos zu verdanken gewesen sein, dass Attila nicht über den Po hinauskam und auch nicht auf Rom oder Ravenna marschierte. Entscheidend waren Versorgungsprobleme, Krankheiten im Heer und die Nachricht, dass der Ostkaiser Markian die Abwesenheit Attilas zu Attacken an der Donau nutzte.85
Ein Jahr später starb der Hunnenkönig während der Vorbereitung eines Kriegs gegen Konstantinopel.86 Danach brachen heftige Kämpfe um die Nachfolge aus. Sie kulminierten in der Schlacht am Fluss Nedao (wahrscheinlich 454) zwischen der Koalition der Attilasöhne und denjenigen, die keine Erbfolge akzeptierten. Attilas ältester Sohn starb und das »Reich« zerfiel wieder in zahllose hunnische Einzelverbände und »barbarische« gentes, die sich längst von der hunnischen Oberherrschaft losgesagt hatten. Als im Jahr 469 der Kopf des letzten Attilasohnes im Triumph durch Konstantinopel getragen wurde, war die hunnische Bedrohung endgültig vorbei. Die Hunnen teilten damit das Schicksal aller antiken Nomadenvölker, die aus dem Norden kommend die Mittelmeerbewohner in Furcht und Schrecken versetzten. Sie zeigten sich – anders als die Germanen – nicht willens und wandlungsfähig genug, um eine dauerhafte territoriale Herrschaft zu begründen, und verschwanden am Ende viel unspektakulärer aus der Geschichte, als sie gekommen waren.87
Verlust Nordafrikas
Der Westen konnte aufatmen, doch die Luft blieb dünn. Während Aëtius Gallien gegen die Hunnen sicherte, hatten die Römer einen territorialen Verlust jenseits des Mittelmeeres hinnehmen müssen, der den Lebensnerv des Westreichs traf. Ausgangspunkt war paradoxerweise die erfolgreiche Politik des Constantius in den 430er Jahren.
Zu den zahlreichen Stammesverbänden, die zu Beginn des 5. Jahrhunderts in die westlichen Provinzen drängten, gehörten die aus Nordostdeutschland stammenden Vandalen. Die Stabilisierung der gallischen und spanischen Provinzen unter Constantius sowie die Ansiedlung der Goten in Aquitanien ließen deren Chancen sinken, in den westlichen Territorien sicheren Lebensunterhalt für sich und ihre Familien zu finden. So wandte sich der Blick ihres Königs Geiserich nach Nordafrika, das schon Alarich anvisiert hatte. Im Mai 429 schiffte Geiserich die Vandalen zusammen mit alanischen Verbündeten – insgesamt wohl 80 000 Menschen, darunter an die 15 000 Kriegern – am Hafen von Tarifa (nahe beim modernen Gibraltar) ein und setzte nach Afrika über.88
Mit dieser Operation rechneten die Römer nicht. Nordafrika lag im Windschatten militärischer Großkonflikte; die Gefahr territorialer Verluste bestand nie.89 Angriffe der Berberstämme, von den Römern Mauren genannt, erforderten bei Weitem nicht die Truppenkonzentrationen wie die Rhein- und Donaugrenze. In den ersten drei Jahrhunderten brauchten die Römer deshalb nicht mehr als eine Legion und 25 000 Mann Hilfstruppen (in Britannien waren vier Legionen stationiert).90 Zu Beginn des 5. Jahrhunderts verfügte der comes Bonifatius über 25 000 Mann Feldtruppen; die Hälfte waren Garnisonsverbände, rund 2000 gehörten der Feldarmee an. Auf die Invasion kampferprobter germanischer und alanischer Berufskrieger war diese Armee nicht eingestellt.91
Dass die Vandalen auf wenig Widerstand stießen, hatte aber noch einen weiteren Grund: Die reichen Großgrundbesitzer entzogen sich offensichtlich noch stärker als anderswo ihrer Verantwortung für die provinzialen Belange. Die ländliche Bevölkerung war angesichts der drückenden Provinzialverwaltung wenig geneigt, dem Eindringling Widerstand zu leisten. Die Donatisten, eine von der offiziellen Kirche verfolgte christliche Glaubensgemeinschaft mit vielen Anhängern in der berberischen Landbevölkerung, begrüßte den König sogar als Befreier. Ferner konnte Geiserich mit dem Zuzug maurischer Stämme rechnen. Und schließlich besaßen der zuständige comes und seine Verbände nur wenig Rückhalt in der Bevölkerung, weil sie nicht im Land verwurzelt waren und ihre Stellung zur persönlichen Bereicherung nutzten. Der Blick des Feldherrn war mehr auf die Entwicklung in der italischen Kaiserresidenz und die Chancen zum persönlichen Avancement als auf die Verteidigung des ihm anvertrauten Gebietes gerichtet.92
Die Situation war für die Germanen also weitaus günstiger als in Gallien oder Spanien, und es wundert nicht, dass die Vandalen ein erstes Treffen mit den Truppen des Bonifatius für sich entschieden. Der römische Befehlshaber zog sich daraufhin in das befestigte Hippo Regius zurück. Nach 15-monatiger Belagerung kapitulierte die Stadt. Ein Jahr später sah sich der Kaiser gezwungen, den Vandalen im Status von Föderaten Mauretania Sitifensis, Numidia und den Nordwesten der Proconsularis abzutreten. Das Kalkül Westroms, Geiserich von dem strategisch und wirtschaftlich viel bedeutenderen Gebiet um Karthago abzuhalten, ging freilich nicht auf. 439 nahm er die Metropole ein – ein Paukenschlag für die Mittelmeerwelt. Erstmals hatte sich ein germanischer König in den dauerhaften Besitz einer der größten Städte der antiken Welt im Zentrum des Reiches gebracht. Drei Jahre später musste Valentinian III. einem Vertrag zustimmen, der Geiserich als König über das Land von Ostnumidien, der Proconsularis und Byzacena sowie Tripolitaniens im Tausch gegen die im Jahr 435 zugesprochenen Gebiete anerkannte.
Für Rom waren die Folgen fatal. Mit dem Verlust Nordafrikas und der blühenden Metropole Karthago trat eine Situation ein, die für das Westreich mit traditionellen Mitteln nicht mehr zu meistern war: Ravenna hatte die reichste Provinz und den wichtigsten Getreideproduzenten des westlichen Mittelmeers an einen König abgegeben, der ein geschlossenes, bis ans Mittelmeer reichendes Siedlungsgebiet erhielt. Geiserich schickte zwar seinen Sohn Hunerich als Geisel nach Ravenna und versprach Getreidelieferungen. Faktisch war jedoch die Versorgung Italiens abhängig vom Gutdünken des Vandalen.
Nicht geringer wogen die Steuerausfälle. Die kaiserliche Kasse hatte eine Steuerminderung von jährlich rund 106 200 solidi hinzunehmen. Aus innenpolitischen Gründen musste der Kaiser zudem den Senatoren, die unter den Verlust ihrer nordafrikanischen Ländereien litten, Steuererleichterungen einräumen.93 Kalkuliert man die Kosten für einen Fußsoldaten auf 6 solidi pro Jahr, für einen Reiter auf 10,5 solidi, bedeutet dies, dass Westrom 40 000 Mann Infanterie oder 20 000 Reiter einsparen musste. Die Versorgung oder Rekrutierung einer Feldarmee war unter diesen Umständen nicht mehr möglich.94
Der Verlust Nordafrikas, »gleichsam die Seele des Staates« (quasi anima rei publicae),95 besaß darüber hinaus eine globale machtpolitische Dimension. Die Vandalen hatten sich bereits während ihres Aufenthaltes in Spanien Kenntnisse in der Seefahrt erworben. Wahrscheinlich konnte sich Geiserich dann der vor Karthago ankernden Provinzialflotte bemächtigen, ganz sicher aber die Werften und das seemännische Know-how der Hafenstadt sichern.96 Zum ersten Mal war die seit der Republik unangefochtene Seeherrschaft im westlichen Mittelmeer nicht mehr garantiert. Jetzt mussten das Tyrrhenische Meer, Sardinien, Korsika, die Balearen und Italien mit Plünderungszügen der Vandalen rechnen. In den 460er Jahren dehnten sie ihre Operationen sogar auf das östliche Mittelmeerbecken aus.97 Sicher beherrschten die Germanen mit ihren zum großen Teil aus Transportern und kleinen Schiffen bestehenden Flotten nicht die kunstvollen Manöver vergangener Zeiten; entscheidend war aber, dass sie unerwartet Expeditionstruppen an jedem beliebigen Ort des westlichen Mittelmeeres absetzen und die Getreiderouten blockieren konnten.98 Geiserich ging es nicht um Eroberungen, sondern darum, seine Krieger durch Kampfeinsätze und Plünderungen zu beschäftigen und die Römer durch die stete Furcht vor Überfällen zu »terrorisieren«. Man mag sich an die kilikische Piraterie des 1. Jahrhunderts v. Chr. erinnert haben; doch damals verfügte Rom über die Ressourcen des italischen Bundesgenossensystems, über eine schlagkräftige Kriegsflotte und über Pompeius, der die Schiffe über das ganze Mittelmeer dirigieren konnte.
Vergleichbare Kräfte gab es im Westen jetzt nicht mehr.99 Aëtius hatte sich ganz auf den Landkrieg konzentrieren müssen.100 Das Mittelmeer war immer dann von militärstrategischer Bedeutung gewesen, wenn es zu Bürgerkriegen zwischen maritim operierenden Usurpatoren oder Thronprätendenten und Kaisern (Theodosius und Maximus) oder zwischen konkurrierenden Kaisern (wie Licinius und Konstantin) kam. In solchen Fällen wurden Provinzialflottillen zusammengezogen und in aller Eile Schiffe zusammengezimmert, was sich negativ auf die Qualität auswirkte.101 Alle großen Feldzüge der Spätantike zwischen Römern und fremden Aggressoren waren dagegen Landkriege, weil die Gegner Roms keine bedeutenden Flotten besaßen. Während der reichere Osten sich immerhin eine stehende Flotte in Konstantinopel hielt, hatte man im Westen seit der Ermordung Stilichos den Kriegsschiffbau wegen der hohen Kosten fast völlig aufgegeben und die noch vorhandenen maritimen Kräfte auf die Flussgrenzen von Rhein und Donau konzentriert.102 Wenn man sich einmal zu Operationen im westlichen Mittelmeer aufraffte, dann mussten eiligst Schiffe und Mannschaften von Händlern zusammengezogen werden.
Das Gros der Schiffe bildeten Liburnen. Allerdings scheinen sie nach Angabe spätantiker Historiker viel von ihrer einstigen Schnelligkeit und Wendigkeit eingebüßt zu haben sowie auf nur eine Ruderreihe mit insgesamt 30 oder 50 Rojern reduziert worden zu sein.103 Das lässt auf eine geringere Qualität der Mannschaft und des Schiffsbaus schließen – was bei der hastigen Zusammenstellung auch nicht verwundert. Wie immer in der Antike führten die Vernachlässigung des Kriegsschiffbaus sowie die geringe Bedeutung des mediterranen Seekriegs zugunsten von Flusskämpfen dazu, dass auch die Seekriegstaktik auf offenem Meer zu den alten Formen des Enterkampfes und der Küstenüberfälle zurückkehrte.104 Dies begünstigte die Germanen. Geiserich konnte schalten und walten, wie es ihm passte.105
468 rafften sich beide Reichshälften nach mehreren Fehlschlägen noch einmal zu einer gewaltigen Kraftanstrengung auf, um Nordafrika wiederzugewinnen. Das Ostreich stellte 1100 Schiffe, der Westen 300.106 Allerdings handelte es sich bei den meisten um Handels- und Transportschiffe, die unter Segeln fuhren.107 Die wenigen regulären Kriegsschiffe waren wahrscheinlich Dromonen, ein zwei- oder einreihiges Ruderschiff mit Rammsporn, das den Abmessungen der Triere entsprach, aber von ungeübten Ruderern bewegt werden konnte und insofern in die allgemeine Entwicklung des Seekriegs passte.108 Offensichtlich planten die Generäle, ihre Truppen in Nordafrika an Land zu setzen, nicht aber die Kaperflotte Geiserichs in einer Seeschlacht zu vernichten. Eine erste Streitmacht landete in der Tripolitana, besiegte die vandalische Besatzung und zog an der Küste von den Schiffen begleitet auf Karthago zu. Eine zweite vertrieb die Vandalen aus Sardinien und Sizilien. Die Hauptflotte wurde von Basiliskos befehligt, dem Schwager des oströmischen Kaisers Leo; er hatte sich Verdienste im Kampf auf dem Balkan erworben, aber keinerlei Erfahrung in der Seekriegsführung. Er ankerte am Kap Bon etwa 60 km von Karthago entfernt, um am nächsten Tag die Armee in Utica an Land zu setzen.109
Während die römische Flotte vor Anker lag, tauchten die Schiffe der Vandalen auf. Nordostwind im Rücken begünstigte ihren Vorstoß, während er die römischen Segler am Ufer festnagelte. Die Lage der Römer wurde noch bedrohlicher, als die Vandalen (wie einst die Karthager im Jahr 149 v. Chr.) Brander »mit geschwellten Segeln« auf die gegnerische Armada zulaufen ließen.110 Die zusammengepferchten römischen Schiffe zündeten schnell. Unter den Soldaten und Matrosen brach Panik aus. Verzweifelt versuchte man sich mit Stangen der Brander zu erwehren oder von den wenigen Dromonen aus der Gefahrenzone rudern zu lassen. In dieses Chaos stießen die vandalischen Schiffe, rammten und versenkten die gegnerischen Einheiten und verwickelten die Besatzung in einen erbarmungslosen Nahkampf.
Am Ende des Tages waren zwar wohl nicht mehr als 100 römische Schiffe verlorengegangen; weit schwerer wog der Verlust von rund 10 000 Mann und – wie so häufig in der Kriegsgeschichte – der psychologische Effekt. Der römischen Flotte war genau das zugestoßen, was sie vermeiden wollte und wofür sie auch am wenigsten geeignet war: eine direkte Konfrontation mit den gegnerischen Schiffen in einer Seeschlacht. Die Überlegenheit der römischen Landarmee dürfte zwar mit der aus der Tripolitana anmarschierenden Heeressäule noch immer das für amphibische Landoperationen notwendige Verhältnis von 6 : 1 erreicht haben, aber entscheidend war aus Sicht der Generäle, dass die Verbindung nach Italien und der Schutz der Landtruppen von der Seeseite nicht mehr gewährleistet war. So brach Basiliskos das Unternehmen ab und kehrte mit den Rest der einst so stolzen Armada über Sizilien nach Konstantinopel zurück.111
Es gibt wohl keine Seeschlacht der Antike, bei der das Missverhältnis zwischen den tiefgreifenden Folgen und der mangelnden Aufmerksamkeit der modernen Literatur größer ist. Kontrafaktische Überlegungen zeigen, wie unberechtigt dieses Desinteresse ist. Beide Kaiser in Ost und West hatten alles auf eine Karte gesetzt – dies beweisen allein der Umfang der Streitkräfte und der gewaltige Aufwand an Materialien und Finanzen. Nordafrika war die ökonomische Hauptschlagader des Westreichs. Wäre der Feldzug gelungen, hätte das Reich die mediterrane Basis seiner Herrschaft wiedergewonnen und der Westen gute Chancen zu einer dauerhaften militärischen und machtpolitischen Erholung gehabt, zumal nur sechs Jahre vorher mit den Hunnen der gefährlichste Gegner in Gallien geschlagen war. Kurz zuvor hatte Constantius Gallien und Spanien gesichert, außerdem die Goten um Toulouse zu einem berechenbaren und hilfreichen Partner im Föderatenstatus erhoben. Zudem hätte das Reich nach langer Zeit bewiesen, dass es raumgreifende Großoperationen durchführen konnte, wozu die Germanen aufgrund mangelnder Logistik und Erfahrung nicht in der Lage waren.
Mit dem Scheitern der Expedition waren diese Chancen verspielt. Eine zweite Chance gab es nicht. Sogar das ökonomisch so stabile Ostreich geriet an den Rand des Staatsbankrotts – die Kosten des Feldzugs überstiegen das Staatseinkommen eines Jahres.112 Man benötigte eine Generation, um den Militäretat wieder vollständig auszugleichen.113 Das finanziell ausgeblutete Westreich war auf einen Rumpfstaat reduziert, dessen fruchtbarsten Gebiete von Föderaten besetzt waren. Ohne die Kontrolle der Seehandelswege, ohne regelmäßige Getreidezufuhr und Steuern aus Nordafrika war Italien unregierbar geworden und das Westreich kaum noch zu halten.114 Nicht geringer wog der Ansehens- und Autoritätsverlust des Kaisers, der schon lange nicht mehr an der Spitze der Armee in die Schlacht zog. Mit dem Verlust der Seeherrschaft und dem Desaster der Flotte hatte das Reich das letzte Terrain verloren, auf dem es sich den Germanen überlegen wähnte. Aus germanischer Sicht bestand kein Grund mehr, die militärische Organisation des Imperiums zu fürchten. So blieb nur der Respekt vor dem ideellen Glanz des Kaisertums. Doch damit waren weder Schlachten zu gewinnen noch Provinzen zu verteidigen.
Gegen diese Deutung spricht auch nicht die Tatsache, dass dem oströmischen Kaiser Justinian rund 80 Jahre später doch noch das gelang, was seinem Vorgänger verwehrt blieb: die vollständige Rückeroberung Nordafrikas und die Wiederinbesitznahme der wichtigsten weströmischen Provinzen einschließlich Italiens.115 Aber dieser Erfolg kam zu spät. Der westliche Kaiserthron war mit der Abdankung des letzten (illegitimen) Kaisers Romulus Augustulus zu lange verwaist und das Westreich hatte in der Zwischenzeit zu viele germanische Könige auf seinen Territorien geduldet, als dass es noch einmal zum Leben erweckt werden konnte. Finanziell abhängig von Ostrom, das bis an die Grenzen belastet war, zerfielen die grandiosen Gewinne Justinians binnen einer Generation.